Finanzhilfen für palästinensische Organisationen aussetzen? (Umfrage + Leitkommentar: Terror, Tod, Verantwortung) | Briefing 332 | Geopolitik

Briefing 332 Geopolitik | Israel, Palästina, Hamas, Terror und Vergeltung, internationale Hilfen

Wir haben uns bisher noch nicht in einem eigenständigen Artikel zur Eskalation des Konflikts zwischen der palästinensischen Hamas und Israel geäußert, der uns nun seit fast einer Woche beschäftigt und der mit massiven Terrorattacken auf Israel am Tag nach dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges. Dieser Krieg begann am 6. Oktober 1973. Die jüngsten Angriffe starteten am 7.  Oktober 2023.

Nachdem schon so viel passiert ist, geht es heute um etwa Grundsätzliches, das Civey in dieser Umfrage zur Debatte stellt:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie die Forderung von CDU und FDP, Finanzhilfen an palästinensische Organisationen wegen der Angriffe der Hamas auf Israel auszusetzen? – Civey

Wir müssen dazu auch einige sehr grundsätzliche Dinge aufschreiben, nachdem wir den furchtbaren, ewig wirkenden Nahostkonflikt in unseren Artikeln normalerweise meiden. Zunächst der Civey-Begleittext aus dem Newsletter, der einige Position in der deutschen Politik erklärt:

Seit Beginn der entsetzlichen Angriffe von Hamas-Terroristen auf Israel am Samstag werden Finanzhilfen in die Palästinensischen Gebiete international debattiert. Dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zufolge hat Deutschland 250 Millionen Euro an Investitionen für 2023 und 2024 zugesagt, die etwa in Bildung und Ernährungssicherung der Palästinensergebiete fließen sollen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, forderte am Sonntag, diese finanzielle Unterstützung sofort zu beenden. 

„Der palästinensische Terror, den wir sehen, wurde auch mit deutschen Steuermitteln finanziert”, sagte Schuster in der tagesschau. Auch CDU, AfD FDP plädierten laut Zeit für einen Zahlungsstopp an palästinensische Organisationen. Die EU-Außenminister einigten sich am Dienstag laut rbb-Berichten darauf, die Zahlungen vorerst nicht zu stoppen. Sie kündigten aber eine dringende und gründliche Überprüfung an, um auszuschließen, dass keinerlei EU-Finanzierung terroristischen Organisationen zugutekommt. 

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) begrüßte die Entscheidung am Dienstag in der ARD, da zahlreiche Menschen von der Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser abhängig sind. Die Terroristen der Hamas würden das Leid der Bevölkerung sonst für sich nutzen, betonte sie. Bei einem Besuch in Hamburg forderte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die Hilfe für die Zivilbevölkerung nicht mit der Unterstützung von Terrorgruppen gleichzusetzen, berichtete das Handelsblatt. Gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach er sich gegen einen völligen Stopp der Hilfszahlungen aus.

Wie hoch ist eigentlich die deutsche Hilfe an die Palästinenser?

Deutschland hat für dieses und nächstes Jahr Hilfen für Palästinenser in Höhe von 250 Millionen Euro zugesagt1Diese Gelder sollen unter anderem zur Finanzierung von Entsalzungsanlagen und zur schulischen Bildung von Kindern in den Palästinensergebieten verwendet werden1.

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Zahlungen derzeit aufgrund der jüngsten Hamas-Angriffe auf Israel überprüft werden1Die Bundesregierung hat angekündigt, die deutschen Zahlungen überprüfen zu wollen1.

Im Jahr 2022 stellt das Auswärtige Amt voraussichtlich insgesamt 72 Millionen Euro für die Bevölkerung in den Palästinensischen Gebieten zur Verfügung2Davon sind 65 Millionen Euro für den Bereich Humanitäre Hilfe vorgesehen2Im Jahr 2021 waren es insgesamt rund 94 Millionen Euro2.

