Briefing 444 Geopolitik, Sondervermögen Bundeswehr, Kriegswirtschaft, Politik, Personen, Parteien
Liebe Leser:innen, heute haben wir wieder eine Umfrage zu empfehlen, die sich mit dem Rüstungsthema beschäftigt. Der Etat steht wieder einmal zur Debatte. Wie wir uns bisher an der Debatte beteiligt haben, inklusive der heutigen Ergänzung, lesen Sie unterhalb der Umfrage.
Aktuell häufen sich Debatten über die Wehrhaftigkeit Deutschlands. Kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor knapp zwei Jahren, ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr bereitzustellen. Angesichts der weltweit angespannten Sicherheitslage zeigte sich CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter jüngst in der SZ offen für eine Verdreifachung des Sondervermögens.
Um die Bundeswehr wirklich kriegstüchtig zu machen, seien Kiesewetter zufolge etwa 300 Milliarden Euro nötig. Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) hatte diese Summe bereits letztes Jahr ins Spiel gebracht. Dabei verwies sie dem Spiegel nach auf Expertinnen und Experten sowie Meinungen aus der Truppe, wonach mindestens 300 Milliarden Euro notwendig seien, um in der Bundeswehr signifikante Änderungen zu ermöglichen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sieht ein neues Sondervermögen kritisch. Er plädierte im RND stattdessen dafür, die Verteidigungsausgaben im regulären Bundeshalt zu steigern, damit die Armee langfristig auf soliden Füßen stehe. Eine Erhöhung der Militärausgaben wurde zuletzt von Teilen der Grünen und Linken kritisiert. Dabei verwiesen sie laut FR auf fehlende Gelder in sämtlichen Bereichen wie der Bildung, dem Gesundheitswesen oder der Verkehrsinfrastruktur.
Im Juni 2022 hatten wir an einer Umfrage teilgenommen, die sich mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr befasste und uns eindeutig dagegen positioniert.
Damals waren 60 Prozent eindeutig oder latent gegen die 100 Milliarden für die Bundeswehr. Unsere Erwartung war also, dass es bei 300 Milliarden eine noch eindeutigere Ablehnung geben müsste. Falsch gedacht. Nur einer Minderheit von ca. 40 Prozent positioniert sich dagegen. Offenbar müssen die Summe nur noch genug sein, damit wirklich alles durcheinandergeht. Wir haben in dem oben verlinkten Artikel begründet, warum wir diesen Sonderschuldenberg für falsch halten, an dieser Linie hat sich im Grunde nichts geändert. Uns hat unser ironischer Ton aber nachgerade erstaunt, und er gibt diesem Artikel heute eine besondere Würze. Vermutlich käme bei einer Forderung von einer Billion eine Zustimmung von 90 Prozent zustande.
Unzählige Leute, die sich über jeden kleinen Einschnitt in ihre behäbige Wohlstandsverwahrung wehren, sind plötzlich mega-offen für solche aberwitzigen Summen. Das stimmt etwas nicht. Die Enthemmung nimmt ihren Lauf. Wenn die CDU die nächsten Wahlen gewinnen will, dann sollten ihre besonders kriegstreiberischen Politiker noch eine Schippe drauflegen und in immer kürzeren Abständen wiederholen, dass der Krieg nach Russland getragen werden müsse. Dass Kanzler Scholz solche Rhetorik nicht anwendet, wird ihm in dieser aufgeheizten Stimmung sowieso als Schwäche ausgelegt. Man hat wirklich den Eindruck, einige vertragen es nicht gut, dass sie keinen Krieg erlebt haben. Wir haben im Moment aber auch mit Menschen Kontakt, bei denen das noch der Fall ist. Solche Zeitzeugen sollten, ähnlich wie die Holocaust-Überlebenden, ihre Stimmen sammeln und aufzeichnen lassen, damit diese Zeit vor dem Vergessen bewahrt wird.
