Frontpage | Briefing 118 (hier zu 117) | AGH-Wahl 2023, Berlinwahl 2023
In zwei Wochen haben die Berliner:innen wieder die Wahl. Die zweite Berliner Abgeordnetenhauswahl innerhalb von zwei Jahren rückt näher. Wir werden Zeuge und Beteiligte eines bisher einmaligen Vorgangs in der deutschen Nachkriegsgeschichte sein. Dass Landesregierungen, sogar Bundesregierungen, die Legislaturperiode vorzeitig beendeten, kam bereits vor. Der bekannteste Fall auf Bundesebene 1982-1983, als die FDP die sozialliberale Koalition verließ und sich der Union zuwandete. Damals wollte der neue Kanzler Helmut Kohl sich den Wechsel demokratisch bestätigen lassen. Wie wir wissen, hat es am 06.03.1983 funktioniert. Der turnusmäßige Wahltermin wäre erst im Herbst 1984 gewesen.
Aber die Berliner Koaltion Rot-Grün-Rot, die am 26. September 2021 von den Wähler:innen bestätigt wurde, wollte doch unverändert weiterregieren. Was ist passiert? Diese Wahl, die insgesamt ein sehr günstiges Ergebnis für die drei Parteien erbrachte, die seit 2017 Berlin regieren (einen Zuwachs um 2 Prozent gegenüber 2017) wurde mittlerweile vom Berliner Verfassungsgericht für ungültig erklärt. Zu viele Pannen. Fehlende, falsche Stimmzettel, riesige Schlangen vor den Wahllokalen, stundenlanges Warten aufgrund unterschätzten Andrangs, Wahllokale, die nach den ersten Hochrechnungen noch geöffnet waren. Das war dem Gericht zu viel an möglicher Manipulation des Ergebnisses aufgrund administrativer Unfähigkeit. Und das ist ein bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der BRD. Dass so etwas, wenn es passiert, gerade in Berlin passiert ist, zischeln böse Zungen, war zu erwarten.
Die Stadtregierung hat sich damit auf jeden Fall ins Knie geschossen, das zeichnet sich seit Monaten ab. Die Umfragewerte sind deutlich schlechter als das Wahlergebnis im Herbst 2021. Die CDU wird nach längerer Pause wieder stärkste Partei werden, obwohl sie dazu nun wirklich nichts beigetragen hat. Die SPD wird zum wiederholten Male hintereinander ein schlechtestes Ergebnis ihrer Berliner Nachkriegsgeschichte einfahren. Die Grünen werden kaum zulegen gegenüber 2021. Die Linke wird verlieren. Die SPD und die Linke sind es gegenwärtig, die das Mitte-Links-Projekt in Berlin gefährden. Aber werden die Grünen auch stärkste Partei in der Regierungskoalition werden und, sollte diese doch weitermachen können, wird Bettina Jarasch, jetzt Verkehrssenatorin, Regierende Bürgermeisterin werden? Es sah eine Zeitlang so aus, aber sicher ist es jetzt nicht mehr. Hier die aktuellen Zahlen, mit einem treffenden Kommentar vom Berliner Tagesspiegel:
CDU 23% / SPD 19% / Grüne 19% / Linke 12% / AfD 11% / FDP 7% / Sonstige 9%.
Im Vergleich zu vor zwei Wochen haben sich die drei führenden Parteien jeweils um ein Prozent verbessert, der Abstand zwischen ihnen ist aber gleichgeblieben. Brisanter ist da die Frage, wer ins Rote Rathaus einziehen sollte – Giffey, Wegner oder Jarasch? Diese Stichwahl hat ein vierter Kandidat gewonnen: „Keiner der genannten“ (33%). Mit 25% folgt der CDU-Anwärter, die amtierende Regierende kommt auf 21% und Jarasch auf 19%.
Der genaue Stand bei Civey sieht so aus: Civey-Umfrage: Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Abgeordnetenhauswahl wäre? – Civey
Insgesamt würde es auch nach diesem ganz aktuellen und mit Nachkommastellen versehenen Umfrageergebnis noch für die Fortsetzung von Rot-Grün-Rot reichen. Aber: Die Grünen verlieren, die SPD gewinnt ein paar Promille hinzu. Schon 2021 sah es zwischenzeitlich aus, als ob den Grünen das Amt der Regierenden Bürgermeisterin zufallen würde, aber dann kam u. a. eine Trendwende im Bund zugunsten der SPD und zulasten der Grünen. So wurde Olaf Scholz Bundeskanzler und seine Parteigenossin Franziska Giffey wurde Regierende Bürgermeisterin von Berlin.
