Briefing 423 Politik, Personen, Parteien, Europa, EU, Alice Weidel, AfD
Im Juni finden Europawahlen statt, der Wahlkampf ist eröffnet und wieder einmal gelingt es der AfD, ein Thema zu „besetzen“.
Der Verdruss in Deutschland gilt nicht nur der Ampelkoalition, sondern auch der EU, so hofft man wohl bei den Rechten. Bisher gab es bei allen Umfragen in Deutschland nie eine Mehrheit für einen „Dexit“, weder vor noch nach dem „Brexit“, aber die Diskursverschiebung nach rechts könnte es möglich machen, dass sich das ändert. Soweit das Kalkül. Aber ist es realistisch und sinnvoll, die Frage überhaupt zu stellen, ob Deutschland die EU verlassen sollte? Sie können jedenfalls hier abstimmen.
Der Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Die AfD-Co-Chefin Alice Weidel hat eine Debatte über die Europäische Union ausgelöst. In einem Interview mit der Financial Times sagte sie kürzlich, dass die AfD in Regierungsverantwortung versuchen würde, die EU zu reformieren. Konkret wolle sie den Mitgliedstaaten wieder mehr Souveränität geben, um das „Demokratiedefizit” auszugleichen. Wenn dies nicht gelingen sollte, würde sie ein Referendum über den Verbleib in der EU durchführen – so wie es Großbritannien 2016 tat. Sie bezeichnete den Brexit als ein „Modell für Deutschland”.
Weidels Aussagen stießen bei SPD und Grünen und Teilen der Wirtschaft auf scharfe Kritik. Laut Katharina Barley (SPD) würde ein solcher Schritt Russland in die Hände spielen. „Nichts wünscht sich Putin mehr als eine EU, die zerbricht“, sagte die Europapolitikerin der dpa. Ein Austritt Deutschlands aus der EU würde die Grundfesten unseres Wohlstands gefährden, erklärte Franziska Brantner (Grüne) gegenüber der AFP. Ein „Dexit” würde ein Ende des deutschen Wirtschaftsmodells bedeuten und hierzulande Millionen Arbeitsplätze kosten, sagte Marcel Fratscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, am Montag im Handelsblatt.
In Großbritannien hatten damals 52 Prozent der Britinnen und Briten für den Austritt gestimmt, 48 Prozent dagegen. 2020 wurde der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der EU, dann vollzogen. In Deutschland sind Volksentscheide auf Bundesebene im Grundgesetz nicht vorgesehen. Eine Ausnahme betrifft laut RND die Neugliederung von Bundesländern. Um einen Volksentscheid zu ermöglichen, müsste zunächst das Grundgesetz mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat geändert werden.
Aus der klassischen Pro-Europa-Partei CDU kommt keine Kritik? Nun ja, es ist ja mittlerweile die Merz-CDU. Wir haben uns aber nicht getäuscht: Die Umfrage ist erst seit wenigen Stunden im Netz, daher ist Vorsicht geboten, aber: aktuell ist eine absolute Mehrheit von etwa 53 Prozent der Abstimmenden gegen den Vorschlag von Alice Weidel, und zwar ganz eindeutig. Weiter 6 Prozent kommen hinzu, die diesen Vorschlag nur für „eher falsch“ halten. Auf die EU lassen die Menschen hierzulande, Rechtsruck hin oder her, noch immer nichts kommen. Nur 28 Prozent finden aktuell Weidels Vorschlag richtig. Indessen kann man sagen, das sind sogar mehr, als aktuell AfD wählen würden. Aber so viel mehr auch wieder nicht und Europaskepsis kann verschiedene Motive haben.
Wäre dieser Vorschlag nämlich aus einer anderen Ecke gekommen, dann hätten wir vielleicht nicht so klar mit „nein“ gestimmt. Wir sind sehr wohl der Ansicht, dass die EU dringend reformiert werden muss. Weg vom Einstimmigkeitsprinzip bei einigen Fragen, mit mehr Durchgriff auf Staaten, die rechtsstaatliche, migrationstechnische und andere Vereinbarungen einfach für sich als bindend ansehen, wohl aber die EU-Mittel für ihre Wirtschaftsförderung entgegennehmen. Wir hatten ursprünglich formuliert „dankbar entgegennehmen“, aber wo ist die Dankbarkeit? Wie sich die Regierung des einen oder anderen Mitgliedsstaats gegenüber der EU verhält, ist eine Zumutung für jeden, der Europa ernst nimmt und als seine Heimat ansieht. Und was haben wir im Wege der Finanzkrise geflucht, als sich abzeichnete, dass die Schwachstellen des Systems nur zugekleistert werden mit „Whatever it takes“ und einer für Deutschland ungünstigen Niedrigzinspolitik, die mit dazu beigetragen hat, den hiesigen Mangel an Innovation zu kaschieren. Jetzt haben wir den Salat, könnte man sagen. Freilich ist das nur eine von vielen Ursachen für die gegenwärtigen Schwierigkeiten. Außerdem ist nicht die EU daran schuld, sondern die ideenarme deutsche Politik. Man hätte mit diesen Gegebenheiten auch ganz anders umgehen können.