Um dies auch heute klarzustellen: Es geht nicht darum, dass die Bundeswehr nicht abwehrbereit sein soll. Wir sind nicht einmal generell dagegen, dass Europa sich atomar besser aufstellt, um einer veränderten Haltung der USA zu begegnen, das haben wir kürzlich geschrieben:
Doch mit immer mehr Geld, mit wahren Unsummen, strukturelle Mängel zukleistern zu wollen, die es bei anderen Armeen mit ähnlich hohen Rüstungsbudgets offenbar nicht gibt, das kann nun wirklich jeder, damit hat Boris Pistorius seine Eignung als Wehrmanager nicht bewiesen. Richtigerweise sieht er eher eine Steigerung des regulären Verteidigungsetats als den richtigen Weg an, wobei man auch hier Grenzen setzen sollte. Wir halten das 2-Prozent-Ziel der NATO nicht für den richtigen Maßstab (Rüstung = 2 Prozent + x des Jahres-BIP, das eine Volkswirtschaft hervorbringt).
Die Menschen, die diese Rüstungstreiberei gut finden, sollten sich mal überlegen, wer sie finanziert und wer davon profitiert. Dann kommen sie den tatsächlichen Ideen hinter solchen immer gigantischeren Summen näher.
Den „Krieg nach Russland tragen“, 300 Milliarden für die Bundeswehr, Taurus für die Ukraine, eine Atombombe für Europa – derzeit versuchen Politiker, sich mit Kriegsrhetorik und Vorschlägen zur Aufrüstung gegenseitig zu überbieten. Ich hätte einen Vorschlag für all diese Maulhelden, die in immer mehr Waffen die Lösung für Konflikte sehen: Wir machen ein Ehrenbataillon mit Hofreiter, Strack-Zimmermann und Roderich Kiesewetter als Vorsitzendem – und anstelle von Waffen stellen wir den Kriegen dieser Welt dieses Ehrenbataillon zur Verfügung, damit sich diese Leute einmal an der Front so richtig austoben können. Und ansonsten kehren wir zurück zu einer Außenpolitik der Zurückhaltung und des friedlichen Interessenausgleichs. Deutschland muss endlich wieder ein Standort für Friedenspolitik und Entspannung sein! Panzer, Taurus, Atombombe? Rüstungswahnsinn beenden! (sp1-brevo.net)
Sie wissen, wer das gesagt bzw. geschrieben hat, wenn Sie die politischen Debatten der letzten Tage, inklusive des politischen Aschermittwochs, verfolgt haben. Wir sind nach wie vor keine Fans der Putinisten, aber falsch sind solche Aussagen deswegen leider nicht. Wir hatten schon zu Beginn des Ukrainekriegs geschrieben, dass der Niemals-Gediente Toni Hofreiter doch mal selbst die Waffe in die Hand nehmen und die Ukraine persönlich verteidigen soll, wenn er durchaus etwas für das Land tun will und glaubt, dort werde die deutsche Demokratie verteidigt. Und wir haben darauf verwiesen, dass wir als Gediente wissen, warum wir mit solchem Geschrei viel vorsichtiger sind. Nun kann man Roderich Kiesewetter nicht so leicht in diese Kategorie einordnen, aber in eine andere: In die der Militär-Lobbyisten. Dazu zählen auch Mitgliedschaften in vielen Organisationen, die transatlantische Expansionspolitik zum Ziel haben. Man muss nicht, wie Frau Strack-Zimmermann, direkt mit der Waffenindustrie verbandelt sein. So plakativ die Verballhornung ihres Nachnamens als Agnes-Marie Strack-Rheinmetall auch ist, sie hat einen wahren Kern.