Dieses Mal gibt es keine gleichzeitig stattfindende Bundestagswahl, aber das bedeutet nicht, dass die bundespolitische Stimmung nicht auch auf die Wahl in Berlin Einfluss hätte. Das ist ja auch bei den den vielen Landtagswahlen in anderen Bundesländern so, die selten zeitgleich mit Bundestagswahlen stattfinden. Am Ende wird es bei einem so knappen Ergebnis, wie es sich gerade abzeichnet, schwierig sein, die Faktoren auseinanderzuhalten, die dafür verantwortlich. Sofern nicht noch etwas ganz Besonderes passiert, bis zum 12.02. Das wird nach unserer Ansicht aber eher auf internationaler Ebene als in Berlin der Fall sein.
Die jüngste Verbesserung der größeren Parteien in Berlin geht zulasten der „anderen“, die kürzlich noch auf 11 Prozent kamen. Natürlich, die Wahl wird knapp ausgehen. Auch wir überlegen, mit einem Zähneknirschen an jedem verdammten Tag, doch eine der Regierungsparteien zu wählen, damit es nicht zu einem Rechtsruck in Berlin kommt. Eine Regierung unter Führung der CDU, mit der SPD und der FDP als Koalitionspartner („Deutschland-Koalition“) ist die einzige realistische Möglichkeit neben der Fortführung der aktuellen Koalition. Vielleicht auch Jamaika. Aber ob die Grünen in Berlin, die ein linkeres Gepräge haben als im Bund, sich auf diese Weise in der Innenstadt unbeliebt machen wollen? Und wer müsste bei sehr unterschiedlichen Positionen wem wie weit entgegenkommen? Was hat andererseits die Linke noch zu melden, gerupft und von inneren Krisen geschüttelt, wie sie ist? Der Berliner Landesverband ist in besserem Zustand als die Bundespartei, aber die Bundesebene ist unabdingbar, um eine starke Oppositionsarbeit zugunsten der Menschen machen zu können. Und dann noch die Flügel. Keine Kooperationsbereitschaft einerseits, kein Klassenkampf andererseits.
Die SPD werden wir sicher nicht wählen. Im Bund wäre das vielleicht anders, weil wir keinen besseren Weg sehen, uns politisch zu äußern, als den Kanzler zu stützen, der eine Politik der Verunft macht, soweit es irgend möglich ist. Auch auf dieser Ebene wäre es leider angezeigt, keine Kleinpartei zu wählen und die eigene Stimme zu verschenken. Wo wir das getan haben: Bei der letzten Europawahl. Obwohl es auch dort mittlerweile eine Sperrklausel von 2 bis 5 Prozent unter bestimmten Voraussetzungen gibt, anders als noch 2014.
Was steht im Europawahlgesetz? Erklärung der Sperrklausel | WEB.DE
In Berlin: Für uns ist Franziska Giffey als Regierende immer noch ein No-Go. Eine Beleidigung gegenüber den Berliner:innen schon wegen ihrer gefakten Doktorarbeit. Eine Frechheit im aktuellen Politikbetrieb wegen ihrer glatten Negierung, ihres offen ausgedrückten Unwillens, dem Votum der Bevölkerung in Sachen Deutsche Wohnen & Co. enteignen und damit der Unfähigkeit, die Wohnungskrise in Berlin angemessen zu diskutieren und oder gar zu bewältigen. Wegen der Unfähigkeit, die Verwaltung zu reorganisieren und den Berliner Bildungsnotstand ernsthaft anzugehen. Wegen ihres konservativen Gepräges auf allen Politikfeldern, dessen ungehemmtes Ausleben die Bewohner der Innenstadt und deren Bedürfnisse gezielt ignoriert, damit die SPD wenigstens außerhalb des S-Bahn-Rings noch ein paar Wahlkieze gewinnen kann. Dass sie damit nun möglicherweise Rot-Grün-Rot verspielt, zeigen die Umfragewerte.
Nun wählen Sie bitte nicht die CDU. Sie hat nämlich diese Missstände während ihrer Regierungszeit maßgeblich mitverursacht und außerdem durch den Bankenskandal, in den sie verwickelt war, dafür gesorgt, dass Berlin quasi pleite war und es kaum noch finanziellen Spielraum gab. Erst die 2017er Koalition wagte wieder mehr Investitionen und es kam dadurch immerhin zu mehr Bautätigkeit in Berlin. Angeschoben hatte dies der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) schon während der SPD-CDU-Regierung vor dem Wechsel zu Rot-Rot-Grün.
