Der englische Patient (The English Patient, USA / GB 1996) #Filmfest 950 Cinema #Top250

Filmfest 950 Cinema – Concept IMDb Top 250 of All Time (118)

Der englische Patient ist ein Spielfilm des britischen Regisseurs Anthony Minghella aus dem Jahr 1996. Das Liebesdrama basiert auf dem gleichnamigen Roman des kanadischen Autors Michael Ondaatje. Der Film gewann bei der Oscarverleihung 1997 neun Academy Awards, unter anderem für den Besten Film und die Beste Regie.

Endlich wieder ein epischer Film – und er gewann 1996 neun Oscars bei zwölf Nominierungen, ist damit in einem allgemein als gut bezeichneten Filmjahr auch bezüglich seiner Auszeichnungen (es gibt viele mehr davon, neben den Oscars) sozusagen episch. Hat er auch die emotionale Kraft der großen Hollywood-Epen?

Handlung (1)

Italien in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges: Die kanadische Lazarettschwester Hana glaubt, auf ihr laste ein Fluch, da jeder, der ihr nahesteht, binnen kürzester Zeit stirbt. So wird ihr Verlobter, Captain der 3. kanadischen Füsiliere, auf dem Schlachtfeld tödlich verwundet. Als ihre Kameradin und Freundin Jan kurze Zeit später durch eine Mine umkommt, verlässt sie den Konvoi unter dem Vorwand, sich um einen nicht transportfähigen Patienten zu kümmern. Der englische Patient, wie er genannt wird, ist durch schwere Brandwunden entstellt und hat sein Gedächtnis verloren. Hana richtet sich mit ihm in einem verlassenen Bergkloster ein. Dorthin kommen bald auch Caravaggio, ein Spion, der zufällig von Hana und ihrem Patienten erfahren hat, und der indische Leutnant Kip Singh, der in Diensten der britischen Armee Bomben und Minen in der Umgebung entschärft. Durch Morphinspritzen von seinen Schmerzen befreit, gewinnt der Patient anhand eines von ihm mit persönlichen Anmerkungen, Fotos und Zeichnungen versehenen Herodot-Buchs allmählich seine Erinnerung zurück.

Der Unbekannte ist nicht Engländer, sondern der ungarische Graf László Almásy. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er für die Royal Geographical Society in Ägypten tätig. Zusammen mit seinem Freund Madox leitete er eine Expedition und entdeckte in der Nähe von Gilf el-Kebir die Höhle der Schwimmer, eine inmitten der Wüste gelegene Felsbildhöhle, die Zeichnungen von Menschen zeigt, die zu schwimmen scheinen. Die Freude über den sensationellen Fund wird durch das Eintreffen von zwei neuen Expeditionsteilnehmern getrübt. Das englische Ehepaar Katharine und Geoffrey Clifton ist von der Royal Geographical Society nach Ägypten beordert worden, um die Expedition zu unterstützen. Später stellt sich jedoch heraus, dass Geoffrey Clifton den geheimen Auftrag erhalten hat, als ausgebildeter Pilot und Fotograf das Territorium Westägyptens für das britische Militär zu erkunden. Der Einzelgänger Almásy ist von der schönen Katharine sofort fasziniert, begegnet ihr zunächst jedoch betont distanziert und versucht zu verhindern, dass sie als einzige Frau im Expeditionslager verweilt, während ihr Ehemann Geoffrey nach Kairo aufbricht, um angeblich Porträtfotos eines britischen Diplomaten und seiner Familie anzufertigen. Während die Expedition von einem Sandsturm überrascht wird, kommen sich Katharine und Almásy langsam näher. Als die Expedition nach Kairo zurückkehrt, beginnen beide eine leidenschaftliche Liebesaffäre. Geoffrey erfährt jedoch von dem Seitensprung seiner Ehefrau, als er sie am ersten Hochzeitstag überraschen möchte. Vor dem Hotel wird er Zeuge, wie Katharine in ein Taxi steigt und erst am nächsten Morgen zurückkehrt. (…)

Rezension

Ich habe eben nachgeschaut, „Der englische Patient“ bekommt von den Nutzern der IMDb nur eine durchschnittliche Bewertung von 7,4/10 zugesprochen. Das ist zwar nicht wenig, aber doch etwas mager für einen Film dieser Art und reicht nicht an das heran, was die großen Melodramen der Filmgeschichte erreichen, die oftmals über 8/10 liegen. Diese Bewertung hat sich seit dem Fertigen des Entwurfs zu dieser Rezension, also innerhalb von mehr als sechs Jahren, nicht verändert. Der Metascore der US-Kritiker von 87/100 kommt dem, was ich von „Der englische Patient“ halte, aber recht nah. Ich will nicht analysieren, woraus die Nutzerwertung abzuleiten ist, aber es fällt unter anderem auf, dass Melodramen wie dieses gegenüber anderen Genres ein wenig schlechter eingeschätzt werden – wenn man von „Casablanca“ absieht, mit dem dieser Film unter anderem verglichen wurde. Frauen werten ihn etwas höher als Männer (7,7/10 gegenüber 7,3/10). Der Film muss aber auch einmal stärker bewertet worden sein, denn er war zwei Jahre lang (1996 bis 1998) in der IMDb-Top-250-Liste vertreten, dafür benötigte es immer schon mindestens 7,8 oder 7,9/10. Daher zählt die Rezension auch zu unserem Konzept, möglichst viele Filme zu besprechen, die einmal in dieser Liste aufgeführt waren oder es noch sind. Die 9 Oscars für den Film, darunter viele der „großen“, vor allem die Auszeichnung als bester Film des Jahres, zählen zu den Top-Platzierungen aller Zeiten. 

