Crimetime 1188 – Titelfoto © SDR, Jehle
Schwabenwohlstandsgipfelzeit
Himmelblau mit Silberstreifen ist ein deutscher Fernsehfilm von Fritz Eckhardt und Theo Mezger. Die 71. Episode aus der Fernsehreihe Tatort wurde vom Süddeutschen Rundfunk produziert und am 30. Januar 1977 im Deutschen Fernsehen zum ersten Mal ausgestrahlt. Die Handlung ist, verglichen mit heutigen Fernsehgewohnheiten, eher schlicht; allerdings enthält der Film kammerspielartige Elemente und erlaubt ein Wiedersehen mit der damaligen Ersten Riege schwäbischer Volksschauspieler.
Wir schreiben Januar 1977. Der deutsche Herbst ist noch ein dreiviertel Jahr entfernt und Hauptkommissar Lutz löst im schwäbischen Weilerburg seinen siebten von sechzehn Fällen. Gedreht wurde offensichtlich im Sommer 1976 und der Kleinstadtduft jener Zeit zieht durch diesen Krimi wie der von frischen Brötchen durch die Backstube. Doch wer hat den Grundstücksmakler ermordet? Wir haben anlässlich der Veröffentlichung des Textes acht Jahre nach dem Entwurf ein wenig mehr als üblich von der Einführung der Wikipedia aufgenommen, weil es in der –> Rezension auch um das Volksschauspielern und das Nicht-Volksschauspielern geht.
Handlung (1)
In der Kleinstadt Weilerburg wird ein reicher Mann in seinem Bungalow erschlagen. Die Leiche Paul Seiferts wird am frühen Morgen von seinem Bruder Erwin Seifert vor dem aufgebroche-nen Wandsafe gefunden. Kommissar Lutz hat wenig Anhaltspunkte für die Suche nach dem Täter. An einen Raubmord möchte Lutz nicht glauben, denn der Täter besaß entweder selbst einen Hausschlüssel oder wurde von Paul Seifert hineingelassen. Der Tote hatte wenig Freunde. Selbst mit seinem Bruder scheint er nicht gut ausgekommen zu sein. Erwin Seifert betreibt zusammen mit seiner Frau im Zentrum des Städtchens ein kleines Fotogeschäft. Weder seine Ehe noch seine Geschäfte gehen gut. Andere Angehörige hatte der Tote nicht, Erwin ist also der vermutliche Erbe. Der Nachbar des Toten, Herr Enderle, war wenige Stunden vor der Tat noch bei ihm in der Wohnung, angeblich um ein entliehenes Buch zurückzugeben. Schlüssel zum Haus hatten die Haushälterin, Frau Kollmann, und der Bruder Erwin Seifert.
Rezension
Wir wussten bisher nicht, dass der Wiener Oberinspektor Marek auch Drehbücher geschrieben hat, aber wenn Fritz Eckhardt draufsteht, muss auch Fritz Eckhardt drin sein, dachte er wohl, und gestand sich eine Gastrolle zu. Als eine Art Zufallszeuge – nicht des Verbrechens selbst, aber einiger Details, an die er sich aber schlussendlich nicht genau erinnert. Auf einem Aussagefehler seinerseits beruht auch eine zeitliche Differenz, die interessanterweise kaum thematisiert wird. Dabei hätte man daraus etwas Spannendes machen können.
In jenen Jahren, in denen der Lutz beim Frühstück ermittelte, gab es selten Schaubilder mit den Verbindungen aller Verdächtigen zueinander zu bewundern, mit Zeitschienen und allen möglichen schlauen Ermittlungsergebnissen. Daher ist es nicht so leicht, den Sinn oder Unsinn seiner Ermittlungsmethode oder den vieler Aussagen zu – ermitteln. Außerdem sahen wir ihn bisher nur in diesem Tatort Nr. 71 so häufig beim Frühstücken. Abendessen gibt’s auch mal, und zwar bei Günter Strack und seiner mondänen Frau, die in diesem Ort ziemlich auffällt, obwohl er offenbar auch ein wenig touristisch geprägt ist.
