Crimetime 1191 – Titelfoto © RB, Jörg Landsberg
Drama, nicht Dramatik
Stille Wasser ist ein Fernsehfilm aus der Fernseh-Kriminalreihe Tatort. Der Film wurde von Radio Bremen und vom WDR produziert und am 13. Februar 2011 erstmals gesendet. Es ist die 790. Folge der Tatort-Reihe, der 23. Fall für Kommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel), und der 18. Fall für Nils Stedefreund (Oliver Mommsen).
In „Stille Wasser“ erleben wir Kriminalhauptkommissarin Inga Lürsen aus Bremen, dargestellt von Sabine Postel, ohne ihre Tochter und ohne dass sie uns erklärt, was eine gute Moral ist. Dafür zeigt sie Letztere, indem sie als verdeckte Ermittlerin in einem großen Wohnungsblock tätig ist und dabei ein traumatisiertes Mädchen bewacht, das dort wohnt und den Mord an seinen Eltern mitanschauen musste.
Dass Lürsen in dem Haus vorher schon offen auftrat, dass das Mädchen auf einer Station des Jugendnotdienstes über eine Figur erschrickt, die das Gelände besteigt, aber überhaupt keine Ähnlichkeit mit der schließlichen Täterperson hat und somit keinen Fluchtreflex auslösen sollte, dass Lürsen sich mit einem Kind einschließen und es quasi als Lockvogel verwenden kann, das psychologische Fachbetreuung benötigt, eine ganz Schicht von Containerhafenmitarbeitern schmuggelt professionell mit Drogen und dies sickert ausgerechnet aufgrund eines Mordfall im Kreis der Kollegen durch – dies alles und viele weitere Kleinigkeiten ist unstimmig.
Die Bremer Tatorte zeichnen sich nicht immer durch substanzielle Logik aus, aber hier wird besonders deutlich mit dem Zuschauer Katz und Maus auf eine spekulative Art gespielt – die Spekulation geht dahin, dass dem gewogenen Tatortbetrachter angesichts der menschlichen Aspekte gar nicht auffällt, dass sachlich und auch psychologisch das eine oder andere fragwürdig ist. Mehr lesen Sie aber in der –> Rezension.
Handlung
In einer Bremer Hochhaussiedlung werden die Eheleute Frank und Yvonne Berthold ermordet aufgefunden. Ihre neunjährige Tochter hat die Tat beobachtet, ohne vom Täter bemerkt zu werden. Deshalb schwebt sie in höchster Gefahr, das nächste Opfer zu werden.
Das Kind ist schwer traumatisiert und spricht, seit man sie gefunden hat, kein einziges Wort mehr. Inga Lürsen ist die einzige, die es schafft, nach und nach ihr Vertrauen zu gewinnen. Das Kind flieht aus dem Krankenhaus, zurück in die Wohnung der Familie, will dort um keinen Preis wieder weg.
Hauptkommissarin Inga Lürsen, die weiß, dass es nirgends einen hundertprozentigen Schutz für das Kind gibt, so lange der Täter auf freiem Fuß ist, beschließt schweren Herzens, sich als Tante der Kleinen auszugeben und mit ihr in der Wohnung zu bleiben. Im selben Haus wohnen auch die Arbeitskollegen des Opfers und deren Frauen. Immer deutlicher spürt Inga, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Oder hat die Mordtat doch etwas mit der Arbeit des Opfers im Hafen zu tun, wie Stedefreund vermutet.
Rezension
Zu den Zweifel säenden Elementen gehört leider auch die Täterfigur, auch wenn diese von Anna Maria Mühe in bekannt intensiver Manier gespielt wird. Die Interaktion zwischen Rebecka Gressmann und dem traumatisierten Mädchen, das mitbekommen hat, wie die Nachbarin aus Eifersucht, aber doch eher im Affekt denn als Mörderin im Sinne von § 211 StGB beide Eltern umbringt, hat Mühe, die Glaubwürdigkeitsprüfung zu bestehen, auch, weil es zuvor schon einmal eine Reaktion des Mädchens gab, die genau gleich ausfiel wie bei einer anderen Nachbarin, die mit der Tat gar nichts zu tun hatte.
Es ist natürlich alles Fiktion, aber man hat doch immer wieder das Bedürfnis, bei einem ernst gemeinten Tatort, sich der menschlichen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu versichern, und da hapert es, Bremen-typisch, ein wenig.
Ob man die eher dezente Wandlung von Inga Lürsen zu einer Halbschwester aus dem Prekariat für gelungen hält, unterliegt dem Umgang mit mehreren Parametern. Zum einen kommt es ein wenig darauf an, ob man generell etwas gegen Klischees hat. Klischees können ja zutreffen und helfen uns, die etwas unübersichtliche Wirklichkeit der Welt zu kategorisieren und dadurch besser mit dieser Wirklichkeit klarzukommen. Auf uns hat dieses Schlüpfen von Lürsen in die Rolle einer eher unbedarften Person einerseits eine verblüffende Leichtigkeit, die uns daran erinnert, dass Lürsen selbst ja kein abgehobener Typ ist, wenn man von ihren moralischen Ansprüchen absieht.
