Briefing 241 | Geopolitik, Ukrainekrieg, NATO
Soll die Ukraine der NATO beitreten? Die Frage stellt Civey heute und wir kommentieren unterhalb des
Begleittextes …
Auf dem NATO-Gipfel in der lettischen Hauptstadt Vilnius forderte der ukrainische Präsident Wolodimir Selensky diese Woche erneut mit Nachdruck, die Ukraine als Mitglied aufzunehmen. Er verlangte einen klaren Zeitplan für den Beitritt, den sein Land letztes Jahr infolge des russischen Angriffs beantragt hatte. Die NATO gebe der Ukraine Sicherheit und die Ukraine mache die NATO stärker, argumentierte Selenskyj.
Obschon die NATO daraufhin versicherte, die ukrainische Mitgliedschaft grundsätzlich zu befürworten, blieb eine offizielle Einladung und ein Zeitplan aus. Diese könne erst bei Einigkeit aller Bündnispartner erfolgen und wenn die Ukraine die Voraussetzungen wie Reformen im Bereich Demokratie oder Grenzkonflikte erfüllt. Vor allem die USA und Deutschland halten einen Beitritt derzeit für ausgeschlossen. Insofern verwies SPD-Verteidigungsexperte Wolfgang Hellmich im rbb24 Inforadio auf die Sorge, dass die NATO Kriegspartei werden könnte.
„Ich denke, es ist eine verpasste Chance für die europäische Sicherheit, sehr klar Putin deutlich zu machen, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nach dem Krieg unzweifelhaft ist.” Mit diesen Worten kritisierte CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter am Mittwoch im ZDF-Morgenmagazin die ausgebliebene Einladung. Insofern hätte die NATO ein konkretes Versprechen geben können, nämlich „sobald die Sicherheitsbedingungen es zulassen”.
… von Civey im Newsletter:
Roderich Kiesewetter gilt ja im CDU-Spektrum eher als mittig, aber das ist wohl innenpolitisch gemeint, außenpolitisch gehört er schon lange zu den Scharfmachern. Wenn schon die USA dagegen sind, dass die Ukraine in Kürze der NATO beitritt, die von deren Interessen dominiert ist, dann sollte man sich Gedanken darüber machen, ob ein solcher Beitritt wirklich sinnvoll ist, nur weil nicht demokratiefeste Regierungen wie die polnische das so stark befürworten. Es ist nicht das Gleiche wie eine Mitgliedschaft in der EU, die wir für die Ukraine derzeit überhaupt nicht sehen, sie der NATO beitreten zu lassen, aber wenn sich die NATO wirklich auch als Wertegemeinschaftsbündnis begreift, kann es im Grunde gar keine so viel anderen Maßstäbe geben. Auch die deutsche Regierung ist derzeit skeptisch, und wieder einmal muss man Olaf Scholz dafür danken, dass er nur das Unumgängliche tut, um das Land tiefer in den Krieg zu ziehen, sprich Aktionen durchführen lässt, deren Ausbleiben zu scharfen Reaktionen innerhalb des Bündnisses gegen Deutschland führen würde. Warum aber nicht gleich so?
Warum haben auch die USA und die EU geradezu über viele Jahre hinweg versucht, die Ukraine in die westlichen Organisationen, vor allem in die NATO, hineinzuziehen? Hätte es diese rücksichtslos verfolgte Tendenz nicht gegeben, wäre es vermutlich nicht zu dem Angriffskrieg Russlands gekommen. Freilich werden von russischer Seite noch mehr Gründe genannt, wie der Umgang der ukrainischen Regierung mit der großen russischen Minderheit im Land, die in manchen Gegenden auch eine Mehrheit ist.
Uns ist sehr wohl bewusst, dass wir unter dem Schock des nach wie vor völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine anders tendiert haben: NATO eher ja, EU eher nein. Mittlerweile sehen wir beide Ampeln klar auf Rot stehen. Dies hat auch mit dem Kriegsverlauf zu tun. Die Lage ist komplett festgefahren und eine Möglichkeit für einen Verhandlungsfrieden wäre, dass die Ukraine komplett von russischen Truppen geräumt wird, aber neutral bleibt und westliche Sicherheitsgarantien erhält. Wenn aber die Scharfmacher die Oberhand gewinnen, dann wird Russland einen Teil des ukrainischen Gebiets behalten und der Rest wird dann in die NATO gehen. Die Frage ist, wie groß dieser Rest sein wird, falls die NATO ihre Hilfe nicht noch erheblich ausweitet. Die Ukraine jetzt in die NATO zu bugsieren, würde den Krieg mit großer Sicherheit noch brutaler werden lassen. Dass die Ukraine die NATO stärke, ist sowieso ein Witz, aber es ist Wolodomir Selenkyis Job, solche Behauptungen aufzustellen, das muss man ihm verzeihen.
Das genaue Gegenteil ist aktuell der Fall: Der Krieg in der Ukraine kann die EU schwer beschädigen, falls die USA sich aus ihm zurückziehen und mit der NATO sieht es nicht viel anders aus, was deren Validität angeht, wenn die führende Nation, etwa nach der Wahl eines Republikaners zum Präsidenten im Jahr 2024, auf die Bremse tritt. Dann könnte die NATO einem Mitglied Ukraine gegenüber nicht einmal ihre Beistandspflichten erfüllen. Bisher gab es glücklicherweise nie den Fall, dass ein NATO-Staat angegriffen wurde und die Verteidigungsfähigkeit der Partner hätte in einem sogenannten Bündnisfall getestet werden müssen. Die schärfste Konfrontation mit einer anderen Macht fand während des Kalten Krieges an der innerdeutschen Grenze statt, und diese führte nicht zum Krieg, weil alle Beteiligten ein gewisses Maß an Vernunft gewahrt haben. Das sollte tunlichst so bleiben.
Wenn die Türkei den Beitritt so unbedenklicher Kandidaten wie Schweden oder Finnland hinauszögert, (unbedenklich im Sinne der Demokratie, nicht zwangsläufig auch geostrategisch), dann hat Deutschland allemal das Recht, aus einem allgemeinen Friedensinteresse heraus einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht zu beschleunigen und damit Verhandlungsmasse für einen fairen Friedensschluss in der Hand zu behalten.
In dieser gefährlichen Frage von Krieg und Frieden sind wir froh, dass gegenwärtig eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht als Sicherheitsgewinn für Europa ansieht. Schon der Beitritt Finnlands und Schwedens zementiert eine Architektur von Sicherheit, die eigentlich für den Kalten Krieg gedacht war und man hat den Eindruck, viele NATO-Strategen sind froh, dass die NATO endlich wieder so sinnvoll wirkt, dass weitere Staaten (auch solche außerhalb des Nordatlantiks interessieren sich derzeit für einen Beitritt) integriert werden können.
Eine Gemeinsamkeit zwischen NATO-Erweiterung und EU-Erweiterung gibt es ohnehin. Je mehr Mitglieder, desto mehr Konfliktpotenzial und desto mehr wird die NATO von den großen neutralen Staaten, die ihr sicher nicht beitreten werden, als imperialistisches Expansionsmodul wahrgenommen werden, das den Westen trotz seines schrumpfenden Anteils an der Weltbevölkerung und der Weltwirtschaft weiterhin davor bewahren soll, mit anderen endlich auf Augenhöhe umzugehen. Rüstungsmäßig ist die NATO sowieso uneinholbar vorne. Die Welt schaut sehr genau hin, was in der Ukraine passiert und wie hoch der Preis sein darf, den man in der NATO dafür zahlen will, eine Restukraine zum Mitglied machen zu können.
TH
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