Crimetime 1165 – Titelfoto © SDR, Hugo Jehle
Tatort Urquell
Auf offener Straße ist die 4. Folge der Fernsehreihe Tatort. Die Erstausstrahlung der vom Süddeutschen Rundfunk produzierten Folge erfolgte am 7. Februar 1971 im Ersten der ARD. Für Kriminalhauptkommissar Eugen Lutz (Werner Schumacher) ist es sein erster Fall. Ein Mann wird auf offener Straße niedergestochen, der Täter flüchtet.
Wir schreiben das Jahr 1971. Die Amerikaner waren offensichtlich schon auf dem Mond, und der ist unbewohnt. Das wissen wir jetzt alles. Aber die Menschen, die sind noch genau so rudimentär wie in der Steinzeit, das jedenfalls drückt „Auf offener Straße“ treffend aus. Wir haben wieder so viel über die Tatort-Geschichte gelernt. Was wir gelernt haben, steht in der –> Rezension.
Handlung
36 Stunden vor der Tat: Ein Schiff fährt in den Hafen von Mannheim ein, macht fest, der Matrose Hubert läßt sich Lohn und Vorschuß für seinen Landurlaub geben, wirft sich in Schale und geht an Land. Hubert kennt in Mannheim nur wenige Leute. Die ältere Bedienung Erna, bei der er sein erstes Bier an Land trinkt, könnte Hubert eine Stelle auf einem Bunkerboot vermitteln. Bunkerboote entfernen sich nur wenig von ihrem Standort. Ein solcher, wesentlich festerer Job würde Hubert gut ins Konzept passen. Er kennt hier nämlich noch ein junges Mädchen, mit dem er gerne eine bürgerliche Existenz aufbauen möchte. Daß Milly in der Chacha-Bar arbeitet, stört ihn nicht. Er ist fest davon überzeugt, sie da so schnell wieder wegzubringen, wie sie hingeraten ist.
Milly schmeichelt es zwar, einen Heiratsantrag zu bekommen, aber im Grunde hat Hubert bei ihr keine Chance; offenbar verwechselt er die berufsmäßige Freundlichkeit Millys mit echter Erwiderung seiner Gefühle. Das muß schiefgehen. Nachdem Milly und deren Kolleginnen ausgiebig auf Huberts Kosten gezecht haben, lassen sie ihn stehen. Hubert fühlt sich ausgenutzt, gedemütigt und ist verzweifelt. Die angestauten Aggressionen führen aus nichtigem Anlaß zum Streit mit Passanten; Hubert zieht in einer Mischung von Wut und Angst sein Messer und sticht mehrmals zu. Kommissar Lutz setzt sofort den polizeiapparat in Bewegung; Streifenwagen schwärmen aus, der Erkennungsdienst sichert die Spuren am Tatort, Zeugen werden befragt, er selbst sucht noch in der Nacht in den Bars Auskünfte über einen Mann einzuholen, von dem er sich nur ein vages Bild machen kann.
Rezension
Erst einmal ein großes Lob an den SWR, der die alten Tatorte der Anstalten auspackt, aus denen er sich heute zusammensetzt (SDR, SWF) und auch den SR nicht vergisst. Dieses Mal erfahren wir, wie Kommissar Lutz eingeführt wird.
Dadurch kam es, dass wir „Saarbrücken, an einem Montag“, den zweiten Tatort, und „Auf offener Straße“, den vierten, kurz hintereinander rezensieren konnten (die Republikation der beiden Texte steht weiter auseinander und firmiert unter „Crimtime 605“ und, s. ol, „Crimtime 1165“). War der erste aber noch gar nicht für die Reihe produziert, sondern als eigenständiger Fernsehfilm geplant, ist Letzterer, wenn man so will, der offizielle Start. Wenn man sich den Film angeschaut hat, kann man eines mit Sicherheit sagen: Da hat die ARD und hat die Reihe „Tatort“ Glück gehabt, denn wären alle Krimis aus den frühen 1970ern so ausgefallen wie dieser, hätte das möglicherweise das schnelle Ende der Veranstaltung bedeutet.
Trotzdem ist es wichtig und richtig, diese Filme aus der Urzeit der Reihe auszustrahlen, und wir hoffen, andere ARD-Sender scheuen sich nicht, dem nachzueifern. Der BR hat es anlässlich des 50. Geburtstages seines dritten Programmes schon getan, der NDR und der WDR haben vergangene Kommissare auftreten lassen, der HR ebenso (anlässlich der Republikation: Der SFB / RBB ist dem 2017 gefolgt). Aber so tief in die Kiste wie jetzt der SR hat in den letzten Jahren kein anderer ARD-Sender gegriffen, und das ist fantastisch. Außerdem werden dort ja auch Buchmüller- und Wiegand-Folgen wiederholt, sodass man sagen kann: Wer die Tatortgeschichte von Beginn an begreifen will, der schuldet dem SWR einiges.