Die Massenszenen, die durch das Sängerfest in Weilerburg zustande kommen, sind fantastisch, so, als habe Regisseur Theo Mezger sie für die Nachwelt festhalten wollen. Dass der Film durch diese vielen dokumentarisch wirkenden Momente, in denen die Gesangsvereine durch die Straßen ziehen und viel Aufmerksamkeit aufs zuschauende Publikum gerichtet wird, den Film nicht gerade pfeilschnell wird, versteht sich von selbst. Aber alles, was wir sehen, hat einen Sinn. Warum sollten wir nicht ältere Tatorte genauso interpretieren wie neuere? Filme machen ist nämlich keine Erfindung der letzten zwanzig Jahre, wo die effektvollen Inszenierungen immer mehr die Inhalte überlagern.
Genau so waren sie, die 1970er. Selbst unter den vielen instruktiven Tatorten jener Zeit ragt dieser heraus, weil er so viel Volk zeigt, nicht nur ein paar urige Typen. Die gibt’s auch, aber offenbar hat die Kamera aus versteckter Position viele Alltagsgesichter festgehalten, denn die bei den Dreharbeiten Anwesenden können nicht allesamt Statisten gewesen sein. Vielleicht griff man sogar zu dem Trick, fürs Regionalfernsehen die Weilerburger Festtage filmen zu wollen (oder wie immer das, was wir sehen, genannt wird oder wurde).
Um die Botschaft damaliger Tatorte zu verstehen, muss man vielleicht etwas genauer hinschauen, Sozialkritik mit dem Holzhammer war in jenen Jahren eher die Ausnahme. Das Schwabenland ist eine Urzelle spießiger Gemütlichkeit, verbunden mit einem nicht unbeachtlichen Wohlstand, und genau das drückt der Film schon einmal deutlich aus. Es gibt zwar den einfachen Arbeiter auch, wie etwa den jungen Alex Kollmann, aber es gibt vor allem Bäckermeister mit Hang zur körperlichen Züchtigung von Kindern, es gibt Juristen, die immer genau wissen, wo die Grenze zum Parteiverrat ist, es gibt Makler, die gewiss gut verdienen, weil es neben dem Altstadtkern diese Neubaugebiete hat, die auf Hügel hinaufführen und wo sich der neue Wohlstand in großzügigen Einfamilienhäusern verewigt hat.
Nie zuvor und nie wieder danach haben so viele Leute so groß gebaut wie in den 1970ern, wobei das Haus des früheren Möbelhausbesiters Enderle für die konservative Lebensart steht, wenigstens vom Interieur. Die Innenszenen sind möglicherweise nicht in dem Haus gedreht worden, das man von außen als das von Ende wahrnimmt. Das Gebäude gegenüber ist vom Feinsten. In einer Zeit, in der Bauhausstil-Purismus nicht mehr und noch nicht wieder modern war, ist das Haus des Maklers das Non Plus Ultra, mit seiner offenen Gestaltung mit Galerie, mit dem Rauputz, an dem man sich Kleider beschädigen und die Haut abschürfen kann, mit tiefroten Fliesen, von denen jeweils vier ein Muster ergeben – und natürlich mit einer nur im Hintergrund sichtbaren Schwimmhalle. Ein paar Jahre später, nach massiven Energiepreiserhöhungen, ging die Zahl solcherart gestylter Architektenhäuser merklich zurück. Wir kennen sogar Leute, die ihre Halle noch gebaut, aber später nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt haben, weil die Betriebskosten in keiner Relation zum Planschvergnügen standen.
Man kann mit Fug und Recht sagen, der Film entstand auf dem Höhepunkt des Wohlstands der alten Bundesrepublik, die sich nach der ersten Ölkrise wieder gefangen hatte und noch kaum Arbeitslose kannte. Auch deswegen sind Filme aus dieser Zeit so wunderbar anzusehen. Die scheinbare Sicherheit und Selbstsicherheit, die über allem liegt, die hat so etwas von einer fernen und doch so nahen Zeit, die wir selbst oder die unsere Eltern erlebt und aktiv gestaltet haben.
Aber wir wissen, hinter den Fassaden ist die Welt nicht in Ordnung. Im Tal marschieren die Sänger, auf dem Millionenhügel gehen die Frauen fremd und die Männer auch, und im Tal sieht’s nicht so viel anders aus. Es sitzen die Herren am großen Gesellschaftstisch, in weißen Kurzarmhemden mit den Emblemen ihres Gesangsvereins, durch den dünnen, möglicherweise nylonhaltigen Stoff sieht man die Feinripp-Unterwäsche. Sie singen wieder, und an ihnen vorbei wird ein Mord ermittelt, der alle, die im Ort etwas zu sagen haben, auf die eine oder andere Art betrifft und der für Bewegung im sozialen Gefüge sorgen wird.
