Filmfest 886 Cinema
Wenn man wüsste, woher die Dämen tatsächlich kommen
Natural Born Killers ist ein Spielfilm des Regisseurs Oliver Stone aus dem Jahr 1994, dessen Drehbuch auf einer Story von Quentin Tarantino basiert. Die Hauptrollen spielen Woody Harrelson und Juliette Lewis.
Zu Beginn unserer Rezensionstätigkeit für den Wahlberliner hatten wir einen von mittlerweile über 250 Filmen der Anthologie mit einer Fremdrezension in den Bestand aufgenommen – und das gestern nach nochmaligem Anschauen geändert. Heute hätten wir schon gerade wieder Lust, andere Kritiker sprechen zu lassen, denn der Film ist wirklich ein harter Klotz und wir wissen schon, warum wir mit Werken wie diesen ein paar Jahre gewartet haben. Aber jetzt müssen wir durch, da führt kein Weg dran vorbei und auch nicht drum herum.
Sie werden es sich denken, diese Einleitung entstammt, wie der folgende Rezensionstext, dem „Original“, das im Jahr 2014 verfasst – dann aber im „ersten“ Wahlberliner nicht veröffentlicht wurde. Daher handelt es sich heute durchaus um eine Premiere, allerdings eine, der bereits 885 andere für das Filmfest des neuen oder „zweiten“ Wahlberliners vorausgingen. Lesen Sie bitte unterhalb der Handlungsangabe weiter.
Handlung (1)
Das Pärchen Mike (Woody Harrelson) und Mallory (Juliette Lewis) vergnügt sich in einem Diner. Mal wird angemacht und erschlägt den Anbaggerer, anschließend bringen beide alle anwesenden Personen um, außer einer, denn die muss bleiben, um die Geschichte zu erzählen. In der Folge simulieren die beiden eine Hochzeit auf einer Brücke und ermorden 52 Menschen, darunter einen Indianer, der ihnen Gastfreundschaft gewährt hat.
Kurz darauf werden sie gefasst und ein Jahr später soll ihr Prozess stattfinden. Das Medieninteresse ist riesig und der Fernsehmann Gale (Robert Downey Jr.) filmt live aus der Zelle von Mike. Dessen Darstellungen über Gewalt und ihre Hintergründe lösen eine Gefängnisrevolte aus und im Tumult gelingt es Mike, Mallory zu befreien, wobei es wieder zu einigen Leichen kommt.
Die Flucht nach draußen gelingt ebenfalls und auch Fernsehmann Gale muss dran glauben. Er dachte, er sei als Verkünder der Taten unabkömmlich, aber es gibt ja seine Kamera, die berichten wird.
Schlussendlich sehen wir Mike und Mallory, wie sie in einem Wohnmobil durch die USA touren, sie haben zwei Kinder und ein drittes ist unterwegs.
Rezension
Zu Hilfe kam uns, dass wir „Natural Born Killers“ in zwei Hälften angeschaut haben – einen Break nach der Festnahme von Mike und Mallory machen mussten, weil wir uns verpeilt hatten und ein Termin anstand. Erst eben haben wir uns also den Rest reingezogen und in der Zwischenzeit ist uns die komplette Distanzierung gelungen. Die blieb uns auch während des Films erhalten. Eben haben wir uns einen selbstgemachten, frischen Nudelsalat eingeschoben und geben in aller Ruhe unsere Eindrücke wieder.
Oliver Stones wilde Reiter
Zunächst denken wir an Oliver Stone, der den Film gemacht hat, dessen „JFK“ wir trotz seiner erratischen Filmsprache, teilweise auch wegen ihr, sehr mochten, an „Platoon“, den wir gerade rezensiert haben und der klar macht, wozu Oliver Stone in Sachen Gewaltdarstellung fähig ist. So überraschend war’s von Beginn an nicht, was wir in „Natural Born Killers“ zu sehen bekommen, wo doch nicht einmal Zeit für die ausgiebige Darstellung jedes einzelnen Mordes bleibt. Der Bodycount erhöht sich auf unterschiedlich intensiv rübergebrachte Weise.
