Frontpage | Briefing 139 | Geopolitik, Ukrainekrieg, Frieden, Verhandlungen, Demonstrationen
Auch unser heutiges Briefing gilt dem Ukrainekrieg – denn er begann vor genau einem Jahr. Er ist also 364 Tage und einige Stunden alt. 364 Tage voller Leid, Tod und Grausamkeit.* Was also ist natürlicher als der Ruf nach Friedensverhandlungen, Friedensinitiativen und die Durchführung von Friedensdemonstrationen?
Der Ruf nach Frieden liegt nah und ist verständlich. Aber ist aber ist er ethisch wirklich so viel wertvoller als der Aufruf zum Durchhalten?
Es kommt darauf an. Es kommt darauf an, wie ein Frieden aussehen soll. Davon hängt vieles ab. Und ob die beteiligten Parteien Frieden wollen, das ist der zweite Aspekt. Im Moment sieht es nicht so aus, also ob jemand sich bewegen will. Zumindest nicht in der Form, dass ein Frieden auf Verhandlungen mit einem vernünftigen Interessenausgleich auf beiden Seiten erzielt werden könnte. Heute möchte China einen Friedensplan vorstellen. Was wir davon halten, wird ganz gut durch diesen Artikel gespiegelt:
Xi Jinpings Friedensplan: Kann China im Ukraine-Krieg vermitteln? – Business Insider
Es ist nämlich in der Tat fraglich, ob China in diesem Krieg vermitteln kann. Wir haben häufiger geschrieben, China wäre dazu in der Lage, Frieden zu schaffen – durch Druck auf die russische Seite. Danach sieht es aber nicht aus, vielmehr nutzt das Reich der Mitte die gegenwärtige geostrategische Lage aus. Ähnlich, wie die USA es tun.
Deswegen wird der 12-Punkte-Plan, den China mittlerweile lanciert hat, eher als Wunschliste bezeichnet. Immerhin beinhaltet er die Feststellung, dass die territoriale Integrität von Staaten, also auch der Ukraine, gewahrt werden müsse. Einen famosen Haken hat diese Feststellung natürlich: Da China Taiwan nicht als selbstständigen Staat anerkennt, sondern als abtrünnige Provinz ansieht, gilt dieser Puntk nicht für Taiwan.
Nach 12-Punkte-Friedensplan: China versetzt Russland nächsten Dämpfer (msn.com)
Wer sind die Gewinner und die Verlierer dieses Krieges? Der Frage ist man hier nachgegangen, ebenfalls mit einem Ergebnis, das zwar nicht alle Aspekte beinhaltet, aber die großen Linien ganz gut nachzieht. Anstatt „Hardliner in Russland und den USA“ hätte man wirtschaftlich aber gleich die Vereinigten Staaten von Amerika nennen können:
„Ich möchte mich nicht an dem Krieg beteiligen. Ich will ihn beenden“ | Telepolis
Die Frage bleibt im Raum, wie ehrlich Beendigungsrhetorik unter den gegebenen Umständen ist. Wie vermutlich die meisten Menschen, sind wir froh, dass in Brasilien der rechte Jair Bolsonaro von Lula da Silva als Präsident abgelöst wurde. Humanitäre Hilfe hat das Land schon geleistet, aber wir können verstehen, dass nicht weit entfernte Staaten sich in einen europäischen Krieg hineinziehen lassen wollen, der uns selbst immer weiter hineinzieht, weil die Dynamik der Eskalation bisher nicht durchbrochen werden konnte. Es ist eine unangenehme, aber nachvollziehbare Wahrheit, dass viele Länder schlicht keine Aktien in diesem Krieg haben und ihn daher so gut wie möglich umgehen wollen. Geopolitisch können sie dadurch nur an Gewicht zulegen, während die NATO darauf angewiesen ist, Russland zurückzudrängen, um nicht dumm dazustehen, und, das gehört leider auch zur Wahrheit, weiteren Diktaturen eine Blaupause dafür zu liefern, wie man es machen muss, um den Westen zu düpieren.