Wir waren sehr überrascht, dass gegenwärtig eine Mehrheit von fast 70 Prozent tatsächlich für den vollkommenen Stopp der Hilfen votiert. Wieder einmal machen die Rechten offenbar alles richtig und die Ampelkoalition macht alles falsch. Dieses Mal müssen wir aber Annalena Baerbock zustimmen. Wir haben auch aufmerksam registriert, dass sie, obwohl sie so einseitig prowestlich agiert wie selten ein Außenminister zuvor, nach wie vor die Zweistaatenlösung für Israel und Palästina im Blick hat. Ein erster Ansatz von Weitblick oder eine Sonderthematik, die nicht so recht zu den üblichen Doppelstandards in der deutschen Außenpolitik passen will?

Gerade die Tatsache, dass die AfD für einen Zahlungsstopp plädiert, sollte uns hellhörig machen, denn der Zentralrat der Juden in Deutschland hat bisher die Anbiederungen seitens der AfD zurückgewiesen bzw. seine negative Einstellung zu dieser Partei nicht geändert und wir hoffen, das wird er weiterhin tun, auch in dieser aufgeheizten Situation. Es reicht, dass andere konservative Politiker oder die Springerpresse mit demonstrativem Prosemitismus in Wirklichkeit versuchen, soziale Kämpfe zu diskriminieren, wie wir das während unserer Zeit der Berichterstattung über den Berliner #Mietenwahnsinn erleben mussten.

In Gaza sind auf einem winzigen Gebiet von 360 km² mehr als zwei Millionen Menschen in einem Freiluftgefängnis zusammengedrängt. Das ist die halbe Fläche Hamburgs (1,8 Millionen Einwohner), und selbst dieser Vergleich hinkt. Eine Großstadt, auch eine westliche, moderne Großstadt, kann sich nie selbst versorgen, sondern ist auf Erzeugnisse aus dem Umland angewiesen. Noch viel  mehr gilt das für Gaza, das vom israelischen Umland zumindest offiziell abgeschnitten ist und auch in Richtung Ägypten im Wesentlichen auf illegalem Weg Waren austauscht bzw. von dort bezieht.

Dieses Freiluftgefängnis ist dringendst auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen, ansonsten würde es umgehend zu einer Hungersnot und zu unzähligen Todesfällen kommen. Derweil baut Israel ungehindert Siedlung um Siedlung im nicht zum Staat gehörenden Westjordanland, auf der anderen Seite des eigentlichen Staatsgebiets. Die Siedlerbewegung ist für ihre Radikalität und ihre terroristischen Ansätze bekannt. Trotzdem käme niemand auf die Idee, Israel komplett zu boykottieren. Es gibt zwar den BDS, dieser spielt aber in Deutschland keine Rolle, weil Antizionismus hierzulande zu leicht als Antisemitismus gebrandmarkt werden kann.

Die Genese des Nahostkonflikts ist eines der am wenigstens komplexen Themen der internationalen Politik, aber eines der schwierigsten. Deswegen muss in jedem Artikel, der aus Deutschland kommt, stehen: Wir verurteilen aufs Schärfste die terroristischen Angriffe der Hamas auf Zivilist:innen in Israel. Wir fügen aber hinzu: Der harte, expansive Zionismus, der sich in Israels immer mehr nach rechts tendierenden Regierungen breitmacht, hilft dem Frieden in Nahost selbstverständlich nicht.

Wir könne nicht verlangen, dass Juden in Deutschland, schon gar nicht deren offizielle Organisationen, sich davon distanzieren, denn Israel gilt als die letzte Heimstatt, die einzige Notzuflucht für Juden in aller Welt, nach wie vor. Und es musste in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz immer wieder um diese Existenz kämpfen, mehrfach haben arabische Staaten versucht, das Land auszulöschen. Das muss man berücksichtigen, wenn man die harte Haltung vieler Menschen in Israel bewerten will. Die Frage ist aber, ob das immer so weitergehen kann, dass für diese Region keine Lösung gefunden wird, weil Israel sie nicht zulässt.

