Das große Krabbeln (A Bug’s Life, USA 1998) #Filmfest 1039 #Top250

Filmfest 1039 – Concept IMDb Top 250 of all Time (144)*

Die sieben Samurai als Insektenparabel

Das große Krabbeln (Originaltitel: A Bug’s Life) ist der zweite abendfüllende, vollständig computergenerierte Animationsfilm der Pixar-Animations-Studios, der im Februar 1999 in den deutschen Kinos anlief. Er basiert lose auf der Handlungsidee von Akira Kurosawas Historienfilm Die sieben Samurai, in dem eine Gruppe ein Dorf vor Unterdrückern retten soll.

Um es nicht zu vergessen: Einen Unterschied gibt es zwischen Akira Kurosawas Meisterwerk aus dem Jahr 1954, dem ihm nachempfundenen Western „Die glorreichen Sieben“ (1960) und dem mittlerweile an Disney angegliederten Computeranimations-Abenteuer von 1999:

Die Samurai sind keine ehernen Helden, sondern Zirkusartisten, die bisher nicht viel Heroisches zustande gebracht haben. Und natürlich gibt es eine Menge reizender Gags, die man für einen gelungenen Familienfilm braucht und die man nur per Zeichen- oder Computertrick erschaffen kann. „A Bug’s Life“ scheint bezüglich der Titelgebung auch an Charles Chaplins „A Dog’s Life“ anzuspielen, der im Jahr 1918 entstand, also genau 80 Jahre vor dem zu besprechenden  Animationsfilm. Alles Weitere steht in der –> Rezension.

Handlung (1)

Der Film handelt von einer Kolonie Ameisen, die auf einer Insel lebt. Eine der Ameisen ist der impulsive und tollpatschige Erfinder Flik, der verzweifelt versucht, seinen Platz in der Gruppe zu finden. Er kann sich aber nicht in das konservative System im Ameisenhaufen einfügen und eckt mit seinen seltsamen, selten funktionierenden Ideen andauernd an; besonders Atta, die Kronprinzessin der Kolonie, ist nicht sehr begeistert von ihm. Die einzige Ameise der Kolonie, die Flik eine treue Freundin ist, ist Dot, Prinzessin Attas kleine Schwester.

Die Kolonie sammelt Nahrung für den Winter – mehr als sie eigentlich müssten, denn jedes Jahr im Sommer spielt sich das gleiche Szenario ab: Der Grashüpfer Hopper und seine Bande terrorisieren die Kolonie und zwingen die Ameisen, regelmäßig für sie Futter bereitzustellen. Die Ameisen haben sich aus Angst längst damit abgefunden. Aber dieses Jahr passiert Flik mit einer seiner Erfindungen ein Missgeschick, und die gesamte Futteransammlung fällt in den Fluss, der die Insel umgibt. Die Drohung der Grashüpfer kommt umgehend: Im Herbst, wenn das letzte Blatt gefallen ist, werden sie wiederkommen. Dann soll die doppelte Menge für sie bereitliegen.

Da Flik die ganze Sache unglaublich leidtut, hat er einen Plan: Er will Verstärkung besorgen, die gegen die Grashüpfer kämpft und sie endlich verjagt. Der hohe Rat der Ameisen stimmt diesem Plan nur zu, um ihn bei ihren Reparaturbemühungen endlich aus dem Weg zu haben. Flik aber verkalkuliert sich: Zwar findet er Insekten, aber durch ein Missverständnis erfährt er erst später, dass es sich um Zirkusartisten handelt, die gerade von ihrem Direktor nach einer katastrophalen Vorstellung gefeuert wurden. (…)

Rezension

Zentrale Ideen wie der Bau des künstlichen Vogels sind vermutlich auch nicht ohne filmisches Vorbild, aber dieses kennen wir entweder nicht oder kommen gerade nicht darauf. Besser gelingt die Zuordnung des Anfluges der Heuschrecken. Diese ist eine Anspielung auf den Angriff der Luftlandetruppen in „Apocalypse Now“, Teil einer der spektakulärsten Sequenzen der Filmgeschichte. Sogar die Farbgebung mit den blutroten Hintergrund und die Formation der Heuschrecken sind klare Zitate. Immerhin hat man bei Pixar darauf verzichtet, auch noch Wagners Ritt der Walküre als Begeitmusik zu verwenden. Das wäre des Guten oder Bösen doch etwas zu viel gewesen.

Die Musik ist dennoch ein wichtiger Bestandteil von „A Bug’s Life“, wie der Film im Original heißt – obwohl die Hauptfigur eine Ameise ist. Vielleicht hatte man die Verwendung des englischen Wortes „Ant“ verworfen, da die Konkurrenz von Dreamworks kurz zuvor den Film „Antz“ gestartet hatte. Thematisch so nah waren sich die beiden Hauptkonkurrenten um den amerikanischen Trickfilmmarkt, die ab Mitte der 1990er ihre ersten großen Erfolge feierten, später nie mehr.

Nach „Toy Story“ (1996) sollte „A Bug’s Life“ der nächste große Triumph von Pixar werden. Obwohl sich die Animationstechnik in den letzten 15 Jahren weiterentwickelt hat, machen die vielen Krabbeltiere richtig Spaß. Dass man auch Ende der 1990er grafisch schon viel drauf hatte, belegen vor allem die beinahe erschreckend detailreichen Heuschrecken. Die Ameisen haben individuelle Gesichtszüge und Figuren und sind unterschiedlichen Alters, die Clown-Insekten wunderbar fantasievoll und variantenreich.

