Frontapge | Briefing 154 | Wirtschaft, Gesellschaft, Fachkräfte, Gesundheitsberufe, Sozialberufe
Sie haben sicher schon vom Arbeitskräftemangel gehört. Wenn man die Nachrichten aus der Industrie verfolgt, hat man eher den Eindruck, demnächst werden gar keine Arbeitskräfte mehr gebraucht, weil a.) die Roboter, b.) die KI, c.) der Niedergang der deutschen Industrie für eine ganz entspannte Lage am Arbeitsmarkt – im Sinne der Unternehmen – sorgen werden.
Das Problem der Industrielobbyisten: Man misstraut vielen Nachrichten. Ja, es gibt einige spektakuläre Fälle von Massenentlassungen, wie etwa bei Ford, aber die meisten Unternehmen drohen bisher vor allem und noch jedes Mal, wenn etwas nicht in ihrem Sinne gelaufen ist, stand der Weltuntergang kurz bevor. In Wirklichkeit wuchsen die Gewinne immer weiter. Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Konzerne immer gigantischere Profite erwirtschaften und trotzdem ihre schlecht bezahlten Angestellten und Arbeiter:innen kündigen. Das hat die neoliberale Erziehung mit aus gemacht, dass wir das ganz normal finden (sollen). Aber wo werden nach einigermaßen seriösen Quellen tatsächlich Fachkräfte vermisst?
Es ist nicht die Industrie, die händeringend auf der Suche ist:
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Nach dem Beschluss der Eckpunkte zu einer neuen Regelung für die Fachkräfteeinwanderung im November 2022, haben das Innen- und das Arbeitsministerium am 20. Februar den Beginn der Anhörungen der Länder und Verbände eingeläutet. Durch die Novellierung soll qualifizierten Arbeitnehmer:innen eine berufsbezogene Migration nach Deutschland erleichtert und der Fachkräftemangel vor allem in sozialen und Pflegeberufen in Deutschland abgemildert werden. Wie unsere Grafik zeigt, sind nicht nur diese beiden Berufszweige von der Fachkräftelücke betroffen.
Auswertungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge mangele es auch in den Segmenten des Verkaufs, der Bauelektrik und der Informatik an qualifiziertem Personal. Insgesamt seien derzeit rund 633.000 Stellen für Fachkräfte nicht besetzbar. Dr. Lydia Malin, Autorin der dazugehörigen Studie, sieht die Unternehmen vor allem beim Aufbrechen von Geschlechterrollen in der Pflicht, um entsprechende Stellen attraktiver zu machen. „Unternehmen müssen besser auf die Bedürfnisse von dem jeweils anderen Geschlecht eingehen“, so Malin. „Nur so können die Lücken etwas verringert werden. Dabei helfen eine gendergerechte Sprache und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.“
Laut Bundeswirtschaftsministerium gibt es, Stand Februar 2023, in 353 von 801 Berufsgattungen Engpässe bei der Besetzung entsprechender Stellen. Bis 2060 soll sich die erwerbsfähige Bevölkerung zudem um rund zehn Millionen Menschen oder etwa 20 Prozent reduzieren. Sofern keine Zuwanderung von außen stattfindet, soll die Anzahl der Menschen zwischen 20 und 65 Jahren um etwa 16 Millionen sinken. Zahlreiche Expert:innen sehen geordnete Arbeitsmigration als gewinnbringendsten Weg, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken.
Es ist also die gendergerechte Sprache, die verhindert, dass der Fachkräftemangel in Deutschland abebbt. Wir finden es immer wieder klasse, wie jede Person, die eine Studie erstellt und jeder Lobbyverband sich genau die Argumente herausfischen, die am besten zur eigenen Agenda passen. Und jetzt kommt’s. Wir finden das auch okay – soweit es nicht gegen die Interesse anderer gerichtet ist, zum Beispiel der Arbeitnehmer:innen insgesamt. Kommentator:innen heben bereits den Zeigefinger und rufen: Geld ist nicht alles!, wenn es darum geht, dass viele Berufe unterbezahlt in Relation zu ihrer gesellschaftlichen Wichtigkeit sind. Wie etwa die Sozial- und Pflegeberufe. Stimmt auch, aber ohne Geld ist alles nichts und eine miserable Bezahlung in Kombination mit eher bescheidenen Arbeitskonditionen und Entwicklungsmöglichkeiten sorgt zum Beispiel in den Sozialberufen für eine hohe Fluktuation. Man darf nicht vergessen, dass es sich hierbei um junge, studierte Menschen handelt, die noch vorankommen wollen. Viele Jobs in diesem Bereich erweisen sich aber regelrecht oder auch regelwidrig, wenn man es vom HD-Standpunkt aus sieht, als mehr oder weniger totes Ende. Gerade im sozialen Bereich werden Arbeitserfolge oft durch allzu häufigen Wechsel der Fachkräfte gemindert oder gar zunichte gemacht.