Beinahe jede Figur, und sei sie mit noch so wenig Spielzeit ausgestattet, gibt etwas zum sozialen Kontext zum Besten, das ist wunderbar ausgearbeitet und zeigt uns nebenbei etwas Wichtiges: Man kann auch einen klassischen Whodunit so bauen, dass interessante Charaktere auftreten. Man muss nicht alle Verdächtigen so dezent behandeln, dass sie alle gleichermaßen verdächtig sind. Man kann auch den umgekehrten Weg gehen und alle Beteiligten als unter Druck stehend, etwas schräg, mit Dreck am Stecken zeigen. Nicht, dass moderne Krimis das nicht täten, aber sie schaffen selten ein so lokales Kolorit wie dieser Film, für uns, zusammen mit „Rot – rot -tot“ der beste, den wir bisher vom Ermittler Lutz gesehen haben.
Das Verhältnis von Männern und Frauen wird dabei übrigens besonders gut beleuchtet, ohne dass es aufdringlich wirkt – und dabei kommen die Männer nicht gut weg, weil sie in allen Fällen, die wir sehen, die schwächeren Menschen sind und ihre Frauen mit allen wichtigen Aufgaben, mit allen Sehnsüchten und mit dem ganzen Erziehungsstress zurücklassen. Recht viele, recht kurze aber prägnante Frauenrollen belegen das, wie überhaupt dieser Film so reichhaltig besetzt ist, dass man bei näherem Hinsehen auch feststellt: Er ist nicht so langsam. Er behält sehr viele Figuren im Griff, nicht hunderprozentig, aber doch überwiegend, und wir haben keinen größeren Logikfehler gefunden – wie oben erwähnt. Bestimmt gibt es welche, aber um sie ausfindig zu machen, hätten wir akribisch mitschreiben müssen, was ermittelt und ausgesagt wurde.
Finale
Seltsames ist bei den Dialogen zu beobachten. Diejenigen zwischen Ehepartnern wirken stilisiert, um kurz und eindrücklich die Verhältnisse der Menschen zueinander darzustellen (siehe oben, in der nachträglich beigefügten Wiki-Einleitung als „kammerspielartig“ apostrophiert), die meisten anderen stärken den lokalen Bezug durch Dialektverwendung und Typdarstellung, und zwischen all dem sitzt Lutz wie der Fremdkörper, welcher er ist. So staubtrocken und manchmal hölzern und mit der Alltäglichkeit seiner Antworten, die gleichwohl einen dezidierten Charakter erkennen lassen, in diesem Sinn so weit entfernt von heutigen Ermittlern wie die Ur-Schwaben von den Nebenrollen heutiger Tatorte der Südwestschienen.
Es hat sich viel getan, seit den 1970ern, und in mancher Hinsicht kann man froh sein, dass sie vorbei sind – aber man sieht auch, dass sich vieles hätte anders entwickeln können, als es jetzt ist, wenn man sorgfältiger mit der Zukunft umgegangen wäre.
7,5/10
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1) und folgende Angaben zu Besetzung und Stab: Tatort-Fundus
Kursiv: Wikipedia
Besetzung und Stab
Kommissar Lutz – Werner Schumacher
Assistent Wagner – Frank Strecker
Erwin Seifert – Klaus Herm
Herta Seifert – Edda Pastor
Enderle – Günter Strack
Ruth Enderle – Claudia Wedekind
Frau Kollmann – Louise Martini
Alex Kollmann – Rolf Bogus
Säuberlich – Oskar Heiler
Bolz – Oscar Müller
Rechtsanwalt Dr. Haß – Max Strecker
Eppeler – Walter Schultheiß
Frau Eppeler – Trudel Wulle
Frau Reschke – Doris Denzel
Böhle – Ernst Specht
Heppich – Martin Schwab
Kaiser – Peter H. Schwerdt
Schröder – Achim Plato
Werkmeister – Helmut Wieland
Oberinspektor Marek – Fritz Eckhardt
Buch – Fritz Eckhardt
Regie – Theo Mezger
Kamera – Justus Pankau
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