Morgen soll in Deutschland die größte Friedensdemonstration seit langer Zeit stattfinden. Wir kennen den verbliebenen Kern der Friedensbewegung von den Ostermärschen, aber hatten dabei immer das Gefühl, dass die Doppelstandards, die so häufig an die deutsche Außenpolitik adressiert werden, auch für diese Rest-Friedensbewegung gelten. Nur eben in der anderen Richtung, nämlich, dass alles, was aus Russland kommt, gut sein muss. Es gibt aber keine Einseitigkeit im Bemühen um Frieden und es gibt auch nicht eine Seite, die nur die Wahrheit verkauft und die andere, die nur böse Propaganda in die Welt schickt. Wir sind immer wieder erstaunt darüber, wie einseitig viele Menschen in Sachen Krieg und Frieden denken.
Inzwischen haben in Deutschland etwa 600.000 Menschen das „Manifest für den Frieden“ unterzeichnet, das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiiert wurde. Am heutigen Morgen hat Wagenknecht noch einmal dazu aufgerufen, am 25.02. zur Demo zu kommen, und zwar in dieser Form.
Wir sagen NEIN zu Kampfjets & Raketen – am 25.2. in Berlin (sendibm3.com)
Wir haben das Manifest nicht unterzeichnet und sind im Moment auch nicht so drauf, dass wir nur deshalb zur Demo gehen, weil wir sehen wollen, wer sich da alles zeigt. Im Aufruf der vorausgehenden Woche hat Wagenknecht darauf gedrungen, dass Nationalsymbole und rechte Manifestationen auf der Demo unterbleiben sollen. Davon kann man halten, was man will, aber man sollte auf beiden Seiten die Kirche im Dorf lassen. Diese schrille Forderung nach Frieden um jeden Preis, also auch um den Preis immer weiterer Fässer, die durch eine Niederlage der Ukraine geöffnet werden, ist ebenso abzulehnen wie die Diffamierung eines jeden Pazifisten.
Es gibt viele Menschen, die es wirklich gut meinen und denen das Blutvergießen wirklich ein Gräuel ist. Ob Wagenknecht & Co. dazugehören, wagen wir allerdings zu bezweifeln. Wir haben in die Linke immer noch genug Einblick, um die Einlassungen jener mitzubekommen, die Putin lediglich siegen sehen wollen. Als billigen Sieg, wie wir es anfangs zuweilen bezeichnet haben, kann man dies nun nicht mehr ansehen, die Schäden sind auch für Russland mittlerweile erheblich. Aber offenbar noch nicht groß genug, um in ernsthafte Verhandlungen einzusteigen und daran scheitert im Moment auch die Lösung des Konflikts. Es ist schlicht eine Umkehrung von Ursache und Wirkung, die Forderungen nach Verhandlungen nicht in erster Linie an diejenigen zu richten, die den Krieg begonnen haben.
Gegen diese Demo, die morgen stattfinden soll, hat sich u. a. Campact gewendet. Der Gegenaufruf kommt nicht von jemandem, der dort eine Kampagne aufgesetzt hat, sondern von den Organistor:innen der Plattform. Vor ein paar Jahren gingen wir noch alle zusammen für linke Angelegenheiten auf die Straße, mittlerweile tut sich Identitätspolitik-Feindin Sahra Wagenkneht mit Altfeministin Alice Schwarzer zusammen, lässt sich von dieser auf eine ziemlich alberne Weise knuffen, hingegen: Der Vorstand von Die Linke mag sich nicht zu einem klaren Aufruf zum Besuch der Schwarzer-Wagenknecht-Demo durchringen. Campact wiederum ruft zu einer Gegendemo auf. Sowohl Wagenknecht als auch Christoph Bautz haben wir schon live zugehört, Letzterem im Herbst 2022 auf der leider zu wenig wirksamen Demo „Solidarischer Herbst“, die natürlich kaum von Anhängern des Wagenknecht-Lagers besucht wurde.
Solche Probleme hat das Kapital nicht, da geht es nur um den Profit und alle ziehen an einem Strang, voraus wiederum Verschwörungstheoritiker ableiten, dass die „Eliten“ sich alle miteinander absprechen, um am Great Reset zu arbeiten. Das müssen sie aber gar nicht, die Linken sorgen schon selbst dafür, dass sie kaum Wirkung erzielen. Es ist die Crux, dass links in diesen Grabenkämpfen verliert. Wir haben uns entschlossen, den Campact-Aufruf hier abzubilden. Dies, obwohl auch er nicht frei von Problemen ist. Es ist z. B. ein Unterschied, ob „jeder“ willkommen ist, oder jeder, der für den Frieden demonstrieren möchte. Stellenweise wirkt der Aufruf, als seien die Rechten die Initiatoren der Demo, das stimmt aber nicht. Ob Wagenknecht & Co. die Bitte an die Teilnehmer:innen ernst meinen, auf alles zu verzichten, was nach rechts oder Putinismus aussieht, darf man gerne hinterfragen, aber unkommentier hingenommen wird er nicht.
