Mehrheit sieht Deutschland auf dem falschen Weg (Statista + Kurzkommentar) | Briefing 105 | #Gesellschaft #DiG #DemokratieinGefahr

Frontpage | Briefing 105 (hier zu 104) | Gesellschaft, Bevölkerung bewertet, ob ihr Land auf dem richtigen Weg ist, Demokratie in Gefahr

In die Welt hineinhorchen ist immer wieder spannend. Heute: Wie fühlt es sich an, in einem Land zu leben, von dem man glaubt, es sei auf dem falschen Weg? Das ist weltweit nämlich die überwiegende Ansicht. Nicht in allen Ländern, aber in sehr vielen. In Deutschland lag noch zu Beginn des Jahres 2022 unter den Industrieländern relativ gut, aber der Ukrainekrieg hat die Prozentzahl der Unzufriedenen um 11 Prozent erhöht. Das ist der aktuelle Stand, vielleicht waren es zwischenzeitlich noch mehr.

Immerhin gehen ja die Energie-Einkaufspreise wieder zurück, damit steigt auch die Hoffnung, dass diese Ermäßigung an die Verbraucher weitergegeben wird und die Inflation sich etwas abschwächen wird. Fast die Hälfte aller Menschen in Deutschland macht sich wegen der Teuerung Sorgen, das geht aus dem Bericht hervor, auf den sich Statista bei der Erstellung der folgenden Grafik bezieht:

Infografik: Mehrheit sieht Deutschland auf dem falschen Weg | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

„Worum sorgt sich die Welt“, fragt Ipsos monatlich rund 20.000 Menschen in 29 Ländern. Laut der aktuellsten Ausgabe, die den Dezember 2022 behandelt, sind InflationArmut und soziale Ungleichheit sowie Kriminalität und Gewalt derzeit die größten Probleme der Menschen.

Generell ist die Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass sich ihr Land in die falsche Richtung entwickelt. Das gilt auch für Deutschland, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Ähnlich hoch liegt der Anteil in Brasilien, dass gerade von antidemokratischen Protesten erschüttert wird. Aber nirgendwo ist das Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein, so ausgeprägt wie in Peru.

Es ist übrigens nicht so, dass die Menschen gerade besonders pessimistisch sind. Der Blick zurück zeigt, dass in den letzten zehn Jahren immer eine Mehrheit der Befragten mit der Entwicklung ihres Landes nicht einverstanden waren. Ausnahmen von dieser Regel gibt es nur wenige. In Saudi-Arabien ist das beispielsweise der Fall – 92 Prozent der dort Befragten, glauben, dass sich ihr Land in die richtige Richtung entwickelt.

So viel Unzufriedenheit allüberall, außer in Saudi-Arabien, wo die Energiekrise des Westens für vor Freude glänzende Gesichter sorgt. Allerdings war auch zuvor die Zahl derer, die glaubten, die Politik des Landes mache überwiegend Fehler, eher gering. Vielleicht hat man all die Lohnsklaven in dem Land nicht gefragt. Neben Deutschland gibt es weitere Länder, in denen sich die Situation seit Januar 2022 stark verändert hat. Brasilien beispielsweise ist von einem Land der besonders Unzufriedenen ins Mittelfeld gerückt. Der Grund ist wohl klar: Die Abwahl von Jair Bolsonaro und die Rückkehr Lula da Silvas ins Präsidentenamt nach langer Zeit. Kurios für uns als Betrachter aus Old Europe ist, wie unzufrieden die Amerikaner sind. Es läuft so vieles für die USA richtig gut, aber die Stimmung spiegelt das nicht – und das ist gefährlich, denn es kündet auch von sehr hohen Erwartungen und von Strömungen, die sich nicht an Wirtschafts- und Sozialdaten festmachen lassen.

Grundsätzlich muss aber festgehalten werden, dass ca. 20.000 Befragte aus 29 Ländern recht wenig sind. Schwerer noch wiegt, dass Menschen in verschiedenen Ländern ganz unterschiedliche Prioritäten haben. Was zum Beispiel die jahrelang erfolgsverwöhnten Menschen in Südkorea unter einer schlechten ökonomischen Lage verstehen, die sie ihrem Land gegenwärtig attestierten, ist etwas anderes als bei Menschen in Brasilien oder Peru. Einige Überraschungen haben wir auch gesehen: Der Klimawandel ist immer noch ein Minderheiten-Sorgenthema und wird in Frankreich, nicht etwa in Deutschland, am meisten ernst genommen, wenn es nach dieser Befragung geht. Hierzulande hat die Teuerung Corona fast im Maßstab 1:1 als Sorgenthema Nr. 1 abgelöst, und das innerhalb von nur einem Jahr. Die Sorge vor der Teuerung ist berechtigt, die überwiegende Nachlässigkeit gegenüber der Pandemie lässt sich im Alltag gut beobachten. Da wollen wir mal hoffen, dass es nicht zu einem Rückschlag kommt. Gerüstet wäre das Land dafür wieder einmal nicht.

