Wehrpflicht wieder einführen? (Umfrage + Zusatzinfos + Kommentar) | Briefing 358 | Gesellschaft, Geopolitik, PPP (Politik, Personen, Parteien), Demokratie in Gefahr

Briefing 358 Gesellschaft, PPP, Geopolitik, Bundeswehr, Wehrpflicht-Wiedereinführung, Gemeinschaftsaufgabe, Demokratie in Gefahr

Wir müssten noch einmal nachschauen, wie wir uns im Jahr 2011 geäußert haben, als die Wehrpflicht abgeschafft wurde – und ob wir dazu überhaupt geschrieben haben. Vermutlich ja. Aber wir sind zwölf Jahre weiter.  Und wie denken Sie über die Wiedereinführung der Wehrpflicht? 

Civey-Umfrage: Sollte Deutschland Ihrer Ansicht nach die Wehrpflicht wieder einführen? – Civey

Begleittext aus dem Civey-Newsletter:

Seit dem Russland-Ukraine-Krieg gibt es regelmäßig Debatten über die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat letzte Woche neue verteidigungspolitische Richtlinien angekündigt. „Kriegstüchtigkeit” sei nun die Handlungsmaxime, nach der künftige Strategien für die Armee umgesetzt würden, erklärte Pistorius am Donnerstag laut ntv in Berlin. Ziel müsse sein, die jahrzehntelang vernachlässigte Bundeswehr wieder auf ihren Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten. 

Der Bundeswehrverband warnte letzte Woche davor, dass die deutsche Armee den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen sei. Besonders das Thema Wehrhaftigkeit bereite dem Verband angesichts der Personalnot Sorgen. „Die Bundeswehr muss personell spätestens Ende kommenden Jahres den Abwärtstrend stoppen”, forderte der Verbandschef André Wüstner in der Rheinischen Post. Wenn das nicht gelingt, müsse die Politik „sich über ein Dienstjahr oder die Wehrpflicht Gedanken machen”. 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte skeptisch. Die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 habe ihn durchaus überrascht, sagte er laut Welt am Freitag bei der Bundeswehrtagung in Berlin. Nun gebe es aber eine neue Struktur der Streitkräfte ohne Wehrpflicht. Daher wäre es „keine gute Idee, das alles wieder rückabzuwickeln“. Zur personellen Stärkung der Bundeswehr wolle man zudem auf „intensiveren Einsatz von Reservisten“ setzen. Dies sei „jetzt die Aufgabe“ und er habe „den Eindruck, dass das vorankommt“. 

Das Neuste aus der Diskussion:

„Pistorius hatte betont, dass die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden müsse. Sowohl der linke SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner, als auch der Vorsitzende des Europaausschusses, Anton Hofreiter (Grüne), hatten sich von Pistorius Wortwahl distanziert. Am Montag folgte auch eine Schelte von CSU-Chef Markus Söder.“ „Krieg ist hässlich“: Pistorius reagiert auf herbe Kritik – „Verstehe, wenn man Begriff nicht mag“ (msn.com)

Bei Ralf Stegner als einem der linkeren SPD-Politiker kommen wir noch mit, aber dass Anton Hofreiter, einer der ausgewiesenen grünen Kriegsrhetoriker in Sachen Ukraine, den Begriff „Krieg“ zu derb findet, kann ein Schmunzeln hervorrufen, wenn man Humor hat, ansonsten führt es zu Kopfschütteln.

„Nachträglich räumte der Verteidigungsminister in der ARD ein: „Ich verstehe, wenn man den Begriff nicht mag. Das ist ein hässliches Wort für eine hässliche Sache. Krieg ist hässlich.“ Dennoch blieb er bei seiner Aussage: „Aber wenn wir ihn verhindern wollen, müssen wir einem potenziellen Aggressor sagen: Wir sind verteidigungsfähig.“ Abschreckung könne man nur gewährleisten, wenn man sich aus einer Position der Stärke verteidigungsbereit zeige. Keinesfalls sei damit gemeint, dass man einen Krieg anstrebe: „Das ist das Letzte, was ich will: einen Krieg führen.““  (Quelle s. o.)