Zum anderen liegt eine keineswegs zu unterschätzende Komik in diesem Bedürfnis, jemand anderen auf eine Weise darstellen zu wollen, die man sich doch angesichts der sozialen Empathie für die niederen Bevölkerungsschichten, die eine Frau Lürsen zweifelsohne zu ihrem Wertekorsett zählt, im Grunde nicht geben dürfte und die darauf hinweist, dass wir alle nicht von bestimmten Vorstellungen über bestimmte Personengruppen gefeit sind.
Angesichts der Art, wie in jüngsten Tatorten mit Kindern und hochbrisanten Themen, die mit Kindern zu tun haben, verfahren wurde, ist der 2011 erstmalige gesendete Tatort „Stille Wasser“ vergleichsweise konsistent.
Man wird das Gefühl nicht los, da fehlt es an Intensität und Tiefe, aber die angesprochene Spekulation geht nicht zusätzlich in die wenig erfreuliche Richtung, dass man Kinder und Kinderthemen missbraucht, um Knalleffekte zu inszenieren.
Eher fehlt es „Stille Wasser“ an dieser packenden Seelenschau, die eher unspektakuläre Themen zum Ereignis werden lassen kann, eine Spielart, die zum Beispiel die Frankfurter vom HR gut beherrschen, auch die ersten Filme des aktuellen Stuttgart-Teams Lannert / Bootz sind in dieser Richtung gut unterwegs gewesen.
Es mag auch daran liegen, dass nicht nur das Drehbuch Logikschwächen hat, sondern auch die Schauspieler ein wenig blass bleiben. Anna Maria Mühe holt das Maximale aus ihrer Rolle heraus, aber da wäre mehr drin gewesen, bei subtilerer Dialog- und Kameraführung, die übrigen Figuren im Supermarktkassiererinnen- und Dockarbeitermilieu sind soweit okay dargestellt, aber Nils Stedefreund und der kräftige Carlsen bleiben blass und hölzern. Insgesamt ist zu wenig schauspielerische Verve in diesem Film, um ihn über sein Plotniveau zu heben.
Wir stören uns prinzpiell nicht daran, wenn ein Film eher langsam inszeniert ist. Die Spannung kann auch aus einem gut getimten Wechsel zwischen markantem Schweigen und emotionaler Eruption kommen, Gesichter, Gestern, Momente des angespannten Verharrens im Wechsel mit überraschenden, stark gespielten Ausbrüchen, die richtigen Sätze an der richtigen Stelle – das alles kann man so aufbauen, dass es die Freunde des Psychothriller erfreut oder / und die Fans des sozialen Kammerspiels.
Von beidem hat „Stille Wasser“ aber zu wenig. Es läuft alles ein wenig zu sehr durch und man tritt nicht so dicht an die Figuren heran, wie es bei einem Film dieser Art sein sollte. Er ist nicht aktionsreich, er ist nicht skurril oder humorvoll, er ist kein klassischer, auf Distanz ausgelegter Autorenfilm, wie viele der älteren Tatorte, die wenig Handlung, aber viel verdeckte Sozialkritik enthalten, deswegen bleibt ihm kaum eine Wahl, als auf Identifikation mit den Figuren zu setzen, damit man ihn als guten Film empfindet. Dieser Effekt hat sich bei uns kaum eingestellt, wir sind kaum über das selbstverständliche, besonders im Hinblick auf das Schreiben für den Wahlberliner wichtige professionelle Interesse hinausgekommen.
Finale
„Stille Wasser“ ist einer jener Tatorte, bei denen man immer wieder denkt – das hätte man aber auch so oder so machen können, mit kleinen Änderungen, um daraus einen packenden Thriller werden zu lassen oder ein echtes Rührstück, jedenfalls etwas Konsequentes.
So aber paart sich eine gewisse Unverbindlichkeit im Emotionalen mit gewissen Schwächen im Handlungsaufbau und zusammen kann dies nicht zu einer überdurchschnittlichen Bewertung führen. Wir freuen uns zwar, dass dieser Tatort frei von zu vielen Nebenschausplätzen bleibt (keine Tochter von Lürsen, kein Hund, keine politischen Statements), aber die Verdichtung, die durch diesen günstigen Verzicht möglich gewesen wäre, die ist auch nicht bewerkstelligt worden.
6,5/10
© 2023, 2015, 2013 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Besetzung und Stab
Hauptkommissarin Inga Lürsen = Sabine Postel
Kommissar Nils Stedefreund = Oliver Mommsen
Karlsen = Winfried Hammelmann
Nadine Berthold = Sina Monpetain
Gisela Kremer = Dagmar Menzel
Günther Kremer = Ulrich Matthes
Rebecka Gressmann = Anna Maria Mühe
Max Gressmann = Janek Rieke
Onno Gressmann = Felix Ellerhorst
Markus Lennert = Ronald Kukulies
Gerichtsmedizinerin = Henriette Cejpek
Walter Hansen = Robert Gallinowski
Regie: Thorsten Näter, Buch: Thorsten Näter
Kamera: Joachim Hasse
Szenenbild: Dietmar Linke
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