Die Art des Filmens aber, die Stone sich leistet, die fasziniert immer wieder. Die Zeitsprünge hätten auch vom Drehbuchautor kommen können, der niemand anderer ist als Quentin Tarantino, aber der offenbar bewusst dissonante Stil mit seinen Traumbildern, Cartoon-Einsprengseln, Filmzitaten, Wechseln zwischen unendlich vielen Perspektiven, zwischen Schwarz und Weiß und farbig in verschiedenen Tonungen, zwischen der Suggestion eines Tatsachenberichtes und dem Format der Sitcom, den muss man erst einmal aufnehmen (können). Es ist für uns bereits klar, dass wir den Film noch einmal werden schauen müssen, um ihn nicht nur emotional zu erfassen und seiner Idee nachzuspüren, sondern ihn auch kognitiv vollständig(er) zu erfassen und dann noch einmal das, was wir heute äußern, ein wenig zu justieren. Vielleicht gibt’s aber keinen Bedarf dazu und wir können uns auf konkrete Aussagen zu einzelnen Szenen beschränken.
Wieder zu Oliver Stone. Er ist ein sehr politischer Mensch und offensichtlich auch ein traumatisierter. Wir wissen seit der Kritik zu „Platoon“, dass er in dem Film aus dem Nähkästchen geplaudert hat und wer sieht, wie es in einem US-amerikanischen Platoon im Vietnamkrieg nach Auffassung von Stone zugung, der findet es logisch, dass das Gewalttrauma des Regisseurs sich immer wieder Bahn brechen wird. In „JFK“ ist es nur die exzessive Wiederholung der Mordszenen an John F. Kennedy, ansonsten überwiegen Geheimnis und Bedrohung. Doch in „Natural Born Killers“ kommt offenbar noch einmal alles zum Ausbruch, was sich in Stone angesammelt hatte. Stone kann noch freier agieren als in „Platoon“, weil es sich bei dem blutigen Weg von Mike und Mallory um reine Fiktion handelt. Nichts muss in irgendeiner Form verifiziert werden, wie in unterschiedlichem Maß in den genannten früheren Werken.
Gewalt macht Gewalt
Dass dies so ist, dafür kann man den Film selbst als Beweis verwenden. Die banale Tatsache steckt natürlich auch als Botschaft in ihm und wird mit einer anderen Botschaft verbunden, um maximale Wirkung zu erzielen. Als Medienmann Gale Mickey in diesem heißen Life-Interview befragt, bemerkt man nicht nur, dass Gayle mehr an der eigenen Inszenierung als an der Psyche des Verbrechers interessiert ist, sondern er sagt auch an einer Stelle, er glaube nicht, dass die der frühere Metzgergeselle und seine Braut als Kinder sexuell missbraucht wurden. Wir wissen aber, dass es bei Mallory so war und dass Mickey seine eigenen Erfahrungen schon sehr früh gemacht hat, mit dem Selbstmord seines Vaters. Der Fernsehreporter entscheidet selbstständig, eine Verknüpfung erfahrener mit begangener Gewalt nicht zuzulassen, obwohl er zu Beginn des Interviews genau das Gegenteil suggeriert: Man werde doch nicht als Mörder geboren, sondern durch Umstände und Erfahrungen dazu gemacht, also soll Mickey seine Story erzählen, in der die Gründe für dessen Bluttaten liegen müssen.
Der aber tut den Teufel, sondern philosophiert über die Gewalt als Grundschuld, die nur durch die Liebe geheilt oder vergeben werden kann. Kurioserweise kommen Mickey und Mallory am Ende wirklich davon, um das zu belegen. Möglicherweise wäre das ein paar Jahre zuvor in Hollywood noch nicht möglich gewesen, es soll auch ein alternatives Ende des Films geben, das man wohl verwendet hätte, wenn die Entrüstung über das ungesühnte Multiverbrechen zu groß gewesen wäre. Wir sind aber im Jahr 1994, als „NBK“ herauskommt – und die frühe Clinton-Ära war besonders liberal, nicht mit der Reagan-Zeit ein paar Jahre zuvor vergleichbar. Allerdings, und das sehen wir im Film, gab es während dieser Jahre in den USA spektakuläre Verbrechen wie den Fall O. J. Simpson, wie die Rodney-King-Causa, die zu Rassenunruhen führte, die im Film auch gezeigt werden – und einige weitere von den Medien ausgeschlachtete Vorgänge.