Am häufigsten wird der Vergleich zu „Lawrence von Arabien“ gezogen, was aufgrund des hauptsächlichen Settings in der nordafrikanischen Wüste nahe liegt, aber im Zentrum steht in „Lawrence“ ein einziger Mann, dessen Geschichte und dessen außergewöhnliche Persönlichkeit, während „The English Patient“ doch vor allem eine Romanze ist.

Aber eine der schönsten, die ich in Jahren gesehen habe, und diesen Filme habe ich wirklich erst jetzt für die Rezension angeschaut. Man darf Liebesfilme eben nicht langweilig finden, dann funktioniert „Der englische Patient“ sehr gut, denn das Spiel von Kristin Scott Thomas und Ralph Fiennes als Liebespaar ist außergewöhnlich gut. Das matcht, würde ich als Beobachter sagen, die von der Annäherung mit großen inneren Widerständen bis zur Leidenschaft, die sich dann Bahn bricht. Sicher ist Leidenschaft nicht alles, aber selten sieht man sie so gut gespielt wie hier, und es gibt mehr. Es gibt großartige poetische und auch tragisch-poetische Momente, die von der Qualität der literarischen Bestseller-Vorlage künden.

Die Nachvollziehbarkeit und Stimmigkeit hat mich während des gesamten Films beeindruckt, das gilt auch für die Ausgangs-Zeitebene, die letzten Kriegstage 1945. Juliette Binoche erhielt für die Rolle der Krankenschwester Hana, die den vorgeblich englischen Patienten bis zu seinem von ihr unterstützten, frei gewählten Tod pflegt, den Nebenrollen-Oscar und bringt ihren gänzlich anderen Typ einer Franko-Kanadierin ebenso gut rüber wie Scott Thomas den einer Upper-Class-Engländerin. Deren unerfülltes Verhältnis zu ihrem Mann ist zwar ein Klischee, das schon an „Red Dust“ und „Mogambo“ ausgespielt wird, wo immer handfeste amerikanische Jungs daherkommen mussten, um die unbefriedigte Lady auf Touren zu bringen, aber hier handelt es sich um eine subtilere Konstellation.

Denn der Nicht-Angloamerikaner Graf Almasy ist alles andere als ein Haudegen, er ist schwierig, selbstreflexiv, und gerade seine anfängliche Ablehnung ist es, die Katharine Clifton reizt. Gespiegelt wird das Verhältnis der beiden von der Liebe der Krankenschwester zu einem Sikh, der als Minenräumer für die Alliierten im befreiten Italien arbeitet – und das ebenfalls einen schwierigen Beginn hat, weil sie glaubt, sie sei mit einem Fluch belastet, der alle, denen sie ihre Liebe schenkt, dem Tod weiht.

Neben der Kraft der Liebesgeschichten und dem großartigen Spiel ist es auch die Konstruktion des Films, die beeindruckt. Man erfährt zunächst nur Bruchstücke, erst, als der Patient der Krankenschwester, dem Sikh, einem mystischen Mann namens Caravaggio und sich selbst über seine Vergangenheit erzählt, fügt sich alles langsam zusammen. Und zwar mit einer Dramaturgie, die zwar einen langen Anlauf braucht – was heutige Medienrezipienten gerne als langweilig bezeichnen, sicher ein Grund für die nicht so hohe Bewertung des Films in der IMDb – aber zum Ende hin sehr steil wird. Der Boden für das Gefühlvolle wird in der Sandsturm-Szene bereitet, als eine Situation schön so herbeigeführt wird, dass Almasy und Lady Clifton zu zweit allein im engen Fahrerhaus eines Autos ausharren müssen, während draußen der Sturm sich wunderbar symbolisch austobt. Es wird zwar hier noch nicht gezeigt, sondern erst später in einem Hotel, aber da dürften die beiden einander schon sehr nah gekommen sein.

Das tragische Ende der Beziehung aufgrund eines sozusagen beiderseitigen Fehlverhaltens britischer Streitkräfte und Almasys, der Tod von Katharine Clifton, ist eine der besten Inszenierungen dieser Art, die ich je gesehen habe, mutig, ausführlich, mit großer psychologischer Feinfühligkeit ausgeleuchtet. Sicher gibt es Filme, die eher Studiencharakter haben und tiefer in ihre Figuren einsteigen können, die auch nicht so einen groß angelegten Plot aufweisen, aber innerhalb des Genres ist „Der englische Patient“ ein Spitzenfilm, dem nichts fehlt.

