Kressin stoppt den Nordexpress – Tatort 7 #Crimetime 1198 #Tatort #Köln #Kressin #WDR #Nordexpress

Crimetime 1198 – Titelfoto © WDR

Kressin stoppt den Nordexpress ist ein deutscher Fernsehfilm von Wolfgang Menge und Rolf von Sydow. Es ist der siebte Film der Tatort-Reihe und die dritte Episode mit Zolloberinspektor Kressin als Hauptdarsteller. Er wurde erstmals am 2. Mai 1971 im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt.

Titelfoto © WDR 1971

Der Smarte und der Schienenstrang

Dass dieser Tatort die Nummer 007 von derzeit beinahe 1000 Filmen der Reihe trägt, ist doch nett. Immerhin ermittelt hier der Bond unter den deutschen Fernsehpolizisten der 1970er Jahre. Der Aufwand für diesen Film ist ungewöhnlich hoch, auch dadurch wird ein Hauch von Kino-Atmosphäre vermittelt.

Selbstverständlich im eher nüchternen, dokumentarisch wirkenden Tatort-Stil der frühen Jahre. Doch gerade bei Kressin ist noch eine andere, heiter-ironische Note enthalten, die immer wieder überrascht, weil nicht nur seine Stellung als Oberinspektor bei der Zollfahndung vom üblichen, mehr oder weniger ortsfesten Kommissar bei Mord und Totschlag abweicht, sondern notwendigerweise die Handlungsschemata seiner Filme und natürlich sein Auftritt. Einen Heimatsender für die Kressin-Filme gibt es natürlich. Es ist der WDR, deswegen haben wir diese Rezension zu einer Schiene, die es so nirgends mehr gibt, der neuesten WDR-Produktion aus einer Stadt beigestellt, die seit wenigen Jahren und zum ersten Mal ein Tatort-Revier hat („Schwerelos„, Dortmund). Die Filme, die Stimmung, die Typen könnten kaum unterschiedlicher sein. Es ist eben wieder viel passiert, in den letzten beinahe 50 Jahren.

Handlung

Zwei Schwerverbrecher sind im Ausland gefasst worden. Die deutsche Kripo holt sie ab und transportiert sie in einem Sonderabteil des Nordexpress nach Köln. Eine Bande mit ihrem Chef Sievers plant die Entführung der beiden. Mitglieder dieser Bande ersetzen Lokomotivführer und Zugpersonal durch ihre Leute, um den Nordexpress an einer ihnen genehmen Stelle gefahrlos anhalten zu können. Zollfahnder Kressin, auf dem Rückweg aus Dänemark, wo er sich um Pornoschmuggel zu kümmern hatte, ist mit im Zug. Ihm gelingt es, die Entführung der Schwerverbrecher zu verhindern. 