Gewiss will uns Stone zeigen, wie der Medienhype die Gewalt anstachelt, er zeigt uns dies auch dadurch, dass sein Film, der schließlich auch ein Massenmedium darstellt, Gewalttaten nach sich zog, von jungen Menschen, die sich die „Natural Born Killers“ zum Vorbild genommen haben. Das belegt nebenbei auch, dass Videospiel eben doch einen Einfluss auf die Psyche Heranwachsender haben, auch wenn sie keine so echt wirkenden Figuren zeigen können wie Mickey und Mallory, die zudem äußerst inkonsistent dargestellt werden.
Dass Stone ihnen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als ohnmächtige Kinder eine Hinterlegung ihrer Exzesse mitgibt, ist nicht das Problem – die Rache an allem, was nie gerächt werden kann oder sollte, ist nicht der Knackpunkt – sondern die Tatsache, dass die beiden uns immer wieder entgleiten, wenn wir sie als Typen irgendwo festgemacht haben. Es gibt diese romantischen Momente als Unterbrechungen der Gewalt, die den beiden eine Bonnie und Clyde-Aura verleihen, es gibt die Inkonsequenz des Erlösungsgedankens: Als Mickey das Schicksal des unschuldigen Indianers besiegelt, wenn auch versehentlich und durch Halluzinationen ausgelöst, müsste damit auch nach deren eigener Philosophie das Schicksal von Mickey und Mallory besiegelt sein, denn mit diesem Mord haben sie die Argumentationslinie durchbrochen, dass es keine unschuldigen Opfer gibt und jeder, den sie getötet haben, es auf irgendeine Weise auch verdient hat. Wenn dem so wäre, hätte der Indianer nicht ausgeklammert werden dürfen – oder aufgrund dieses „Mordfehlers“ oder „Fehlmordes“ hätte das Ende nicht positiv sein dürfen. Dass Stone hier uns und sich selbst verarscht, wird Jugendlichen wohl kaum klar sein, die den Film als Beispiel dafür nehmen, wie man mit Gewalt berühmt werden kann – der Aspekt, dass Medien Gewalt ebenfalls provozieren, weil die Art, wie sie darüber berichten, eine eigene Form der Gewalt ist. Beleg ist die hyperaktive und gewissenlose Figur des Wayne Gale.
Zugangsproblem als Katalysator
Dass wir den Film nie an uns herangelassen haben und ganz gewiss nicht die Romanze der Killer als eine Art Sanktionierung von deren Handlungen hinnehmen konnten, hat es uns die Analyse erleichtert. Dass wir die Gewalt einfach nur übertrieben fanden und nicht dieses Element von Gefahr und Bedrohung im Vordergrund stand, das in „Kalifornia“, ebenso mit Juliette Lewis als Gangsterbraut, die dort aber nicht selbst gewalttätig wird, so trefflich ausgespielt wird, war hilfreich, weil wir geradezu erleichtert konstatieren können, dass uns dieser exzessive Film recht kühl zurückgelassen hat. Das war bei Stones erwähnten anderen Filmen nicht so. Vielleicht liegt es daran, dass Quentin Tarantinos Buch zu einer Bilderschlacht wurde, die er selbst so nicht inszeniert hätte. Er hätte vermutlich die visuelle Klammerung im Auge behalten und nicht das Collagenhafte eingesetzt, um die eigene Planlosigkeit zu demonstrieren, denn die kann man Stones Film wirklich konstatieren.
