Wo die Arbeitenden organisiert sind, sind die sozialen Verhältnisse am besten (Statista, Kommentar) | #Briefing 138 | #Gewerkschaften #Unions #LabourUnions #DGB #Skandinavien

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Die Arbeitswelt von heute ist geprägt von Vereinzelung und einer zunehmenden Ohnmacht der sogenannten Arbeitnehmer, die eigentlich Arbeitskraft geben und der sogenannten Arbeitgeber, die in Wirklichkeit von der Arbeit der anderen profitieren.

In Deutschland sind nur noch 16 Prozent aller Arbeitnehmer:innen gewerkschaftlich organisiert. Am höchsten ist der Organisationsgrad bezeichnenderweise dort, wo ohnehin die meisten Privilegien angehäuft wurden, zum Beispiel bei den Beamt:innen. Ganz anders in Skandinavien: Bis zu sagenhaften 90 Prozent der Arbeiter:innen sind nicht allein, sondern haben sich zusammgenschlossen und sind  zusammen stärker.

Infografik: Nordeuropa am besten gewerkschaftlich organisiert | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

91 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Island war 2019 gewerkschaftlich organisiert. Das geht aus Daten der International Labour Organization (ILO) hervor. Von den 200.000 Arbeitnehmer:innen im Land waren offiziellen Angaben zufolge allein 120.000 Menschen Mitglied in der Icelandic Confederation of Labour, des größten gewerkschaftlichen Dachverbands mit 47 Mitgliedsorganisationen. Wie unsere Grafik zeigt, ist auch der Rest von Nordeuropa zu großen Teilen ein Hotspot für Gewerkschaften.

In Dänemark und Schweden sind jeweils rund zwei Drittel aller Arbeitnehmer:innen in einer Gewerkschaft, in Finnland liegt dieser Anteil bei etwa 58 Prozent. Hierzulande waren 2019 16,3 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Mitglieder in Gewerkschaften. Dass hohe Streikbereitschaft nicht mit Gewerkschaftsmitgliedschaft zusammenhängt, zeigt sich in Frankreich. 2018 waren weniger als zehn Prozent der französischen Arbeitnehmer:innen in einer Gewerkschaft, gleichzeitig gehörten die 2019 und 2020 stattfindenden Streiks rund um die geplante Rentenreform zu den prominentesten Arbeitsniederlegungen in Europa der vergangenen Jahre. In den USA ist Arbeitnehmer:innenorganisation ebenfalls selten zu finden. Dies könnte sich durch Präzedenzfälle wie die Gründung der ersten Gewerkschaft bei Amazon im April 2022 allerdings in Zukunft ändern.

Gewerkschaftliche Organisation hat hierzulande eine jahrhundertealte Tradition. Bereits nach der Märzrevolution 1848 gründeten sich erste Arbeiter:innenverbände, 1865 entstand mit dem „Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein“ die erste zentral organisierte Gewerkschaft in Deutschland. Die älteste nationale Arbeitnehmer:innenorganisation ist die 1919 gegründete Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GdL), die aus dem Verein deutscher Lokomotivführer von 1867 hervorging.

Zuletzt hat die Mitgliedschaft in Gewerkschaften hierzulande deutlich abgenommen. Waren 1994 beispielsweise noch rund zehn Millionen Menschen Mitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), hatte der größte gewerkschaftliche Dachverband 2022 noch 5,6 Millionen Mitglieder. Weitere wichtige Gewerkschaftsverbände in Deutschland sind die DBB Beamtenbund und Tarifunion sowie der Christliche Gewerkschaftsbund, deren Mitgliedszahlen allerdings nicht an die des DBG heranreichen. Die prominentesten im DGB organisierten Gewerkschaften sind ver.di und die IG Metall mit jeweils rund zwei Millionen Mitgliedern.

Es ist schön, einen kurzen Blick zurück auf die Glanzzeiten der deutschen Arbeiter:innenbewegung zu werfen, aber die Realität heute ist trist. Die Gewerkschaften sind nicht einmal mehr in der Lage, den Ausgleich der hausgemachten, politisch bedingten und gewollten Inflation für ihre Mitglieder zu erkämpfen. In gewissen anderen Ländern wie den USA war es immer schon schick, allein ins Elend zu gehen, wenn etwas schiefgeht, nach dem Motto, jeder ist seines Glücks  Schmied. Dabei ist allein die nicht vorhandene Logik dieses Spruchs ein Warnzeichen dafür, wie Neoliberalismus funktioniert,  nämlich so, dass nur die besonders Rücksichtslosen erfolgreich sein können. Glück ist nämlich Schicksal und Schicksal ist nun einmal etwas, das wir nicht zentral beeinflussen können.  Wenn jemand sich alleine nach oben mogelt oder unten versauert und glaubt, er sei begnadet bzw. selbst daran alleine schuld, dann ist das die Negierung der Schicksalsmacht und Glück und Pech werden für Ausfluss persönlicher Eigenschaften gehalten.