Die von Campact promotete Gegendemo von „Vitsche“ findet bereits heute statt. Auch zu ihr werden wir nicht mit aufrufen, sondern lediglich empfehlen, den Aufruf zu lesen und nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, wenn es darum geht, wo man sich sehen lässt. Wohin wir eher tendieren, ohne uns zu weit aus dem Fenster zu lehnen und eine Meinung komplett abzulehnen, sieht man daran, dass wir das Friedensmanifest von Wagenknecht und Schwarzer nie im Wahlberliner abgebildet haben.
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Traurig, aber kaum zu widerlegen: Es gibt keine Unschuld, gleich, welche Position man im Ukrainekrieg einnimmt. Es gehört nicht viel Ehrlichkeit oder Mut dazu, eine Extremposition in diesem Krieg einzunehmen und zu deutlich schimmern die Interessen der Großsprecher in dieser Angelegenheit durch. In unseren Artikeln beleuchten wir mal mehr die eine, mal mehr die andere Seite. Wir lassen nicht die vielen geostrategischen Hintergründe aus, die unterschiedlich „gespielt“ werden, sowohl von westlicher wie proroussischer Seite, aber wir würden niemals das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen negieren, die einfach nur ihr Land vor dem Untergang bewahren wollen. Wenn man dieses Selbstverteidigungsrecht anerkennt und weiß, dass es ohne Hilfe aus dem Westen nur eine Worthülse ist, dann muss man auch die Hilfe aus dem Westen anerkennen. Was man nicht tun muss: Sich in die vorderste Reihe stellen und jedweder Eskalation das Wort reden.
Schon jetzt muss darauf geachtet werden, dass nicht im Falle eines russischen Sieges das Narrativ Raum greift, man, speziell Deutschland, hätte zu wenig getan und zu spät gehandelt. Wir finden Herrn Melnyk nicht sympathischer als Wladimir Putin, vielmehr steht er für viele Probleme, welche die Ukraine sehr wohl mit westlichen Demokratiestandards hat, deswegen kann man die Gründe für fortgesetzte Hilfe nicht vom Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen auf die Verteidigung der westlichen Demokratie im Donbass ausdehnen. Wenn man das aber nicht tut, muss man alles sorgfältig abwägen, was eine eigene Kriegsbeteiligung auslösen könnte. Mittlerweile wird, wie vorauszusehen war, schon über die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine diskutiert. Man muss geradezu festhalten, es ist ein Glück, dass Deutschland diesbezüglich nicht unabhängig ist und keine eigene, zumindest keine ausschließlich deutsche Produktion betreibt. Einige andere Länder, die in diese Produktion involviert sind, finden sich zwar immer an der Spitze, wenn es um diplomatische Rhetorik geht, aber halten sich mit realer Hilfe für die Ukraine merklich zurück.
Leider ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir am 24.02.2024 wieder hier sitzen und schreiben werden: Es gibt noch keinen Verhandlungsfrieden, als dass das Gegenteil der Fall ist. Eine Lösung bis dahin wäre eher überraschend. In dieser Situation kann niemand hierzulande mehr tun als sich Friden wünschen und hoffen, dass diejenigen, die an den Schalthebeln der tatsächlichen Macht sitzen, auf irgendeine Weise dazu gebracht werden, sich zu bewegen. China hat das heute nicht getan, streicht aber trotzdem die Dividende der Zustimmung der „Neutralen“ mit seiner Scheininitiative ein. Sich zu zeigen, würde aber heißen, es sei denn, es unterfüttert seine „Wunschliste“ mit Druck auf Russland und mit Werben um das Vertrauen der Ukraine.
TH
*Von den letzten fünf Briefings hatte lediglich eines ein anderes Thema, das der gewerkschaftlichen Organisation.