Für eine Satire ist der Film zu distanzlos den Killern gegenüber und zu wenig justiert bezüglich der zu kritisierenden Zustände. Keine Frage, dass die US-Kritiker ihn 1994 als Beschreibung des Menetekels gesehen haben, das an der Wand sichtbar wird und das sich mit 9/11 erstmalig in Massentötung innerhalb der USA verwirklicht hat. Armageddon, erster Teil: Die ruchlose Politik der USA, die, wenn’s sein muss gewaltsame Durchsetzung von ökonomischen Interessen, wendet sich gegen diese selbst. Viel gelernt hat man daraus nicht, eher im Gegenteil. Schade, dass Oliver Stone diesen Zusammenhang komplett weglässt. Er spannt zwar den Bogen zwischen Gewaltexzessen und deren Beförderung durch die Medien, aber die Triebfeder eines zur Aggression erziehenden Gesellschaftsmodells, das Menschen von klein auf zu Konkurrenzbestien werden lässt, bleibt außen vor. Die Gewalt wird vereinzelt, die Medien stehen als Einzelphänomen da. Dabei wäre der Fall der Eiskunstläuferin Tonya Harding, der ebenfalls kurz eingeblendet wird, sehr gut geeignet gewesen, um in diesen Hintergrund einzusteigen. Hingegen wird sie selbst gezeigt, wie sie einen Sprung nicht steht, als wenn das der Zentralpunkt des Vorganges gewesen wäre. Dass sie diesen Moment so sehr als Demütigung empfunden hat, dass sie ein Attentat auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan verüben ließ, der Moment also für das übersteigerte Konkurrenzdenken im Spitzensport steht, wäre möglich, kann aber auch eine Überinterpretation sein, angesichts des nicht immer ausgefeilt wirkenden Bildersturms, den Stone hier entfacht.
Finale
Wir sind schon keine Fans von Sean Penns angeblich epochalem „Bonnie und Clyde“ (1967) gewesen, obwohl der wesentlich geordneter erscheint als „Natural Born Killers“, denn zwischen einer Gangsterballade der 1930er nach realen Vorbildern, die in dem Film über sie lediglich interpretiert werden und deren Werdegang in etwa so stattgefunden hat wie gezeigt, ist „Natural Born Killers“ eine alptraumhafte Vollfiktion, welche die Chance zu einer wirklich großartigen Gewaltorgie (doch, Gewalt kann man groß inszenieren, wie einige Gangsterfilme beweisen) geboten hätte, die sich einer starken kinematografischen Konzeption unterworfen hätte.
Dass Oliver Stone eine eigene Handschrift besitzt, würde niemand leugnen wollen, aber sie belegt in „Natural Born Killers“ ein Zittern der Hand unter der Last dessen, was in geballter Manier nach außen dringen will und sich offenbar schwer unter künstlerischer Kontrolle halten lässt. Das zeigt sich unter anderem daran, dass dieser Film, im Gegensatz zu Tarantinos ebenfalls nicht gerade gewaltfreien Darstellungen im etwa gleichzeitig erschienen „Pulp Fiction“, keine ikonische Szene hervorgebracht hat – nichts, was heute zu den Standards der Filmgeschichte gehören würde.
Satire verlangt oft nach drastischen Mitteln oder wirkt am besten durch sie, deswegen können wir nicht konstatieren, dass wir das Fechten für die wahren Botschaften mit dem Florett lieber mögen als dass sie uns mit dem großen Holzhammer nähergebracht werden sollen – aber letztlich muss man, gleich wie derb sie ist, über Satire auch lachen können, und das gelang uns während dieses Films nun wirklich nicht. Das Gegenteil aber auch nicht.
60/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
(1), kursiv, tabellarisch. Wikipedia
| Regie | Oliver Stone |
|---|---|
| Drehbuch | David Veloz, Richard Rutowski, Oliver Stone, Quentin Tarantino (Story) |
| Produktion | Jane Hamsher, Don Murphy, Clayton Townsend |
| Musik | Brent Lewis, Trent Reznor (vereinzelte Stücke und Produktion) |
| Kamera | Robert Richardson |
| Schnitt | Brian Berdan, Hank Corwin |
| Besetzung | |
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