Die Bundeswehr umfasst derzeit 183.000 Soldat:innen. Das sind ähnlich viele wie in anderen großen europäischen Ländern (Frankreich 203.000, das Vereinigte Königreich 190.000, Italien 177.000). Die EU insgesamt kommt auf ca. 1.4250.000 Militärpersonen, ähnlich wie die USA (1.372.000) und Russland (1.207.000). Die zweitgrößte europäische Armee hat gegenwärtig die Ukraine mit ca. 335.000 Soldaten. Liste der Streitkräfte – Wikipedia

Gibt es in anderen europäischen Ländern eine ähnliche Wehrertüchtigungsdiskussion wie in Deutschland und ist die Größe der Armee tatsächlich entscheidend, um diese zu beurteilen? Viele europäische Länder haben ihre Streitkräfte reduziert, ohne dass, wie in Deutschland, das Gefühl zu bestehen scheint, die Armee sei zu klein. Zumindest bei uns ist aber klar, woher dieses Gefühl kommt. Vor der Wende lag die Sollstärke der Bundeswehr bei 495.000 Soldaten (damals noch ohne Frauen), hinzu kam die NVA mit ca. 180.000 Soldaten (Zahl der 1980er Jahre). Personalbestand der Bundeswehr bis 2022 | Statista / Die Nationale Volksarmee der DDR | Deutsche Verteidigungspolitik | bpb.de

Beide deutsche Staaten hatten die Wehrpflicht, in Deutschland standen zu der Zeit 675.000 Mann unter Waffen, hinzu kam eine große Zahl von Reservisten. Das waren ca. 8,3 Promille der Bevölkerung, heute sind es noch 2,2 Promille. In der Tat kam es nach der Aussetzung der Wehrpflicht mit dem Stichjahr 2012 zu einem Rückgang der Größe der Bundeswehr um ca. 20 Prozent, seitdem ist ihre Stärke aber recht stabil.

 Wir zweifeln daran, dass die Wehrtüchtigkeit in den Zeiten der Hochtechnologie noch so sehr wie in den 1980ern von der Personalstärke einer Armee abhängt. Große Armeen verschlingen notabene sehr viel Personalkosten, die man vielleicht besser in moderne Technik investieren würde und sie werden nie wirklich eingesetzt. Die größte Armee der Welt hat China, auch wenn sie keinen höheren Anteil an der Bevölkerung hat als in Deutschland (2.200.000 Personen, 1,5 Promille der Bevölkerung). Die vergleichsweise große US-Armee (4,11 Promille) verteilt sich unter anderem auf viele Auslandsstützpunkte, die andere Länder in der Form nicht betreiben.

Die Rüstungsausgaben steigen weltweit seit vielen Jahren, ohne dass die Personalstärke der Armeen entsprechend zunehmen würde. Nun beteiligt sich auch Deutschland verstärkt an der Rüstungsspirale und die Rückstände des Landes in anderen Bereichen werden in Zeiten chronischer Unterfinanzierung vieler wichtiger Gemeinschaftsaufgaben noch größer werden. Wir hatten seinerzeit die Notwendigkeit des Sondervermögens Bundeswehr angezweifelt, wohl aber eingeräumt, dass die technische Ausstattung in Ordnung gebracht werden muss. Inwiefern schlechtes Management bei gegebenem Rüstungsbudget für den aktuell nach Ansicht vieler so schlechten Zustand der Bundeswehr verantwortlich ist oder ob sie wirklich zu wenig Geld bekommt, können wir an dieser Stelle nicht klären. Fakt ist, dass Frankreich und Großbritannien, die ähnlich hohe Rüstungsetats haben wie Deutschland, in Relation zur Größe ihrer Volkswirtschaften mehr ausgeben, mithin hatten wir uns nicht generell gegen eine Steigerung des Wehretats ausgesprochen.

Fest steht, dass die Bundeswehr einen im Vergleich zu anderen größeren Ländern einen eher geringen Anteil an Materialbeschaffungskosten hat: 20190625_PR2019-069-EN.pdf (nato.int). Im Jahr 2019 waren es 17 Prozent des Etats, in Frankreich ca. 24 Prozent in den USA 27,5 Prozent.