Wenn solche Ideen dominieren, ist das stets ein Zeichen für einen fundamentalen Mangel an Empathie und Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Die skandinavischen Länder hingegen  sind bei wirklich allen zivilisatorischen Tatbeständen in der Weltspitze zu finden und wir wagen eine gar nicht so gewagte Prognose: Sie werden auch die aktuellen und die kommenden Krisen am besten bestehen. Diese Gesellschaften sind stabil, weil die Menschen diese Stabilität wertschätzen und das Kapital nicht unbegrenzt freidrehen darf. Die Sandics sind kapitalistisch, das schon, aber es gibt noch etwas wie einen gültigen Vertrag über das Maß der Dinge. Sorgen muss man sich vor allem darüber machen, dass sich auch dort die Verhältnisse verschlechtern könnten, wenn der Glaube an den besseren Weg verloren geht. Vor allem in Schweden gibt es leider Anzeichen dafür, weil die Wahrnehmung der ansteigenden Kriminalität, die für die Menschen dort nicht die Normalität darstellt, wie leider in vielen anderen Ländern, sondern als großer zivilisatorischen Rückschritt empfunden werden, einen Rechtsruck ausgelöst haben. Wir hoffen, dass dies ein temporärer Effekt bleibt, der nicht die hohen sozialen Standards in Mitleidenschaft zieht.

Diese Spitzenländern haben genauso eine moderne Arbeitswelt wie Deutschland. Daran merkt man, dass das Argument hiesiger, hilfloser Gewerkschafter nicht zieht, dass die einst homogen wirkende Industriearbeiterschaft sich in alle möglichen vereinzelten Arbeitsverhältnisse aufgefächert hat. Auch diese modernen Dienstleistungsarbeiter:innen kann man einsammeln, die wie skandinavischen Gewerkschaften beweisen. Der Zusammenschluss verschiedener Dienstleistungsgewerkschaften in ver.di war sicher ein Schritt in die richtige Richtung, eine schlagkräftige Größenordnung in Zeiten der Schrumpfung betreffend, aber er bedingt auch, dass keine klaren Konturen mehr erkennbar sind. Ober könnten Sie auf Anhieb alle Branchen nennen, die in dieser Gewerkschaft vereint sind?

In Schweden hingegen gibt es sogar eine echte Mieter:innengewerkschaft, die ein ein Mandat zum Abschluss von Miettarifen als Gegenmacht der Vermieter:innen hat. Kein Wunder, dass neoliberale Immobilienhai-Ausbeuter schwedischer Herkunft sich mittlerweile lieber in Ländern wie Deutschland tummeln, wo der Gentrifizierung und der Profithuberei keine Grenzen gesetzt sind. Man muss heute Gewerkschaft nicht nach Branchen denken, sondern kann dies nach der Stellung bestimmter Menschengruppen im Wirtschaftsleben tun. Die Grundlage muss, wie bei den Mietenden, nicht einmal die Stellung in der Arbeitswelt sein. Das kann durchaus dazu führen, dass jemand, der als Normalbürger:in seine Rechte gewahrt wissen will, mehrfach organisiert ist. Das ist vielleicht nicht umsonst, es erfordert vor allem Gemeinsinn und Engagement, aber es wirkt der zunehmenden Ohnmacht entgegen, der Beschäftigte in den meisten kapitalistischen Ländern ausgesetzt sind.

In Deutschland hat der DGB offenbar nicht die Spur einer Idee davon, wie man wieder hinter den Ball kommen und mit neuen Konzepten Mitglieder gewinnen könnte. Da ist etwas mächtig schiefgelaufen, über Jahrzehnte hinweg und letztlich ist dies eine gesamtgesellschaftliche Problemstellung. Wer zu wenig elaboriert und politisch geschult  ist, seine eigenen Interessen wenigstens zu erkennen, der kann auch nicht nach dieser Erkenntnis handeln. Naivität ist ein wichtiger Faktor, wenn es darum geht, Politiker:innen zu wählen, denen die Kapitalhörigkeit schon aus dem Gesicht springt. So gesehen, kann auch die beste gewerkschaftliche Werbung nicht viel bewirken und man darf nicht alles auf die Gewerkschaften schieben. Denn auch viele andere Organisationen, die auf das Engagement der Zivilgesellschaft angewiesen sind, haben massive Probleme und kämpfen um ihren Bestand. Es ist, wie es so schön heißt, multifaktoriell. Wie wär’s, wenn wir mal einen Kurs in Zivilisation machen würden, zum Beispiel ein Sommer-Camp in Island, wo 90 Prozent der Arbeitenden organisiert sind? Wo eine Armut, wie sie bei uns längst institutionalisiert ist, quasi nicht existiert? Und wie macht man das in einem Land, das nicht den Vorteil einer traditionell mächtigen, großen Industrie aufweist, die so viel Kapital einsetzt und  erwirtschaftet wie in Deutschland? Von Skandinavien lernen, heißt, lernen, wie man eine Gesellschaft besser macht. Das ist alles nicht neu, aber solange sich die Menschen bei uns einreden lassen, es muss alles immer mehr darniedergehen, weil die Zeiten eben so sind, solange sie Politiker:innen und auch Journalist:innen glauben, die das jeden Tag verbreiten dürfen, weil sie wissen, wie – sic! – naiv wir hier trotz aller Erfahrungen sind, wird das Potenzial, das wir hier immer noch haben, vergeudet sein an wenige Profiteure und ihre medialen und politischen Helferlein.

Was dabei herauskommt, ist u. a. ein lächerlich geringer Organisationsgrad der Arbeitenden und damit die Unmöglichkeit, machtvoll und solidarisch für die Rechte der Arbeitenden zu kämpfen.

TH

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