Die Fähigkeit der Hamas, einen Angriff wie jenen der vergangenen Woche zu führen, hat fast niemand im Westen vorhersehen können, auch in Israel selbst hätte ihn kaum jemand für möglich gehalten, angesichts der technischen Dominanz und der vorhandenen Sicherheitssysteme. In einer der ersten  Reaktionen aus Israel selbst auf den Hamas-Angriff in der ARD hat aber der bekannte Historiker und Zionismuskritiker Moshe Zuckermann auf eine Fehlstellung im Abwehrsystem hingewiesen, die der Sicherung gegenüber dem Gazastreifen zu wenig Bedeutung zugemessen hat. Die Frage, was man falsch gemacht hat, wird Israels Gesellschaf intern klären müssen.

Wir stehen hingegen auf der Seite der Bevölkerung, und zwar auf beiden Seiten der Grenze zu Gaza. Wir verurteilen die Anschläge der Hamas, aber auch die erbarmungslose Haltung der rechten israelischen Politik gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung, die sich wieder einmal abzeichnet. Die Art, wie die Hamas getötet hat, spielt allerdings auch eine Rolle. Es ist unfassbar barbarisch, was da geschehen ist und noch geschieht, vor allem mit den Geiseln, die in den Gazastreifen verschleppt wurden. Selbst die Ereignisse von 9/11 hatten nicht dieses entmenschlichte Gepräge wie die Tötung kleiner Kinder durch das Abtrennen von deren Köpfen durch die Angreifer der Hamas.

Was ist der Hintergrund für diese über jedes Maß hinausgehende Brutalität? Der politische Hintergrund, dass gerade jetzt wieder Raketen nach Israel abgeschossen werden, lässt sich denken: Machthaber wollen sich zum gegenseitigen Vorteil besser verständigen, zum Beispiel diejenigen von Israel und Saudi-Arabien. Die Bevölkerung, zumindest im Kopf-ab-Staat Saudi-Arabien, wird nicht gefragt, ob sie dahintersteht, schon gar nicht wird die Bevölkerung in anderen ararbischen Staaten gefragt. Und die Palästinenser verlieren durch solche Vorgänge in der Region immer mehr an Unterstützung von offizieller Seite. Sie müssen sich mehr und mehr an das gefährliche Mullah-Regime im Iran halten, und das ist eine fatale Entwicklung. Die Breite einer moderaten, zivilisierten und stabilen Unterstützung im arabischen Raum wäre hingegen wichtig, um die Sache der Palästinenser zu vertreten, eine Haltung, die durchaus Druck einschließt, die aber das Existenzrecht Israels leugnet. Die gegenwärtigen Anschläge sind also einerseits ein Hilferuf aus dem Gazastreifen und ein Sabotageakt an diesem Annäherungsprozess der Machthaber arabischer Staaten und der israelischen Rechtsregierung. Sicher ist das für Israel eine Win-Win-Situation und wir gehen davon aus, dass der Prozess sich nach dem Ende der aktuellen Gewaltexzesse fortsetzen wird. Die wirtschaftlichen und politischen Vorteile dieser Annäherung sind zu verführerisch und zu groß, als dass sie langfristig für eine gerechte Lösung für die Palästinenser nach so vielen Jahren, in denen es keine gab, geopfert würden.

Trotzdem stellt sich die Frage, wem die Hamas mit dieser unglaublichen Brutalität ihres Vorgehens nützen will. Was nun passiert, war, anders als deren Angriff, durchaus vorauszusehen. Israelische Gegenschläge sind in der Regel um ein Vielfaches härter als der Terror, der sie auf der Ebene von Aktion und Reaktion auslöst. Wir dürfen uns darauf einstellen, dass in Gaza noch viele Menschen sterben werden. Die Geiselsituation ist dabei zu bedenken, aber auch die aktuelle Anordnung aus Israel, etwa die Hälfte der Menschen im Gaszastreifen soll evakuiert werden, ist im Grunde ganz logisch: Nur, wenn der Gazastreifen geräumt wird, kann Israel seine politischen Ziele durchsetzen, die erschreckenderweise ein Echo der eigenen Geschichte sind. Die Palästinenser haben überhaupt kein eigenes Gebiet mehr, und sei es noch so klein, sondern werden in alle Winde zerstreut. Wie man das erreicht, darüber macht sich die israelische Politik mit Sicherheit schon lange Gedanken.