Skeptisch sind wir gleichwohl gegenüber dem Versprechen der Regierung Merkel,  das sogenannte NATO-Ziel von 2 Prozent des BIP für die Rüstung zu erreichen. Die NATO-Staaten haben insgesamt ein Rüstungsbudget von weit über einer Billion Dollar, mit weitem Abstand folgt China, das, allerdings rasch wachsend, auf ca. 300 Milliarden Dollar kommt. Die europäischen Staaten der NATO und auch die USA steigern ihre Rüstungsetats seit Jahren sukzessive, mittlerweile trifft das auch auf Deutschland zu. Von 2015 auf 2022 gerechnet, stiegen die Rüstungsausgaben hierzulande um nicht weniger als 46 Prozent. Militärausgaben von Deutschland bis 2022 | Statista. Wie bei allen Vergleichen kommt es aber auch auf die Vergleichszeitpunkte an. Im Jahr 1990 lagen die Rüstungsausgaben nominell höher als im Jahr 2015, das heißt, sie gingen real erheblich zurück. Trotzdem ist die Steigerung in den letzten Jahren beachtlich, die sich aktuell fortsetzen wird. Lediglich 2022 gab es einen leichten Rückgang gegenüber 2021.

Nun käme eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht so teuer, wie man vielleicht denken könnte, wenn man die Wehrpflichtigen quasi wie Azubis bezahlen würde, wie es in den 1980ern der Fall war. Sollte man meinen, aber Unterbringung  und Verpflegung treten natürlich hinzu. Das muss bedacht werden, wenn man sich für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ausspricht. Aufgrund der kleineren Jahrgänge würde aber auch eine Wiederführung heute bei Weitem nicht mehr zu einer Stärke der Streitkräfte wie in den 1980ern führen. Wir sehen die Notwendigkeit eines solchen Ausbaus auch nicht als prioritär an, sondern die erwähnte Modernisierung.

Es gibt jedoch ein anderes Argument für die Wehrpflicht.

Wegen dieses Arguments haben wir mit „eindeutig ja“ gestimmt, wie derzeit fast 56 Prozent derer, die sich schon an der Umfrage beteiligt haben.

In der Zeit, als wir unseren Wehrdienst abgeleistet haben, war die Bundeswehr eine sogenannte Bürgerarmee. Man konnte zwar den Dienst an der Waffe verweigern, es gab sogar Fälle von jungen Männern, die zwar bei der Truppe waren, aber nicht an Schießübungen teilnahmen, aber grundsätzlich galt die Dienstpflicht für alle und der Zivildienst war die Ausnahme von der Wehrpflicht als Grundpflicht. Jedenfalls aber gab es eine Dienstpflicht, sofern man nicht von der Wehrdienstkommission als aus gesundheitlichen Gründen untauglich eingestuft wurde. Die Kommission war dabei relativ großzügig, um nicht zu vielen jungen Menschen die Beteiligung an der Verteidigungsbereitschaft vorzuenthalten.

Ob man Zivildienst oder Wehrdienst leistete, man nahm an einer Gemeinschaftsaufgabe teil und musste sich mit seiner Stellung in der Gemeinschaft auseinandersetzen. Das fällt in der heutigen Zeit, in der Kinder von ihren Eltern tendenziell in ihren narzisstischen Bestrebungen eher gestärkt als gebremst werden, seit mehr als 10 Jahren komplett weg. Wir halten das für eine von vielen Fehlentwicklungen in Deutschland, die dazu führen, dass der Gemeinsinn schwindet. Die Verzahnung zwischen Dienstleistenden und der Gesellschaft schwindet. Eine Berufsarmee ist immer mehr Staat im Staat und weniger eng an die Gesellschaft angekoppelt als Streitkräfte, die sich (beinahe) aus dem Querschnitt der Gesellschaft speisen, die in den meisten Famillien also zu einem bestimmten Zeitpunkt thematisiert werden und präsent sind.

Auch zu unserer Zeit haben vor allem junge Männer aus dem linken Spektrum den Wehrdienst verweigert, aber bei weitem nicht alle, sodass die Bundeswehr weit mehr als heute die Gesellschaft im Ganzen gespiegelt hat. Das galt auch für den sozialen Status, denn Freikaufen durch reiche Eltern, wie bei anderen Armeen der Welt, war damals kein Thema, und anders als zum Beispiel bei der US-Armee dienten nicht vor allem ärmere und ungebildete Männer, die in der Armee eine  Aufstiegsschance aus dem Prekariat sehen. Im Gegenteil, man wurde, je nachdem, zu welchem Jahrgang man gehörte, zwischen 12 und 18 Monate davon abgehalten, seinen Berufsweg weiterzuverfolgen oder ins Studium einzusteigen. Wenn man so will, lag darin sogar mehr Geschlechter-Gerechtigkeit, da Frauen keine Dienstpflicht in irgendeiner Form zu leisten hatten.