Und wir halten es für dringend erforderlich, dass endlich die neoliberale Ausrichtung der EU korrigiert wird. Aber da kommen wir zu Alice Weidel. Das soll ausgerechnet mit einer rechten Politik à la AfD passieren, die in Europa immer stärker nach vorne drängt, die Egoismen fördert und soziale Standards zugunsten von mehr Profit des Kapitals schleifen will? Die obendrein versuchen wird, die Menschenrechte, die beim EGMR als nunmehr letzter Instanz auf europäischer Ebene verhandelt werden, möglicherweise dessen Kompetenz entzogen und renationalisiert werden, natürlich im Sinne der spaltenden Politik der AfD? Sicher ist manches an der Integration falsch gelaufen, sowohl die zu rasche territoriale Erweiterung der EU betreffend, wie auch falsche Prioritätensetzungen dahingehend, wo die vertikale Integration am meisten vorangetrieben werden sollte. Daran wäre die EU in der Finanzkrise beinahe gescheitert, wenn man nicht die Gelddruckmaschine angeschmissen hätte wie nie zuvor.
Außenpolitisch und geostrategisch ist die EU außerdem ein Zwerg, weil sie nicht mit einer Zunge spricht. Gerade auf dem Gebiet wäre mehr Integration erforderlich, nicht weniger, damit Europa noch etwas wie Gewicht in die Waagschale werfen könnte, zwischen Machtimperien wie den USA und China. In der Folge müsste sie dann auch noch eine richtige, faire Politik auf Augenhöhe mit anderen Staaten hinbekommen. Von alldem sind wir weit entfernt. Einige Länder denken gar nicht daran, ihren retardierten Euro- oder sogar Nationalzentrismus aufzugeben. Auch Deutschland ist kein Integrator mehr und von visionärer Politik zur Verbesserung der Weltordnung im Sinne von mehr Kooperation und weniger Gewalt und Ungleichheit in Staaten und zwischen Staaten ist weit und breit nichts zu sehen.
Das aber wäre der Sinn einer koordinierten EU-Außenpolitik ohne nationalistische Nebengeräusche: Eine Friedensmacht in einer unruhigen Welt zu sein, ein Partner für alle, mit Strahlkraft in Sachen Demokratie, die Vorbildcharakter hat. Eine starke Gruppe von Ländern mithin, die aus der Vergangenheit gelernt haben. Aus einer Vergangenheit, die übrigens weiter zurückreicht als bis zum Zweiten Weltkrieg.
Wirkt Europa so, beseelt von Werten und Erkenntnissen? Auf uns gegenwärtig nicht, und Deutschland hat leider einen erheblichen Anteil daran, dass es nicht so ist.
Doch, wie wir jüngst an anderer Stelle schrieben: Der Weg zur Verbesserung der EU führt nicht vorbei an der EU, sondern liegt in ihr selbst. Wer draußen ist, hat auf die Entwicklung keinen Einfluss mehr, und ob der Brexit wirklich einen Boost darstellt, werden wir erst noch sehen. Bisher ist das nicht so, Großbritannien hat nach Deutschland die schwächste Entwicklung aller großen Volkswirtschaften Europas seit dem Austritt aus der EU im Jahr 2020 zu verzeichnen. Die aktuellen deutschen ökonomischen Probleme hingegen sind nicht durch die EU-Mitgliedschaft verursacht worden.
Wir waren in vielen Umfragen der jüngeren Zeit nicht auf der Seite der Mehrheit. Schön, dass es heute einmal anders ist.
Ein weiterer Aspekt klingt in dem Civey-Begleittext an: Die hohen Hürden für einen EU-Austritt per Volksentscheid. Wir finden es nicht richtig, dass auf Bundesebene keine plebiszitären Elemente in die politische Entscheidungsfindung eingewoben sind. Der Hintergrund ist zwar leicht zu verstehen: Ein rechter Mob sollte nicht an den gewählten Repräsentanten der Republik vorbei die Demokratie kippen können, das ergab sich aus den Erfahrungen der Nazizeit, obwohl die Machtübernahme der NSDAP nicht durch einen Volksentscheid zustandekam. Aktuell ist vielmehr und richtigerweise ein großes Thema, was selbst Wahlen nach dem üblichen Muster anrichten können, wenn die Wähler:innen nach rechts rennen. Die Zwei-Drittel-Mehrheit, die die AfD braucht, um die Verfassung in Richtung Ermöglichung von bindenden Volksentscheiden abzuändern, wird sie aber kaum bekommen, daher ist das Ganze natürlich auch wieder ein populistischer Spin. Wir steigen aber darauf ein, um ein paar grundsätzliche Anmerkungen aufschreiben zu können.
Aber nehmen wir an, es gäbe diese Mehrheit und es käme im Vertrauen auf die gewachsene Demokratie zu einem System, das etwas mehr dem der Schweiz ähneln würde: Diese Möglichkeiten könnten ja so ausgetaltet werden, dass zum Beispiel das BVerfG als oberster Wächter im Gewaltenteilungstrio Judikative prüft, ob das Ziel eines Volksentscheids mit dem Grundgesetz konform ist. Wäre ein Dexit-Volksentscheid dies? Wir meinen, das wäre er nicht, denn das BVerfG hat die Superiorität der EU und ihrer Rechtsprechung auch sich selbst gegenüber im Grunde längst anerkannt. Das würde auch bedeuten, dass ein deutscher Volksentscheid auf europäischer Ebene geprüft werden könnte. Vermutlich würde man sich dort nicht dazu bereitfinden, ihn für zulässig zu halten. Anders hingegen, wenn die Verfassung so geändert würde, dass das BVerfG immer deutschem Verfassungsrecht den Vorrang einräumen könnte gegenüber übernationaler Gesetzgebung. Theoretisch wäre das möglich, aber wo sollen dafür wiederum die politischen Mehrheiten herkommen?
Nein, wir müssen uns schon darauf konzentrieren, die EU zu verbessern und dafür dürfen wir in Deutschland nicht ausgerechnet einer so rechten Partei wie die AfD unsere Interessen anvertrauen.
TH
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