Rezension

  • Zugfilm! Zufall! Gestern haben wir einen Film mit dem Namen „Shanghai-Express“ rezensiert, und da lag es nahe, den Kressin mit dem Zug im Titel als nächsten Streifen vom Aufzeichnungsgerät zu ziehen. Zugfilme sind oft Krimis, Krimis im Zug kommen häufig vor, und es sind erstklassige darunter. Einige unserer Lieblinge: „Eine Dame verschwindet“ (1938, Regie: Alfred Hitchcock“, “Berlin-Express“ (1948), exemplarisch „Der Fremde im Zug“ (1951, Alfred Hitchcock), „Der unsichtbare Dritte“, der teilweise im Zug spielt (1959, Alfred Hitchcock, „Liebesgrüße aus Moskau“ (Der zweite James Bond-Film aus 1963 mit einer längeren Zugreise-Sequenz), und natürlich „Mord im Orient-Express“ (1974), der allerdings erst nach „Kressin stoppt den Nord-Express“ gedreht wurde. Es gibt auch Anklänge an den berühmten „Vier im roten Kreis“ von Jean-Pierre Melville, der zwei Jahre vor dem 2. Kressin-Tatort entstanden war und in dem ein Verbrecher, der überführt werden soll, aus einem Nachtzug fliehen kann.
  • Voraussetzung für das Funktionieren solcher Filme ist unzweifelhaft, dass die Züge Abteilwagen besitzen und nicht aus Großraumwaggons zusammengestellt sind, wie es heute meist der Fall ist.
  • Damit alles etwas strukturierter abläuft als im vorgenannten Krimi-Klassiker, in dem die Zugfahrt allerdings nur eine kleinere Teilhandlung darstellt, hat man in „Kressin stoppt den Nord-Express“ in die Vollen gegriffen. Beeindruckend, welch ein Aufwand für diesen frühen Tatort bereits getrieben wurde, und vor allem, welch einen Aufwand die Verbrecherfreunde der beiden, die überführt werden sollen, treiben, um jene zu befreien. Damit die Zuschauer eingestimmt werden auf eine Operation, die ziemlich überdimensioniert erscheint, unterhalten sich drei der Gangster in einer Autobahnraststätte und einer, der den geheimnisvollen Chef besser kennt, erzählt den anderen, wie dieser sich immer mehrfach absichert und deshalb so erfolgreich ist. Tut er tatsächlich, denn er ist der einzige, der dem üblichen Desaster, das durch unvorhersehbare Zufälle entsteht oder dadurch, dass ein cooler Cop an Bord ist und die beste Planung kaputt macht, entkommt und mit seinem Rolls Royce gewiss unbehelligt ins Fürstentum Liechtenstein brausen kann, bevor die anderen geredet und die Spur zu ihm verraten haben. Es ist übrigens derselbe Mann (Ivan Desny), der bereits in „Kressin und der Laster nach Lüttich“ (Tatort Nr. 5) denselben Wagen verwendet hat, auch den weißen Citroen DS erkennen wir wieder, der sich ebenfalls im Fuhrpark der Großbande befindet. Allerdings war der Mann zwei Tatorte früher noch Belgier.
  • Sei’s drum, auch diese Halb-Wiederholung und die Figur Sievers gehören wohl zu der unverkennbar ironischen Note des Films und will uns sagen: Man kann dieselben Superhirne immer wieder ganz stereotyp und materialsparend gleich ausgestattet verwenden, ohne dass das Publikum das langweilig findet oder blöde Fragen stellt. Zum Ausgleich musste man immerhin einen Übungs-Lokstand nachbauen; wahrhaft eine herrliche Idee, dass Gangster solch ein Instrument einsetzen, um sich auf den Coup vorzubereiten. Obwohl also die Lok von Gangstern besetzt wird und Teile des ersten Abteilwagens vom Nord-Express, obwohl niemand mehr in den Speisewagen darf und sogar ein Stellwerk erobert wird, um die sachgemäße Umleitung des Zuges sicherzustellen, es geht alles in die Binsen, denn es gibt einen Kressin an Bord.
  • Dieser wollte ursprünglich fliegen, merkt dann aber, dass man im Zug besser flirten kann und erledigt, ohne das Flirten zu vernachlässigen, alle Gangster im Verein mit einem alten Seebären, stoppt also den Nord-Express bzw. befreit den echten Lokführer und lässt diesen den Zug bremsen, und daher hat der Film seinen Namen. Alles das dauert nur 75 Minuten, aber neben der komplizierten Krimihandlung bleibt tatsächlich Spielzeit übrig für Kressins Machosprüche. Es ist nicht so, dass die Zeiten damals so anders waren, wie sie in diesem Film rüberkommen, aber man würde die Dialoge heute nicht mehr so darstellen dürfen, Ironie hin oder her, und ohne Ironie auch nicht mehr den Satz von dem Neger auf der Lok.
  • Kressin soll keine billige James-Bond-Kopie sein, sondern eine satirische Abwandlung, das spürt man jederzeit, und selbstverständlich waren sich die Macher der Tatorte bewusst, dass sie Bond im Fernsehformat nicht nachbilden konnten. Dass der Film heute passenderweise die Nr. 007 trägt, ist wohl Zufall, denn ob man 1972, nach der Integration einiger Produktionen in die Reihe, die ursprünglich als Einzelkrimis geplant waren, überhaupt schon mitgezählt hat und sicher sein konnte, welche Nummer dieser Film einmal in der mittlerweile ikonischen Chronologie haben wird, bezweifeln wir. Aber so locker, so fluffig wie dieser Tatort gemacht ist, wie hier mit großem Spaß an der Sache eine echte Räuberpistole inszeniert wird, das hat eine ganz eigene Note, die von der durchaus vorhandenen Komik in den Bond-Filmen abweicht, weil sie das Genre persifliert, in denen stark organisierte Verbrecherbanden auf superstarke Einzelpolizisten oder –agenten treffen und sich mit ihnen duellieren. Es versteht sich, dass am Ende die Ordnung aber wieder im Lot ist.
  • Wenn man sich die Stahlnetz-Filme aus den frühen 1960ern anschaut und bedenkt, dass zwischen ihnen und den Filmen mit Kressin nur etwa zehn Jahre liegen, kann man sich ausmalen, was dies für ein Sprung gewesen sein muss, für die Tatort-Macher, hin zu einem so dezidiert indivduellen Ermittler, der nicht nur anders ist als die so sehr seriösen und manchmal militärisch wirkenden Polizisten der 1960er, sondern auch von den in schon etwas moderneren, eher dezent auftretenden Finkes, Konrads, Lutzens und Trimmels erheblich abweicht. So unterschiedlich diese auch untereinander sind, Kressin ist noch einmal ein anderer Typ,  dieser Gelegenheits-Sportwagenfahrer und Vollzeit-Frauenheld unter den frühen Ermittlern.
  • Um seinen unsteten Lebenswandel zu unterstreichen, lässt man ihn als Zollfahnder mal hier und mal dort zum Einsatz kommen, was außerdem den Vorteil hat, dass man viele nette Pätze, manchmal auch außerhalb Deutschlands, zu sehen bekommt. Dass Kressin in Dänemark war, um sozusagen als Erholung von seinem letzten schwierigen Fall (wir wissen, das war die Sache mit dem Laster aus Lüttich, da musste Kressin ganz schön einstecken) nach Pornoheftchen zu fahnden, ist niedlich. Ja, so war das in den frühen 1970ern, als es unterschiedliche Auffassungen von erlaubter Literatur zwischen den heutigen EU-Mitgliedern in Skandinavien und Deutschland gab. Heute grenzenloser Warenverkehr, damals zwei unterschiedliche Freihandelszonen (EFTA und EG). Heute grenzenlose Verbreitung von quasi allem übers Internet, damals tatsächlich noch die Möglichkeit, an der Grenze zu kontrollieren, was an Kulturgut in andere Länder exportiert werden soll. Dass alle diese Pornos schmuggeln, vermutlich auch Kressins Zugbekanntschaft, ist natürlich wieder ein Gag, offensichtlich fand schon Wolfgang Menge, der Macher von „Kressin stoppt den Nord-Express“, dass dieses Thema überbewertet wird und das Thema an sich wie auch die Überbewertung von Themen Modeerscheinungen sind. Und wenn man so denkt, dann zeigt man es am besten als Übertreibung, um es lächerlich zu machen.
  • Wir erfahren hingegen überhaupt nicht die Hintergründe der Verbrecher-Überführung und Befreiung. Warum auch? Es reicht doch aus, dass die Männer offenbar in Skandinavien festgenommen wurden und nach Deutschland ausgeliefert werden und dass sie mächtige Freunde haben, die alles tun, um sie zu befreien.