Das ist ein Punkt, den wir angesichts der Konzentration auf den Pflegenotstand bisher nicht so in den Vordergrund gerückt haben, obwohl wir uns damit vergleichsweise gut auskennen. Es ist ein Gesamtpaket, das Arbeitnehmer:innen anzieht und zum Bleiben bewegt, und manches auf diesem Segment des Arbeitsmarkt ist schlicht fehlkonstruiert. Dies wiederum hat mit der geringen Wertschätzung Sozialer Arbeit zu tun. Die Schere wird künftig noch weiter auseinandergehen: Der Bedarf steigt, weil eine Krise nach der anderen immer mehr Bedürftigkeit nach dem Einsatz von Sozialfachkräften entstehen lässt, die Überlastung steigt mit, aber die finanzielle Ausstattung wird nicht angepasste. Und wieder haben wir ein Feld vor uns, in der krude Neoliberalismus die Folgekosten seines Wirkens auslagert: Die Gewinne der rabiatesten und am wenigsten nachhaltigen Unternehmen steigen derzeit am schnellsten und die Folgeschäden sind die höchsten. Ökologisch, aber eben auch sozial. Die Politik lässt sich von den Lobbyisten, auch jenen, die ständig über Fachkräftemangel jammern, an der kurzen Leine halten und dann heißt es, der deutsche Markt sei für gut ausgebildete Menschen aus dem Ausland nicht attraktiv genug.
Das ist wieder der Moment der Lobby-Gaukler: Der Staat muss die Anreize setzen und, wenn möglich, Sprachkurse, Ausbildungen und Qualifikationen finanzieren, und die Unternehmen bekommen die fertigen Fachkräfte. Für ein nettes gesellschaftliches Umfeld ist natürlich auch die Öffentlichkeit zuständig, nicht etwa das betreffende Unternehmen. Das darf nachher die Gewinne kassieren und sie irgendwo auf der Welt in einer Steueroase verbuddeln.
Das ist natürlich eine pointierte Darstellung mit wenig Zwischentönen, aber so kann man das, was läuft, gut zusammenfassen. Zumal es sich mit anderen wirklich unmöglichen Entwicklungen überlappt: Die Steuerquote der Unternehmen in der EU sinkt seit mindestens 20 Jahren fast permanent, aber die Infrastruktur muss natürlich der Staat, müssen also die Arbeitnehmer:innen von ihrer Lohnsteuer zur Verfügung stellen. Dafür werden sie schlecht bezahlt, schlecht behandelt und werden ständig mit billigen und willigen Fachkräften aus dem Ausland bedroht. Umso besser, dass die Menschen abroad auch ihren Preis mittlerweile kennen und zu verteidigen wissen. Vielleicht sind diejenigen, die kommen, nicht nur gut ausgebildet, sondern auch selbstbewusst genug, um uns bei der Erhaltung der Arbeitnehmer:innenrechte zu helfen, die wir noch haben.
Das wäre natürlich nicht im Sinne derer, die die Arbeit anderer entgegennehmen und profitabel verwerten. Aber wenn man wirklich die Besten haben will, bekommt man auch welche, die sich nicht alles gefallen lassen werden. Da wird man sich vielleicht noch wundern. Oder die Leute kommen eben gar nicht. Um ganz ehrlich zu sein: Wenn wir in dem richtigen Alter wären und in einem Land, das einen Überschuss an qualifizierten Arbeitskräften produziert, eine solche Arbeitskraft wären, stünde gerade Deutschland weit hinten auf der Liste der möglichen Zielländer. Aber nicht, weil die arme Wirtschaft hier so leidet und wir da nicht mittendrin sein wollen, sondern weil diese Neoliberalen die sozialen Standards und den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschädigen und damit für eine aggressive gesellschaftliche Stimmung sorgen, unter der wir nicht leiden wollen. Wer wirklich irgendwo hin will, wer einen Lebenstraum verwirklichen will, der schafft übrigens auch die Bürokratie. Die mag hierzulande recht ausgeprägt sein, aber der entscheidende Faktor für eine zu geringe Standortattraktivität ist sie eher nicht.
Mittelprächtige Fachidiot:innen werden an deutschen Unis hingegen mehr als genug erzeugt, seit die Studiengänge von Anfang bis Ende für die Wirtschaft zurechtkonfektioniert wurden. Da wird es, wenn die KI erst richtig loslegt, für einige zu einem bösen Erwachen kommen. Für jene, die durch Jobversprechungen in nur noch der Form nach akademischen Bereiche gelockt wurden und dann sehen, es ist zu wenig von allem da. Vor allem von unersetzbarer menschlicher Arbeit ist zu wenig da.
Nach unserer Ansicht wird sich am Fachkräftemangel in wichtigen Berufen, die zwingend den Einsatz von Menschen erfordern, erst einmal nichts ändern, wenn nicht bestimmte Parameter der hiesigen Auffassung über den Wert von Menschen sich ändern. Wenn man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet, weiß man, es wurde schlechter, nicht besser. Und nichts spricht derzeit für eine Trendwende, die auch politisch gewollt und mitorganisiert werden müsste. Wer soll die einleiten? Die jetzige Bundesregierung, in welcher der gesellschaftlich gesehen faule neoliberale Apfel mittendrin sitzt? In welcher gewisse hervor- und abgehobene Grüne so, wirklich so sehr häufig durchblicken lassen, dass sie im Grunde genauso ticken, nur eben mit grünem Anstrich? Mit einer Arbeiterpartei, bei der es schon ein Erfolg ist, dass der Begriff soziale Gerechtigkeit nicht mehr so ein Schimpfwort ist wie zu Schröders Zeiten?
Der beste Anreiz für intelligente Menschen im umfassenden Sinne, das Fachliche, aber auch das Soziale und Emotionelle betreffend, hierherzukommen und damit ein Gewinn für uns alle zu sein, wäre, dass das Wirtschaftsmodell attraktiv im Sinne von kooperativ, demokratisch und einigermaßen gerecht ist. Damit könnte man auch dann gut aufgestellt sein, wenn man den Subventionswettlauf mit den USA nicht antreten will. Wir sind uns ganz sicher, dass das funktionieren würde. Gerade bei Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, weil es dort eben auch nur den Rest vom westlichen Schützenfest zu besichtigen gibt.
TH