Wir kehren zurück zu einem sich anbietenden Vergleich zwischen „Saarbrücken, an einem Montag“ und „Auf offener Straße“. Wie nah „Saarbrücken“ an den heutigen Tatorten ist, erschließt sich noch einmal mehr aus diesem Vergleich. Da ist fast alles drin, was heutige Tatorte ausmacht, und in „Auf offener Straße“ fast nichts davon.
„Auf offener Straße“ wurde von Theo Mezger inszeniert, den wir zuletzt als Regisseur von „Flug in Gefahr“ kennengelernt hatten, und dieses in S/W gefilmte Fernsehspiel fanden wir ansprechend. Frappierend war aber auch dort etwas, das sich in „Auf offener Straße“ wieder zeigt: Die beinahe brutale Nüchternheit, mit der hier Fernsehen gemacht wird. Keine Frage, das war Zeitstil, und wir lassen uns nur ungern davon abbringen (trotz einer Konversation mit Tatort-Macher Werner Gieß, der 1970er („Haferkamp“), der diese Linie nicht ziehen mag, dass sich hier der Autorenfilm ins Fernsehen übertragen hat.
In „Flug in Gefahr“ gibt es noch Ansätze von Identifikationsmöglichkeiten, in „Auf offener Straße“ nicht im Geringsten. Das wirkt heute beinahe unerträglich. Wir wollen diese emotionslose Art zu filmen, die ihrerseits eine Reaktion auf das übertriebene Pathos der NS-Zeit war, welches sich in die 1950er ebenso geschleppt hat wie viele Persönlichkeiten aus der Nazizeit, aber in den Kontext stellen.
Wer die Reportage von Herrn Zimmermann zum Endspiel von Bern kennt, weiß, was wir meinen. Die nationalen Überspitzungen waren zwar weg, aber der Ton und der Duktus waren original 1930er. In den 1960ern veränderte sich der Stil sehr rasch und machte Platz für einen nun betont in die andere Richtung optierenden Reportagestil. Vergleich wir also mal wieder im Fußball: 1966 und 1970 wurden die Fernsehbilder von den Spielen der deutschen Nationalmannschaft so minimalistisch kommentiert, dass es beinahe witzig wirkt – über lange Minuten hinweg wurde nur der Namen des Spielers genannt, der gerade den Ball hatte.
Dies spiegelt sich im vierten Tatort. Dabei ist die Anlage sehr interessant. Der Mord wird gezeigt, dann folgt ein Rücksprung von 36 Stunden und es wird erzählt, wie es zu der Tat kam. Kein Whodunit, aber auch kein Thriller und kaum ein Howcatchem. Sondern eine Täterbeschreibung optischer und seelischer Art. Auch das ist Zeitstil, ganz banale Menschen in den Mittelpunkt von Filmen zu rücken, und je einfacher sie als Charaktere waren, desto besser dienten sie als Anschauungsmaterial. Von wegen, dieser Krimi hat keine Sozialkritik, nur, weil er auf den ersten Blick so hyperrealistisch und nicht kommentierend wirkt. Gerade das ist der Clou, dass wir hier einem Menschen auf dem Weg ins Verderben folgen, der dieser Welt nicht gewachsen ist und besser auf seinem Schiff geblieben wäre. Da gibt es keine besonders bösen Menschen, nur einige, die recht materialistisch denken.
Das Cha-Cha-Cha steht im Grunde sinnbildlich für eine ganze Raffzahn-Gesellschaft, in der alles gekauft werden kann, auch Gefühle. Und wer kein Geld hat, der kriegt auch keine Gefühle. Und, ehrlich, da ist doch was dran. Heute genauso wie 1971. Das Animierlokal mit dem roten Licht ist ein Kosmos, in dem die Ausbeutung fröhliche Urständ feiert. Dies zu einer Zeit, in der die Arbeitswelt kaum noch Ausbeutung kannte und der heutigen weit voraus war. Demgemäß ist auch der Chef unseres Zufallstotmachers ein gutmütiger Kerl, der Vorschuss zahlt. Aber auch das Schiff ist keine heile Welt, denn der Kollege von Hubert pflegt Dienstanweisungen mit den Fäusten zu untermauern. Hubert selbst ist ein echter Süßwassermatrose. Versonnen, versponnen, hermetisch, sensibel, unrealistisch und damit in grellem Gegensatz zum Filmstil stehend.
Und damit auch Anklänge ans Dokumentarische aufweist. Ökonomisch ist diese Erzählweise ganz sicher, wenn man Erzählökonomie als viel in wenig Zeit reinpacken versteht. Heute verdecken die wiederentdeckten Emotionen den Blick fürs Wesentliche. Vielleicht ist das gut so, denn 1971, als alle einigermaßen sicher leben durften, war Raum für nüchterne Analyse und den Wunsch, mehr zu erfahren und tiefer zu denken. Heute sind alle froh, wenn sie in Ruhe ihrem Eskapismus frönen dürfen (geschrieben 2015, wohlgemerkt, Anm. 2023).