Finale

Dass „Kressin stoppt den Nord-Express“ einige deutliche Continuity-Fehler aufweist, sehen wir ihm nach, zumal man sie eher dann bemerkt, wenn man sich nicht mehr zu sehr auf die Handlung konzentrieren muss, etwa dann, wenn man den Film zum wiederholten Mal sieht.

Dies ist kein einfach zu filmendes Sujet, auch dank der übertrieben verzwickten Vorgehensweise der Verbrecher-Befreier-Bande. Die Atmosphäre im Zug und das Zeitkolorit sind grandios. Schade, dass man einen Krimi dieser Art heute ganz neu denken müsste – aus technischen Gründen, denn ein manuell gesteuertes Stellwerk und andere technische Einrichtungen, die belegen, warum zu Beginn der 1970er Jahre Vollbeschäftigung herrschte, dürften längst der Vergangenheit angehören.

Es gibt in diesem Film keinen Todesfall, nicht einmal eine Schießerei – in den frühen Jahren war der Tatort eben auch mal ein Zug, in dem eine fantasievolle Befreiungsaktion ihren Lauf nehmen darf, und beginnt nicht mit dem heute obligatorischen Fundort einer Leiche. Im Lauf der Jahre sind die Tatorte deutlich mehr standardisiert worden, erst in den letzten Jahren Zeit mehren sich wieder die Versuche, nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich mehr zu wagen. Doch ein Remake des Nordexpress-Tatorts, das werden wir wohl nicht zu sehen bekommen. Überhaupt: Obwohl es sich bei dem enormen Fundus an schönen Altfilmen und einem gewissen Mangel an originellen Handlungsideen anbieten würde, auf die hollywoodreife Idee, neuzeitlige Remakes alter Krimis zu machen, ist bisher keine ARD-Sendeanstalt gekommen. Was nicht heißt, dass nicht Einzelelemente aus früheren Tatorten immer wieder gerne gelaut werden.

Unsere Wertung: 8/10

© 2024, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Rolf von Sydow
Drehbuch Wolfgang Menge
Produktion Gunther Witte
Musik Klaus Doldinger
Kamera
Schnitt Alexandra Anatra
Premiere 2. Mai 1971 auf Deutsches Fernsehen
Besetzung

 

 


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