Auch die tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft wird auf diese Weise vorerst überdeckt, Stichwort „Regierung der nationalen Einheit“, in der politische Kräfte vertreten sind, deren Ansichten in etwa so weit auseinanderliegen wie die aller Parteien im deutschen Bundestag inklusive der AfD. Und Premiere Benjamin Netanjahu wird dafür gescholten, dass er die Sicherheit vernachlässigt haben soll, nicht etwa für seinen konfliktorientierten Rechtskurs. 

Was nun passiert, nützt, abgesehen von den Menschen, die geopfert worden sind, ausschließlich Israel und nicht den Palästinensern. Deswegen ruft die Hamas auch dazu auf, die Häuser nicht zu räumen und auch Menschenrechtsorganisationen wenden sich dagegen. Die Fanatisierung der Hamas-Terroristen, die wir vom islamischen Terrorismus der Selbstmord-Attentäter her kennen, die auch in Europa schon Anschläge verübt haben, schadet der Sache der Palästinenser auf jeden Fall, schon jetzt, kurzfristig, und natürlich auf längere Sicht noch mehr.

Wir müssen aber davor warnen, besonders an die Adresse der üblichen Verdächtigen von der verschwörungstheoretischen Fraktion gerichtet, nun einfach „Cui bono?“ zu fragen und sagen: Der Nutznießer dieser Eskalation steht fest, also handelt es sich wohl um eine sehr groß angelegte False-Flag-Aktion. Das wäre das Argumentationsmuster, das nach 9/11 aufkam: Dass die USA und Israel ein Interesse an diesem Terroranschlag hatten und ihn daher in Wahrheit selbst ausgeführt haben. Wir glauben im Fall des Hamas-Angriffs nicht an diese Möglichkeit, sondern halten ihn für echt und für vollkommen inadäquat im Hinblick auf die palästinensischen Interessen und für einen großen Fehler. 

Wegen dieses Angriffs kann man nun aber nicht 2,3 Millionen Menschen von der Versorgung abschneiden, die sie selbst nicht leisten und niemals werden leisten können, weil der Gaszastreifen nicht für die Selbstversorgung geeignet ist. Schlimm genug, dass man diese Menschen alle dort zusammengepfercht hat. Auch moderate Kommentatoren in Deutschland, die nicht im Verdacht stehen, israelfeindlich zu sein, haben es in etwa so beschrieben: Junge Männer in Gaza haben nur die Wahl zwischen Dahinvegetieren in von außen künstlich erzeugter Armut und der Radikalisierung als Hamas-Kämpfer.

Es ist erstaunlich und ein großer Erfolg der internationalen humanitären Hilfe, dass der Gaza-Streifen trotz der prekärsten  Voraussetzungen aller Territorien auf dieser Welt nicht zu jenen Gegenden gehört, in denen es am meisten Hunger, Unterernährung und die schlechteste medizinische Versorgung gibt. Diesen Erfolg kann man nicht hoch genug einschätzen. Wären die Bedingungen dort noch schlechter, wäre auch die Terrorgefahr noch größer.

Kommt also alle Hilfe aus dem Westen nur dem Hamas-Terrorismus zugute? Ganz sicher nicht. Dass davon etwas abgezweigt wird, ist wohl nicht zu vermeiden. Wollte man das verhindern, müsste man den Gaza-Streifen komplett unter internationale Kontrolle bringen. Vielleicht wäre das sogar eine Lösung, aber zur Identität der Menschen dort gehört auch, dass sie immerhin eine eigene Regierung wählen dürfen. Dass sie dabei die Hamas bevorzugen gegenüber der abgehalfterten und korrupten Fatah, die international nichts mehr für die Menschen dort bewirken kann, ist nicht unverständlich. Das sind keine ausgefuchsten taktischen Überlegungen, sondern die traumatischen Erfahrungen aus jahrzehntelanger Repression und Ungerechtigkeiten, die die Hams so stark machen und offenbar viel stärker als gedacht.