Die aktuelle Koalition macht viele Fehler, zum Beispiel die Weiterführung der Privatisierungsorgie, obwohl jeder längst weiß, dass das am Ende für die Gemeinschaft wesentlich teurer wird als eine anständig gemangte öffentliche Daseinsvorsorge. Die Verkehrswende im Schneckentempo ist ein weiteres Großproblem. Es muss aber weitergehen, mit Systemparteien, wie es bisher war, sie können nicht anders.
Dies beinhaltet, dass alles und jeder Mensch immer weiter finanzialisiert werden muss, um dem darbenden Kapital immer neue Quellen zu erschließen. Dass dann, wenn das letzte Tafelsilber verhökert ist, die Risse im System zum Crash führen werden, ist abzusehen. Auf Bundesebene ist die Aktienrente ein aktuelles Beispiel dafür, wie man sich immer mehr vom Finanzkapitalismus abhängig macht und am Ende keine Entscheidungen mehr treffen kann, die zum Beispiel für ein Platzen der Börsenblase sorgen könnten. In Berlin sind wir längst so weit, dass die Politik eine Sicherung der überhöhten Immobilien- und Mietpreise zugunsten privater „Investoren“ für wichtiger hält als die Sicherung von bezahlbarem Wohnraum für die Bevölkerungsmehrheit.
Das alles sind Gründe, warum wir keine der Regierungsparteien mehr wählen wollten. Die einen wollen nicht für die Menschen arbeiten, die anderen dürfen nicht, zum Beispiel die Linke, die nur deshalb in der Koalition gelitten ist, nach ihrem letztes Mal schon schwächeren Abschneiden, weil sie sehr zahm wurde. Die Zeiten, in denen Bausenatorin Katrin Lompscher und grüne Baustadträte in Kreuzberg und Neukölln sich ernsthaft mit der Immobilienlobby anlegten, sind vorbei. Dabei halfen sogar Gerichte im Sinne des Kapitals mit, die gleich zweimal ohne Not gegen die Bevölkerung entschieden: bezüglich des Berliner Mietendeckels und bezüglich der Möglichkeit, Häuser durch das bezirkliche Vorkaufsrecht zu (re-) kommunalisieren.
Dies wiederum ist der Grund, warum wir von solchen Einzelfällen nichts mehr zu berichten haben. Wir hatten in den Jahren 2018, 2019 das Thema #Mietenwahnsinn priorisiert. Geändert hat sich am #Mietenwahnsinn nichts, aber detaillierte Darstellungen, die auch Unterstützungscharakter haben, sind im Moment keine Möglichkeit mehr, an der Berliner Wohnungspolitik teilzunehmen.
Von Zufriedenheit mit den Zuständen in Berlin, wir haben nur einige stichwortartig angerissen, sind wir weit entfernt. Es wird wieder einmal auf eine Wahl des kleineren Übels hinauslaufen. Wir wissen, dass wir uns damit genau so verhalten, wie die Politiker:innen es wollen, anstatt unserem Unmut durch Nichtwahl durch Wahl einer linken Kleinpartei Ausdruck zu geben. Sicher ist es auch noch nicht. Wir sind auch mehr als nur ärgerlich darüber, dass wir wohl im letzten Moment entscheiden werden, vielleicht erst in der Wahlkabine, wie wir wählen. Wir sind ärgerlich, weil die Nötigung, der wir durch die Politik ausgesetzt sind und die darauf geht, noch Schlimmeres zu verhindern, Erfolg hat. Gut für die Demokratie ist das nicht. Es ist gefährlich. Deshalb werden wir auch auf die Zahl der Nichtwähler:innen schauen.
Im zitierten Checkpoint-Ausschnitt steht es: Der eigentliche Sieger der Umfrage „Direktwahl des Bürgermeisters / der Bürgermeisterin“ ist eine Person, die gar nicht zur Wahl steht. Jemand, den man sich wünscht, den aber keine Partei anzubieten hat. Und das, obwohl wir nicht weniger als sechs politische Kräfte im Berliner Abgeordnetenhaus sitzen haben. Die Zeiten, in denen Berliner Regierende Bürgermeister herausragende Persönlichkeiten wie Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker waren, sind vorbei. Interessanterweise seit der Wende und der Wiedervereinigung der Stadt und des Landes. Das mag eine zeitliche Koinzidenz sein, muss nicht.
TH