Briefing 188 | Geopolitik, Türkei, Türkiye, Erdogan, AKP, CHP, HDP
Wird Recep Tayyip Erdoğan es noch einmal schaffen? Diese Frage bewegt die Türkei, bewegt die Kommentatoren auch bei uns und natürlich die hiesige türkische Community. Viel wurde darüber geschrieben, warum die Türken in Deutschland so Erdogan-treu sind. Es gibt auch stichhaltige Erklärungen dafür.
Wir werden darauf in diesem Beitrag nicht eingehen, sondern nur ein paar Infos liefern, die den Blick über Deutschland und die Türkei hinaus weiten, denn es geht um das Wahlverhalten aller wahlberechtigten türkischen Staatsbürger:innen, die im Ausland leben.
Infografik: So haben Türk:innen im Ausland bisher gewählt | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Die Türkei befindet sich in der heißen Phase des Superwahljahres 2023. Bei den Wahlen am 14. Mai werden sowohl das neue Parlament als auch der Staatspräsident gewählt. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger:innen endet die Abstimmungsfrist bereits am 9. Mai. Das betrifft laut Wahlkommission des Landes etwa drei Millionen registrierte Wähler:innen, die für Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP das Zünglein an der Waage im denkbar knappen Wahlkampf sein können.
Wie die Statista-Grafik zeigt, hat der Großteil der Auslandstürk:innen in der Vergangenheit regierungstreu gewählt. Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) kam bei der letzten Parlamentswahl 2018 auf etwa 51,7 Prozent der Stimmen, gefolgt von der kemalistischen Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) mit 17,8 Prozent und knapp dahinter die mehrheitlich kurdische, linkspolitische Halkların Demokratik Partisi (HDP). Vor allem die HDP konnte bei den Auslandsstimmen seit ihrer Gründung 2012 deutlich gewinnen, während AKP und CHP Wähleranteile einbüßen mussten.
Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) regiert schon mehr als 20 Jahre in der Türkei, im aktuellen Wahltrend kommt das Regierungsbündnis aus AKP und ultranationalistischer Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) aber auf keine Mehrheit. Auch bei der Präsidentschaftswahl liegt der Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) in den Umfragen vor Amtsinhaber Erdoğan.
Die Wahlbeteiligung ist mit insgesamt 83 bis 86 Prozent bei den vergangenen Parlamentswahlen auf einem stabilen Niveau. Von den Auslandstürk:innen haben 2018 zuletzt jedoch nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.
Die HDP, die sich im Aufstieg befindet, ist sicher die erste Wahl für Menschen kurdischer Abstammung mit türkischem Pass in Deutschland, ihr stehen auch kurdischstämmige deutsche Poliker:innen aus dem linken Spektrum nah und es ist immer wieder spannend zu sehen, wie diese sich zur PKK stellen, der die HPD wiederum nahesteht und die in vielen Ländern als terroristische Vereinigung gilt. Aktuell spielt dieses Problem beim NATO-Beitritt zweier skandinavier Staaten, vor allem Schwedens, eine Rolle, das nach der Ansicht von Recep Erdogan zu wenig gegen deren Aktivitäten in der Diaspora unternimmt.
Kann in einer Diktatur, als welche die Türkei vielfach schon bezeichnet wird, der Diktator abgewählt werden? Wir werden es sehen. Wenn es möglich ist, dann muss man sagen, es handelte sich noch nicht um eine vollständige Diktatur. Schockiert waren wir zuletzt über die Position der Türkei als eines der weltweit schlechtesten Länder in Sachen Arbeitnehmerrechte. Wir haben darüber noch nicht geschrieben, weil wir das Thema gerne etwas ausführlicher behandeln wollen, als uns das während der Grippe konzentrationsseitig möglich war. Selbst viele eindeutige Diktaturen liegen auf dem Gebiet der Bürger- und Menschenrechte, zu denen auch die Arbeitnehmerrechte zählen, nicht ganz so miserabel wie die Türkei. Man muss sich immer vor Augen halten, dass das Land sich im Beitrittsprozess zur EU befindet. S
elbst wenn man kulturelle Aspekte außen vor lässt: Die Türkei würde die rechtlichen Standards in der gesamten EU herunterziehen, allein durch die Anwesenheit eines so großen Landes mit schwieriger Rechtsstaatlichkeit im Club (als bevölkerungsreichstes Land Europas, Russland nicht einbezogen, hat die Türkei Deutschland kürzlich überholt). Und diese Rechte sind schon ohne die Türkei immer wieder in Verteidigung gegenüber dem neoliberalen Durchmarsch. Es gibt viel mehr Gründe, die Türkei nicht in die EU aufzunehmen als solche, die dafür sprechen. Dafür spricht vor allem die Geostrategie.
Deswegen ist es den US-Strategen egal, ob die Türkei zur EU passt oder deren Regierung demokratische Werte vertritt, wenn sie eine Aufnahme des Landes in die EU propagieren. Was zählt, ist nur der imperalistische Aspekt, auch wenn das gesamte Gebilde EU dadurch noch instabiler würde, als es aus ökonomischen Gründen und wegen gewisser Diskrepanzen bei den Werten zwischen dem „alten Europa“ und den Regierungen einiger Länder im Osten der EU-Zone jetzt schon ist. Es knirscht in der sogenannten Wertegemeinschaft. Dringend angezeigt wäre Zuwachs ganz am oberen Ende, wie zum Beispiel durch Norwegen, nach dem Brexit, oder ein Beitritt reicher, stabiler Länder zur Eurozone, nicht das Gegenteil. Alle Kandidat:innen sind aber weit unter dem bisherigen ökonomischen und sozialen Durchschnitt. Nach unserer Ansicht ganz unmöglich, zum Beispiel die Ukraine und die Türkei beitreten zu lassen, unter gegenwärtigen oder in naher Zukunft zu erwartenden Umständen, ohne die EU damit endgültig und maßlos zu überdehnen und endgültig zu ruinieren.
Es kann ja alles wieder anders kommen, aber dazu müsste Erdogan abgewählt werden. Wir hoffen das Beste, erwarten aber nicht, dass es bald zu einer Wende im Sinne einer (Re-) Demokratisierung der Türkei kommt, die es ermöglichen würde, als Beitrittskandidat zur EU wieder ernsthaft infrage zu kommen. Wir verstehen, dass Erdogan den Nationalstolz und die religiösen Gefühle der türkischen Menschen, die in Deutschland leben, gut zu bespielen weiß, aber bevor wir nun doch in die Analyse einsteigen, beenden wir diese kurze Darstellung mit einem Dank an Statista für die vielen interessanten Grafiken von dieser Stelle.
TH