Wenn man sich den Film heute anschaut, bietet er auch für Erwachsene eine ganze Menge. Die turbulente Handlung mit den witzigen Ideen und Tieren kann nicht verbergen, dass wir an die Ausgangsfilme erinnert werden, in denen es darum geht, Menschen von Unterdrückung durch Warlords zu befreien. Zwar beruht die ganze Aktion in „Das große Krabbeln“ auf einer Reihe von Irrtümern und waghalsigen Konstruktionen und Annahmen, aber auf emotionaler Ebene funktioniert der Film ebenso wie plottechnisch. Die kindgerechten und sonstigen Änderungen verdecken nicht die Botschaft der Befreiung von Unterdrückung.

Mit „heute“ haben wir allerdings noch etwas anderes im Sinn. Ob das 1999 schon im Hinterkopf der Pixar-Macher schwebte, wissen wir nicht, aber das Wort „Heuschrecke“ hat ja im Deutschen mittlerweile eine ganz negative Belegung, die das Wort „Schrecken“, das ohnehin als negativ verstanden werden darf, auf eine andere Ebene heben. Wir haben die Bilder vor uns, von Finanzinvestoren und Firmenaufteilern, die wie die Heuschrecken über Unternehmen herfallen, sie zerlegen und das Verwertbare verschlingen oder verhökern. Spätestens seit der Bankenkrise des Jahres 2008 kann man einen Film wie „Das große Krabbeln“ nicht mehr ohne diesen Subtext anschauen – oder nicht mehr ohne ihn rezensieren. Während des Guckens haben wir uns nicht unbedingt auf diesen Aspekt konzentriert.

Im Grunde ist es gleichgültig, ob eine kriegerische Auseinandersetzung, die Bedrohung durch eine Räuberbande oder der freidrehende Kapitalismus unserer Tage in den Film hineininterpretiert werden, alles stimmt, alles lehrt uns etwas: Würden wir, die wir vor dem Bildschirm sitzen, stattdessen oder im Anschluss aufstehen, auf die Straße gehen und uns wehren, dann könnte keine Macht der Welt ein System betreiben, das sich immer weiter von unserem Wohl entfernt und schleichend oder im Handstreich zur Diktatur mutiert.

Die Frage, die man sich zu stellen hat, ist vor allem, wie es dazu kam, dass die Ameisen sich haben so unterdrücken lassen. Das ist so universell, dass man nebenbei auch vergisst, dass es mittlerweile in Südeuropa aggressive Ameisenstämme gibt, eingeschleppt aus Amerika, die ihrerseits auf Eroberungstour gehen und dabei die einheimischen, viel größeren Arten durch schiere Massenangriffe vernichten. Die Evolution ist keine friedliche Veranstaltung. Deswegen ist es schwierig, für uns Kinder derselben, ein tatsächlich zivilisiertes Verhalten zu entwickeln, in dem das Miteinander, die Gemeinschaft, die in „Das große Krabbeln“ letztlich die entscheidende Rolle spielt, über Egoismus und Machtdenken siegt.

Der Ameisenstaat ist, der Realität entsprechend, ebenfalls nicht gerade basisdemokratisch organisiert, doch wir meinen schon, dass man auch ein wenig biologisch Lehrsames beibehalten darf, zumal die Ameisen durch ihre blauviolette Farbe schon deutliche Kompromisse an die Tricktechnik und die jungen Zuschauer darstellen. Sie blutrot oder tiefschwarz zu zeichnen, wäre sicher keine gute Idee gewesen.

Finale

„A Bug’s Life“ ist wirklich zauberhaft und die Faszination der Macher für eine damals noch ganz neue Technik ist spürbar. Aber er bietet im Nachgang auch Gelegenheit zur Reflexion, weil er deutlicher als die meisten Disneyfilme nicht nur traditionelle Tugenden wie Mut, Tatkraft, aber auch die Macht der Fantasie ans Publikum bringt. Vielmehr hat er einen Subtext hat, der zumindest hierzulande beinahe zu einer Allegorie für das macht, was uns allen blühen wird, wenn wir der zunehmenden Machtkonzentration auf allen Ebenen nicht irgendwann etwas entgegenstellen – und seien es wir selbst und dass wir endlich wieder für die richtigen, übergeordneten Ziele auf die Straße gehen.

80/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

*Die Reihenfolge der Filme, die wir rezensiert haben und die irgendwann einmal auf der Liste der IMDb Top 250 standen, scheint eine Lücke aufzuweisen. Doch die Nummern 139 bis 143 haben wir nachträglich an Filme vergeben müssen, die wir vor längerer Zeit bereits rezensiert haben, bei denen wir es aber im Wege der Veröffentlichung der Rezensionen versäumten, nachzusehen, ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Liste enthalten waren.  Die meisten dieser Filme sind heute so weit weg von einer für die Liste ausreichenden Bewertung, dass wir ihnen wohl auch nicht zugerechnet hatten, dass sie es einmal dorthin geschafft  hatten. Ein solcher Fall ist auch „A Bug’s Life“, der aktuell eine durchschnittliche Bewertung von 7,2/10 seitens der IMDb-Nutzer:innen erhält. Für eine Platzierung wären 8,1/10 eine Mindestanforderung.

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie John Lasseter,
Andrew Stanton
Drehbuch Andrew Stanton,
Donald McEnery,
Bob Shaw
Produktion Darla K. Anderson,
Kevin Reher
Musik Randy Newman
Kamera Sharon Calahan,
James Burgess
Schnitt Lee Unkrich

 

 


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