Der Verein Lobbycontrol kritisierte die Mitgliedschaften beim Förderkreis Deutsches Heer und der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik als mit dem Vorsitz im Verteidigungsausschuss schlecht vereinbar. Beide Organisationen hätten eine große Nähe zur Rüstungsindustrie, die damit einen direkten Zugang zum Parlament erhalte.[45] (Marie-Agnes Strack-Zimmermann – Wikipedia)
Wer ein bisschen mehr dahinterblicken will, warum Politiker in Deutschland nicht für die Bevölkerung arbeiten, sondern für mächtige Interessengruppen, der muss nicht Putinist:innen super finden, es reicht, sich die mühevolle und wichtige tagtägliche Arbeit von Lobbycontrol, Abgeordnetenwatch, Finanzwende u. a. ein wenig anzuschauen. Wer das tut, dem kommen unweigerlich Zweifel an den Narrativen, die von den oben genannten Politiker:innen verbreitet werden. Dieser Typus versucht, das Land und die Mehrheit in diesem Land gnadenlos auszunehmen und die Superreichen noch reicher zu machen, das sollten Sie bitte nicht vergessen, bevor Sie auch, tief beeindruckt von riesigen Zahlen, immer weiterer Expansionspolitik zustimmen.
Wir verstehen schon, dass die Aussagen von Donald Trump bezüglich der US-Unterstützung der NATO für Angstzustände bei den ängstlichen Deutschen sorgen, aber was hier verhandelt wird, ist nicht die Lösung. Die Lösung ist eine effiziente europäische Integration, welche die Augen für die Wahrheit öffnet: Die in der NATO zusammengeschlossenen Europäer haben schon jetzt ein fünfmal höheres Rüstungsbudget als Russland. Glaubt jemand ernsthaft, das noch einmal zu verdoppeln, brächte mehr Sicherheit? Man kann Europa auch nicht an den USA messen, deren jährlicher Rüstungsetat wohl bald die Billionengrenze überschreiten wird und die überall auf der Welt teure Stützpunkte unterhalten, die auf allen Weltmeeren unterwegs sind und schon deswegen in anderen Rüstungsdimensionen denken. Diesen Gigantismus hat Europa nicht nötig, wenn es nur um eine kompetente, robuste Selbstverteidigung geht.
Vielleicht geht es aber nicht darum, sondern darum, einem wankenden Wirtschaftssystem durch Rüstung zu neuem Input zu verhelfen. Solche Ideen haben schon zu verheerenden Kriegen geführt, und wer das in Kauf nimmt, dem muss entschieden entgegengetreten werden. Man kann Russland mit allem, was Europa kann, auch in Schach halten, ohne dermaßen zu überdrehen. Man muss aber anstatt hemmungslosen Lobbyismus walten zu lassen, etwas mehr echte Integration und kluges Management organisieren. Dass das ein wenig dauert, ist kein Gegenargument. Denn auch die Beschaffung, die durch diese unmäßige Aufrüstung zustande kommen soll, wird keineswegs von heute auf morgen erledigt sein. Man darf sich in dieser so wichtigen Diskussion nicht von billigen Scheinargumenten blenden lassen, die ultra-teure Folgen für uns alle haben werden.
Wenn die Menschen, die für diesen Wahnsinn gestimmt haben, wieder etwas zum klaren Denken kommen, wird sich noch etwas zeigen: Dass diese Rüstungsfanatiker die Unterstützung der Bevölkerung für die Ukraine untergraben. Gerade haben wir aus dem Augenwinkel einen Artikel wahrgenommen, in dem behauptet wird, der Wiederaufbau der Ukraine wird 450 Milliarden Euro kosten. Wir halten diese Schätzung für sehr defensiv. Wer wird diesen Wiederaufbau bezahlen, falls Russland nicht das ganze Land einnimmt und sich damit selbst, ökonomisch gesehen, ein Bein stellt? Dreimal dürfen Sie raten. Eine Möglichkeit nehmen wir raus, damit es einfacher wird: Die Konzernchefs der gepamperten Rüstungsindustrie, der Krisengewinnler, werden es nicht sein.
TH
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