Naiv ist es hingegen, zu glauben, dass die Einstellung der Hilfe für den Gazastreifen den Terror beseitigt, denn wir wissen, dass er z. B. vom Iran unterstützt wird. Wir halten es auch nicht für ausgeschlossen, dass Saudi-Arabien diesbezüglich ein Doppelspiel betreibt, Annäherung an Israel einerseits und verdeckte Weiterfinanzierung des Terrors andererseits. Naiv ist es auch, man könne die Hamas oder gar die Hisbollah dadurch eliminieren, dass man den Gazastreifen aushungert. Einen Fläcchenbrand hingegen gilt es unbedingt zu vermeiden.

Die Menschen in Gaza allesamt der Todesgefahr auszusetzen, kann demnach nicht die Lösung sein, deshalb ist der Appell an Israel, sich nicht mit Terroristen gemein zu machen und regelbasiert zu handeln, bei seinen Gegenschlägen, richtig, so schwer oder gar unerträglich es für Betroffene und für alle Freund:innen Israels sein mag. Wir würden gerne sehen, dass Israel das Maß der Dinge wahrt, nicht zur Vertreibung von über 2 Millionen Menschen übergeht und im Anschluss den Gazastreifen annektiert. Diese Diaspora wird die Welt auch nicht sicherer machen, das sollten wir vor allem im Westen bedenken. Keiner der islamistischen Anschläge, die im Westen stattfanden, wurde im Gazastreifen geplant und von dort aus ausgeführt, aber wir werden viele Gelfüchtete, nun vollkommen Heimatlose aufnehmen müssen, die von beispiellosem Hass auf Israel geprägt sind.

Asylantrage von dieser Seite wird man hierzulande schwerlich ablehnen können, sofern dieser Hass nicht schon bei der Antragstellung geäußert und dadurch sichtbar wird.

Dass Politiker, die nicht besonders menschenfreundlich veranlagt sind, nun Punkte durch Radikalforderungen wie der totalen Versagung der Hilfe an die Palästinenser machen wollen, entspricht nicht unserem Verständnis von Verantwortung. Auch nicht unserem Verständnis von Verantwortung für die deutsche Vergangenheit, das ein „Nie wieder“ in jeder Hinsicht ausschließt, sei es, dass Juden noch einmal entrechtet werden wie in Deutschland, wo dies vor 90 Jahren begann, dass um ihr Leben fürchten oder Millionen von ihnen es gewaltsam genommen wird. Dieses Verständnis von Verantwortung schließt aber auch jede Form von Genozid, gleich, von wem er ausgeführt wird. Wir reden oder schreiben viel zu selten darüber, wo überall das passiert, wie zum Beispiel über die aktuellen Vorgänge in Bergkarabach. Wir schreiben auch selten über den Nahostkonflikt, sonst müssten wir auch dessen Ursachen analysieren. Um es so vorsichtig wie möglich auszudrücken: Wir sehen nicht, dass in Israel überwiegend Verständnis für die eigene historische Verantwortung herrscht. Auch dort gibt es viele Radikale und Rechte, die nicht friedlich gestimmt sind. Bis vor einigen Jahren hätten wir es so formuliert: Es ist nicht die Mehrheit, wie bei uns. Aber angesichts der aktuellen Regierungskonstellation, die ja von Menschen gewählt wurde bzw. der von ihnen zur Mehrheit verholfen wurde, sind wir da nicht mehr sicher. Diese Regierung, auf unsere Verhältnisse übertragen, vertritt in Teilen Positionen, die weiter rechts sind als die der AfD. Mithin müssten diese israelischen Parteien bei uns vom Bundesverfassungsgericht verboten werden.

In der Bibel ist nur den Christen anempfohlen, die andere Wange hinzuhalten, aber gerade die Christen haben sich daran nie gehalten, vor allem diejenigen in Deutschland nicht, desweiteren in ganz Europa nicht. Wer gerade stärker war oder sich so fühlte, überfiel die anderen. Wir können schon gar nicht einem Volk ansinnen, die andere Wange hinzuhalten, das so gepeinigt wurde wie die Juden über Epochen hinweg und gerade in Deutschland. Wir können aber wohl darum bitten, Unschuldige so weit wie möglich aus der Vergeltung herauszuhalten, auch wenn Unschuldige in Israel getötet wurden.