„Auf offener Straße“ ist kein dummer Film, nur, weil die auftretenden Menschen keine Einsteins sind. Nein, der Täter ist ein Opfer der Umstände. Und damit hat die ARD immerhin ein Muster erstellt, das bis heute wichtig im Tatort ist: Das Verständnis für den Täter ist sehr ausgeprägt und häufig bemitleidet man ihn, anstatt ihm wegen seiner Tötung(en) zu zürnen.
Die späten 1960er und die frühen 1970er waren auch der Beginn der sozialpädagogischen Aufklärungsarbeit in Deutschland, und die neue ARD-Flaggschiff-Reihe stellte sich wie selbstverständlich in den Dienst dieser Arbeit. Die ebenso scheußliche wie plakativ dargestellte Herzlosigkeit des Hundebesitzer-Ehepaares, das nicht einmal die Frau des getöteten Mannes besucht, der sich für den Hund eingesetzt hat, ist eine ganz starke Anklage gegen die Gedankenlosigkeit der Gesellschaft, die Reaktionen von Tatzeugen gehen auch in eine später häufig dargestellte Richtung, die etwas von mangelnder Zivilcourage der Mehrheit erzählt. Die Funktion der Cha-Cha-Cha-Bar in diesem Zusammenhang haben wir erwähnt.
Es gibt eine weitere Linie, die hier erkennbar ist. Und zwar rückwärts, zu den Stahlnetz-Filmen der späten 1950er und bis etwa Mitte der 1960er. Im Grunde ist der Tatort ja die Nachfolge-Reihe von „Stahlnetz“. Jetzt in Farbe und im beschriebenen neuen, sehr sachlichen Stil gehalten. Aber das Dokumentarische, das ist noch deutlich sichtbar und konzeptionell gedacht. Es hat sich gegen die viel erfolgreichere Machart von Filmen wie „Saarbrücken, an einem Montag“ letztlich nicht in die spätere Tatort-Zeit gerettet.
Finale
Es ist offensichtlich, dass der Zuschauer nicht in diesen Film hineingezogen werden soll, sondern ihn analytisch betrachten und die Mechanismen, die hier wirken, damit ein im Grunde harmloser Mensch zum Tötenden werden kann, erkennen soll.
Dem ordnet sich der Fall als solcher klar unter und ist komplett zum Vergessen, was Handlungsführung und Komplexität, was Tempo und furiose Ermittlungsarbeit angeht. Insofern gibt es doch eine Parallele zu heutigen Tatorten: Die Chance, Anliegen und Botschaften an ein so großes Publikum zu bringen (in den 1970ern hatte die Reihe Einschaltquoten um 60 % – betont sei aber, bei nur einem weiteren Hauptsender zur Auswahl), diese Chance ließen sich die Macher nicht entgehen und machten von Beginn an Politik mit einer Krimi-Reihe. Das sichert Tatort-Filmen aller Generationen ihre überragende Stellung als Zeitdokument, weit mehr als die meisten Spielfilme, die im Vergleich zu Tatorten wie „Auf offener Straße“ viel mehr fiktional wirken und auch ein wenig mehr „überzeitlich“.
Trotz der psychologischen Stimmigkeit des Films und dem, was er uns erzählt und trotz der Musik in der Cha-Cha-Cha-Bar, die echtes Familien-Feeling aufkommen lassen, weil diese zwischen Light-Pop oder –rock und Schlager angesiedelten Songs nicht nur für diese Zeit typisch waren, nicht nur mit ihrer lustigen, rhythmisch eingängigen Belanglosigkeit in Kontrast zu den Vorgängen in der Bar und zum sich abzeichnenden Drama gesetzt werden, sondern – weil viele dieser Liedchen in der Vinyl-Bibliothek unserer Familie zu finden sind, nebst Tonträgern anderer Musikrichtungen.
Dieses Mal ist es noch schwieriger als beim vergleichsweise modern wirkenden „Saarbrücken, an einem Montag“, ein Votum abzugeben, welches das Alter des Films berücksichtigt, aber seine Krimiqualitäten nicht außer Acht lässt. Es kann dabei nur eine mäßige Wertung herauskommen, denn alles, was wir hier sehen, ist verbesserungsfähig, der Krimiplot aber in so hohem Maß, dass wir bei
5,5/10 steckenbleiben, aller Freude über ein weiteres Teil im großen Tatort-Puzzle zum Trotz.
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
Kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Theo Mezger |
|---|---|
| Drehbuch | |
| Kamera | Willy Pankau |
| Schnitt | Hans Trollst |
| Premiere | 7. Feb. 1971 auf ARD |
| Besetzung | |
|
|
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