Außer der Liebesgeschichte hat er natürlich auch eine Botschaft, und ist mit ihr auch ein typischer Film der 1990er, als letztmalig in die große Kiste des glaubwürdig erscheinenden Kinos der Emotionen und Entwürfe gegriffen werden konnte. In Afrika treffen sich Angehörige vieler Nationen, um beispielsweise Altertumsforschung zu betreiben und finden eine Höhle, die belegt, dass es früher in der Wüste viel Wasser gegeben hat. Der Krieg aber entzweit die Menschen und trennt sie in Lager und der „englische“ Patient wird von britischen Soldaten sozusagen in die Arme der Deutschen getrieben, weil er eben kein Engländer ist, und kann nur mit deren Hilfe seine Geliebte – bergen, retten kann er sie nicht mehr. Dann wird er, da er mit einer von den Deutschen konfiszierten englischen Maschine unterwegs ist, von deutschen Truppen abgeschossen. Historisch ist wieder mal einiges nicht korrekt, was die Darstellung der Deutschen, dieses Mal in Nordafrika, während des Zweiten Weltkrieges angeht, aber darüber kann man im Wikipedia-Beitrag zum Film nachlesen, in dem auch die Handlung komplett zusammengefasst wird. Diese Hollywood-typischen Faktenfehler ändern aber nichts daran, dass dies ein wirklich sehenswerter Film ist.

Fakten zum Film

  • Das Makeup von Ralph Fiennes als verbrannter Patient aufzutragen dauerte jeden Tag fünf Stunden und er bestand darauf, dass auch für Szenen, in denen nur sein Gesicht zu sehen war, eine Ganzkörper-Maske gefertigt wurde (Quelle, wie die folgenden Anmerkungen: Wikipedia, in diesem Fall sind aber wohl Arme und Teile des Oberkörpers gemeint, denn mehr sieht man nie und sicher wurde die Maske auf Teile beschränkt, die wenigstens irgendwann sichtbar waren – wenn man genau hinschaut, merkt man auch, dass die Maske in Farbe und Form nicht immer gleich ist).

  • Der Vater von Kristin Scott Thomas war tatsächlich Pilot und verunglückte 1964 tödlich, ebenso ihr Stiefvater sechs Jahre später; sie entstammt, wie man es auch von ihrer Figur vermuten könnte, einer englischen Militärfamilie.

  • Als der Film noch von der 20th Century Fox finanziert wurde, mit der sich der ausführende Produzent Saul Zaentz dann überwarf, war Demi Moore stark an der Rolle der „K“ interessiert, wie das Studio überhaupt gerne Superstars für die tragenden Rollen gehabt hätte – aber mit Moore wäre das ein anderer Film geworden, so viel steht fest.

  • Juliette Binoche wusste in dem Moment, dass sie in dem Film sein wollte, als sie die Szene las, in der Kim ihr die Fresken einer italienischen Kirche zeigt, indem er sie an einem Seil festgurtet und hochzieht. In der Tat einer der schönsten Momente dieses an besonderen Momenten reichen Films – aber nicht in einer Kirche, sondern auf dem römischen Studiogelände von Cinecittà gedreht.

  • „Der englische Patient“ war der erste Film mit Digital-Editing, der einen Oscar gewann. Ich erwähne das hier deshalb, weil ich unter anderem in der Anfangszene, als das Flugzeug über die Wüste fliegt und dann brennt, den Eindruck hatte, dass digital nachgeholfen wurde, um die Bilder besonders ausdrucksstark zu machen – mit dem Möglichkeiten von 1996 allerdings noch um den Preis verminderter Konturenschärfe.

  • Das Makeup von Ralph Fiennes sollte nicht nur medizinisch korrekt aussehen, sondern auch subtil das im Film wichtige Thema Kartografie reflektieren.

Finale

Obwohl einiges an dem Film aufgrund des limitierten Budgets nicht ganz echt wirkt, obwohl die Besetzung vor allem auf damals noch aufsteigende Schauspieler setzte, deren Einsatz jenes Budget nicht sprengte, ist „Der englische Patient“ ein großer Film geworden, der alle Anforderungen an ein romantisches Epos erfüllt. Filme dieser Art sind nicht erst heute selten geworden, sie waren es immer schon und man sollte sich die Zeit nehmen, in diesem Fall mehr als zweieinhalb Stunden, sie zu genießen. Das fällt nicht schwer, denn die spannenden Figuren machen das Mitgehen auch über eine längere Strecke leicht und die Regie von Anthony Minghella sorgt dafür, dass man am Ende alles versteht und ein ebenso stimmungsvolles wie stimmiges Gesamtbild erhält.

88/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Anthony Minghella
Drehbuch Anthony Minghella
Produktion Saul Zaentz
Musik Gabriel Yared
Kamera John Seale
Schnitt Walter Murch
Besetzung

 

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