Zu den vielen Gefahren, denen die Demokratie heute ausgesetzt ist, zählt auch die Berufsarmee Bundeswehr. Die Vorfälle von Rechtsextremismus häufen sich dort nicht zufällig in den letzten Jahren, denn die Beschaffenheit der Armee spiegelt heute eben nicht mehr die Bevölkerung, sondern zieht, wie bei anderen Berufsarmeen, vor allem Charaktere an, die Autorität gegenüber einer demokratischen Kultur bevorzugen und generell eher rechte Einstellungen haben. Es würde uns sehr interessieren, wie die innere Führung der Bundeswehr unter diesen Voraussetzungen heute gehandhabt wird. Diese Führung war zu  unserer Zeit selbstverständlich auf die Gegnerschaft zum Ostblock ausgerichtet, in der NVA also umgekehrt, aber im Weten auch an der Demokratie, an der Verteidigung der Freiheit, ohne dass eine Armee an sich demokratisch geführt werden kann, das wird es auch niemals geben.

Aus Gründen der Demokratie und des Gemeinsinns haben wir uns also klar für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgesprochen. Ob sie noch der Grundtatbestand sein muss, wie damals, als wir eingezogen wurden, ist damit nicht ausgesagt. Wir hatten uns bei einer früheren Umfrage aber schon generell für eine Dienstpflicht ausgesprochen.  Allgemeine Dienstpflicht | Immer noch aktuelle Themen, neu aufgesetzt.

Grundsätzlich ist das Thema, junge Menschen generell an einer Gemeinschaftsaufgabe teilnehmen zu lassen, sei sie militärisch oder zivil ausgerichtet, also nicht ganz neu. Es gibt u. E. viel mehr Argumente für eine solche Pflicht als dagegen. Die Erfahrungen, die man dabei macht, sind keine verlorene Zeit. Im Gegenteil, es ist eine intensive und erlebnisreiche Zeit mit vielen Kontakten, die man in seiner eigenen Blase nie geknüpft hätte. Gerade zivile Aufgaben führen auch zu vielen Einblicken in die Notwendigkeiten einer funktionierenden Gesellschaft. Stand heute würden wir ein Modell mit gleichberechtigter Wahlmöglichkeit zwischen Wehrdienst und Zivildienst befürworten, ohne dass man sich für seine Wahl rechtfertigen muss.

Gerade in einer Gesellschaft, die immer weiter nach Herkunft, Sozialstatus, Lebensmodellen, Milieus usw. fragmentiert ist, ist eine Dienstpflicht eine wichtige Klammer, auch für die späteren Gemeinsamkeiten in der persönlichen Erzählung der Mehrheit, die durch Schule oder Beruf nicht hergestellt werden können.

Für die Zeit der Dienstpflicht herrscht das höchste Maß an sozialer Gleichheit, das in der heutigen Gesellschaft umsetzbar ist. Dieses Erlebnis von Gleichheit, Eingebundenheit und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei der Ausübung einer wichtigen, ja unabdingbaren Gemeinschaftsaufgabe, dies unabhängig von der Herkunft eines jungen Menschen, halten wir für unbedingt demokratiefördernd und positionieren uns deshalb hier so eindeutig wie in diesen Zeiten des Dahinschwindens von ethischen Sicherheiten im Krisen- und Kriegstreiben der Welt nicht mehr bei allen Themen.

Auch wir stellen den Begriff Krieg nicht in den Vordergrund unserer Rhetorik, wie der Artikel belegt haben dürfte, wir sind unbedingt dafür, Kriege zu vermeiden. Wir sehen das Maß der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nicht in erster Linie als mögliches Ergebnis einer höheren Personalstärke an, aber wir erkennen etwas anderes: die Chance, in der Bevölkerung wieder etwas zurückzugeben von den verlorenen Gemeinsamkeiten, die sie benötigt, um nicht immer mehr auseinanderzudriften.

TH

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