Vor allem können wir uns dafür aussprechen, dass nun nicht eine Kollektivvergeltung an über 2 Millionen Menschen vorgenommen wird. Sicherlich gibt es unter ihnen viele Hamas-Unterstützer:innen verschiedenen Grades, auch aktive Helfer:innen. Auch die Palästinenser haben sich eine sehr rechte Regierung gewählt, wenn man sie in dieses Schema einordnen will. Die Faschisierung der Welt schreitet voran, weil einfach kein innerer und äußerer Frieden herrscht.

Ein Grund dafür liegt auf einer anderen Ebene, nämlich auf dem Wesen der Gesellschaften im Inneren, das sich natürlich auch in der Außenpolitik niederschlägt. Frieden kann aber keinesfalls herrschen, solange Völker massiv unterdrückt werden. Aus dieser Überlegung heraus sollte Europa, sollte die Welt dafür sorgen, dass der Gazastreifen weiterhin zumindest mit den akut lebensnotwendigen Gütern versorgt wird. Die deutsche Hilfe ist ohnehin nicht riesig, wenn man die Ausgaben in anderen Bereichen dagegenstellt, etwa jene für die aktuelle Aufrüstung.  

Uns ist es nicht besonders angenehm, dass wir gegenwärtig bei einer Minderheit von nur 12 Prozent sind, die klar sagt, die Hilfen für die Menschen im Gazastreifen müssen fortgesetzt werden. Sind alle anderen Freunde und Freundinnen Israels und wir nicht? Wir interpretieren die Zahlen anders: Bei uns gibt es mittlerweile sehr viele Menschen, die mit dem Begriff humanitäre Hilfe gar nichts oder nichts mehr anfangen können und es ist interessant, dass weitaus weniger Menschen die Fortsetzung dieser Hilfe befürworten, als es Menschen mit rechter bis rechtsextremer Einstellung in Deutschland gibt. Auch die verbreitete Islamfeindlichkeit und Feindlichkeit gegenüber Menschen aus dem arabischen Raum ist hat das gegenwärtige Ergebnis sicher beeinflusst. Gegen die einen zu sein, heißt aber nicht, solidarisch mit den anderen zu sein.

Gut, dass wir auch nicht alles vorhersehen können, nämlich die in dem Fall verdächtige überwiegende Hilfe-Ablehnung für Menschen in wirklicher Not. Sonst hätten wir vielleicht opportunistisch mit „unentschieden“ gestimmt und den Artikel dialektischer angelegt. Gut, dass wir das nicht getan haben. Im deutschen Recht gibt es aus wohlerwogenen Gründen keine Kollektivstrafe. Nur Täter können für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, nicht etwa ein Dorf, eine Stadt, ein Land.

Dieses Rechtsprinzip ist ein Grundbestandteil der Zivilisation. Wer wüsste besser als wir in Deutschland, wie es ist, wenn die Zivilisation zusammenbricht. Wir sind unendlich dankbar dafür, dass unsere Vorfahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht pauschal verurteilt und als Angehörige des Tätervolks hingerichtet wurden, nicht einmal jene Angehörigen, die in der Wehrmacht tätig waren, sondern, dass die individuelle Schuld erwiesen sein musste, um eine Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewirken. Dieses Prinzip einer zivilisierten Gesellschaftsordnung, das unser Leben erst ermöglicht hat, möchten wir auch auf die Menschen im Gazastreifen und überall auf der Welt angewendet wissen, wo Konflikte in Gewalt umschlagen.

Wir hoffen, dass sich ein Terroranschlag wie der aktuelle auf Israel niemals wiederholen wird und glauben, dass das Anliegen gerechtfertigt ist, dies aktiv verhindern zu wollen. Wir glauben außerdem, dass man kein leidgeprüftes Volk alleinlassen darf. Das gilt für Israel und die Nachkommen der Opfer des Holocausts und für alle Opfer von Terrorismus, Gewalt und Repression jedweder Art.

TH

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