Einige Highlights spiegeln auch die Einschätzungen von Profis, zum Beispiel, dass sich in Schweden die Menschen kaum Sorgen über politische Korruption machen. Hoffentlich bleibt das so. Die lobbygetränkten Zustände in Deutschland wären vermutlich für die Schwed:innen schon unzumutbar.

Es gibt bei all den Veränderungen, die wir sehen, wie dem Anstieg der Inflation zur Sorge Nr. 1 (Januar weltweit 20 Prozent, Dezember 40 Prozent) auch Konstanten: Nr. 2 bleiben Armut und Ungleichheit. Dieses Problem ist mittlerweile so verfestigt, dass man sich wundert, dass überhaupt noch Sorgen deswegen bestehen. Die Wahrheit ist leider: Zu viele machen sich zu wenig Sorgen über diesen Umstand, der immer weitere Auswüchse an absurdem Reichtum hervorbringt und jetzt auch die Armut in der Welt nach einer Phase der Erholung wieder steigen lässt. In Deutschland gibt es schon lange eine Bewegung in Richtung mehr Ungerechtigkeit, aber zu viele lassen sich noch mit neoliberalen Erklärungen dafür abspeisen.

Die Aussage, dass es schon immer eine Mehrheit in fast jedem Land gab, die ihr Land auf dem falschen Weg wähnt, ist natürlich sehr tricky. Sie sagt nichts über die Wirklichkeit aus, so wird suggeriert. Das tut sie aber sehr wohl. Das ungute Gefühl über den Lauf der Dinge ist weit verbreitet und der nationale Blick spielt dabei durchaus eine wichtige Rolle. Es gibt viele Zahlen, die untermauern, dass es mit wichtigen Indikatoren von Wohlstand und Zivilisation gerade in den Ländern, die vorne sind, nicht mehr so recht vorangeht.

Was die Welt beunruhigt – Dezember 2022 (ipsos.com)

Der Einblick in die Datengrundlage von Ipsos zeigt, was wir oben schon angedeutet haben. Die Menschen in Deutschland waren tendenziell um einiges zufriedener als etwas die traditionell kritischeren Nachbarn aus Frankreich, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Die ökonomische Situation wird hierzulande immer noch von vielen Menschen als besser eingeschätzt. Diese Einschätzung ist ein klares Ergebnis der Abspaltungsfähigkeit vieler Einwohner:innen Deutschlands. Was ist eine Wirtschaft mit hohem BIP wert, wenn die meisten Menschen, immer mehr verarmen? In Frankreich liegt das Medianvermögen einer Privatperson im Verhältnis von 2,5:1 höher als in Deutschland.

Kritische Haltung und Naivität spielen also eine erhebliche Rolle dabei, wie die Situation des eigenen Landes eingeschätzt wird. Sonst wäre es beispielswiese unmöglich, dass die Inder so überragend positiv gestimmt sind, obwohl die meisten von ihnen von der aufstrebenden Wirtschaft nicht profitieren, anteilig noch viel weniger als in China. China ist nicht auf der Liste vertreten, wir meinen: das ist okay. Was soll schon bei Umfragen in einer so rigiden Diktatur herauskommen, falls diese sie überhaupt gestattet? Dabei wäre es so spannend, zu erfahren, ob die radikale Änderung des Coronakurses der Regierung am 7. Dezember in China einen positiven oder einen negativen Stimmungsumschwung bewirkt hat. Es wirkt seltsam, dass in fast allen Ländern so skeptisch auf das  Handeln der Regierung blickt, die sie selbst überwiegend gewählt hat. Vielleicht weist es aber auf ein Demokratiedefizit hin, das viele Menschen immer stärker wahrnehmen. Die Länder, in denen gefragt wurde, sind überwiegend Demokratien westlicher Prägung.

TH

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