Der einzige Zeuge (Witness, USA 1985) #Filmfest 1061 #Top250

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Der einzige Zeuge (Originaltitel: Witness) ist ein Spielfilm der Paramount Pictures aus dem Jahr 1985. Regie führte Peter Weir, die Hauptrollen spielten Harrison Ford und Kelly McGillis. Die weitgehend unter Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Amischen ablaufende Handlung wurde in Philadelphia und IntercoursePennsylvania, gedreht. Der Film erhielt zwei Oscars.

Handlung (1)

Der achtjährige amische Junge Samuel Lapp wartet mit seiner verwitweten Mutter Rachel im Bahnhof von Philadelphia auf den Zug. Auf der Bahnhofstoilette wird er Zeuge eines Mordes an einem Polizeiermittler. Samuel identifiziert jedoch keinen der ihm von Detective John Book vorgeführten Kriminellen, sondern den im Rauschgiftdezernat arbeitenden Polizeileutnant James McFee auf einer Zeitungsseite als Täter. Book glaubt dem Jungen, da Jahre zuvor wertvolle Mengen beschlagnahmter Drogen verschwunden sind, und beschließt, ihn und seine Mutter zu ihrem Schutz zu verstecken. Er informiert seinen Vorgesetzten Paul Schaeffer, ohne zu wissen, dass dieser mit McFee unter einer Decke steckt. McFee lauert ihm in einer Tiefgarage auf und verletzt ihn durch einen Bauchschuss schwer. Book fährt Samuel und Rachel zu ihrem Schwiegervater Eli, auf dessen Hof sie inmitten einer Amischen-Gemeinschaft leben. Aufgrund seines hohen Blutverlustes muss er auf dem Hof gepflegt werden; eine Behandlung in einem Krankenhaus ist wegen der Meldepflicht und der damit verbundenen Aufdeckung seines Aufenthaltsorts nicht möglich. Book weist seinen Partner Sergeant Carter telefonisch an, alle Angaben zu Samuel aus der Akte verschwinden zu lassen. Wieder genesen legt Book Amischen-Kleidung an und beteiligt sich am ländlichen Leben der Gemeinschaft. Book und Rachel entwickeln Gefühle füreinander. Rachel wird auch von dem Amischen Daniel Hochleitner umworben. (…)

Rezension von Anni und Tom

Anni: Auffällig ist erst einmal, dass der Film einige sehr starke Szenen hat. Vom Schluss her betrachtet: Der kleine Samuel läutet die Glocke vom Gemeinschaftshaus oder der Kirche und über die Hügelkämme kommen sie alle in ihren verschmutzten Arbeitsklamotten gerannt, haben die Feldarbeit sofort liegen lassen, die Amish, weil etwas Ungewöhnliches vorgeht: Niemand läutet sonst um diese Zeit die Glocke. Die ganze Gemeinschaft läuft zusammen und zwingt so den korrupten Polizisten Paul, aufzugeben, weil er nicht vor diesen vielen Menschen seinen Gegenspieler John Boock abknallen kann. Die Gewaltlosigkeit siegt letztendlich durch die schiere Macht ihrer Präsenz.

Tom: Okay. Weitere Szenen?

Anni: Wie sie die in der Horizontale vorgefertigten Wände der Scheuen hochheben. Und die tolle Musik dazu. Das Zimmermannswerk. Das Gemeinschaftswerk. Ganz wie in einigen älteren Western, wo alle zusammenkommen, um für ein jungverheiratetes Paar ein Bauwerk zu errichten. Das ist noch so pioniermäßig, bei den Amish. Oder der Tanz von John mit Rachel, oder diese Szene, wo sie dann doch wohl Sex miteinander haben werden. Da ist so viel Natürlichkeit und Leidenschaft drin, einfach schön. Sieht man selten. Nicht nur im Kino sieht man das selten.

Tom: Ich glaub, das hab ich verstanden – noch mehr?

Anni: Oder auf der Polizeiwache, als Samuel erkennt, dass der Mörder ein Cop ist, ohne das natürlich zu wissen, und John große Augen bekommt, weil er merkt, oh, oh, es war der Kollege vom Drogendezernat. Da wurde wohl der typische korrupte und sogar zum Mord fähige Drogencop geboren, der in Tatorten häufig zu sehen ist.

Tom: Den gab’s wohl schon seit der ersten Welle der realistischen Großstadt-Polizeifilme in den frühen 1970ern. Oh ja, zum Beispiel in „Serpico“ (1973), ein Klassefilm.

Anni: Und da gibt es noch mehr Szenen, die toll gefilmt sind, vom Regisseur von „Der Club der toten Dichter“ (1989) oder „Die Truman Show“ (1998). Zwei Oscars gab’s übrigens auch: Fürs Drehbuch und für den Schnitt. Nur die Musik von Maurice Jarre hat mich etwas irritiert, sie klingt so elektronisch. Ganz anders als in den Filmen von David Lean, zu denen er die Scores geschrieben hat („Lawrence von Arabien“, 1962; „Doktor Schiwago“, 1965).

Tom: „Whitness“ ist 20 Jahre später, da ist er einfach mit der  Zeit gegangen und es klingt alles in der Tat „leichter“ oder nicht mehr vollständig sinfonisch. Das hätte zu der Zeit auch nicht so gepasst. Zum Szenario schon, denke ich, heute macht man ja wieder auf großes Orchester. Also, die Gemeinschaft der Amish hat dir gefallen, das hab ich rausgehört.

Anni: Stell dir einfach mal vor, in einem Berliner U-Bahnhof bedroht dich jemand mit der Waffe. Und verstehe den Unterschied. Die Menschen dort leben noch in einer echten Gemeinschaft, jeder steht für den anderen ein.

Tom: Huh … ja, stimmt. Es kennt aber auch jeder jeden, wie das auf dem Dorf nicht nur bei den Amish so ist. Das ist was anderes, als wenn du für jemanden eintreten sollst, der anonym ist. Den Großstädtern wird immer unterstellt, sie seien so teilnahmslos, arm an Zivilcourage, und grausam. Aber das liegt eben einfach daran, dass man einander nicht kennt. Die Leute in diesem Amish-Dorf sind alle untereinander verwandt, das ist eine komplett andere Kiste.

Anni: Und sie sind gewaltfrei. Boah, als der Blödel mit der Basbalcap den netten jungen Amish mit Eis beschmiert, weil er weiß, dass er sich nicht wehren wird, da hätte ich … nein, wir wollen ja gewaltfrei bleiben.

Tom: Aber genau das hat John Boock dann getan und sich dadurch verraten. Da ist es mit ihm durchgegangen, und für mich hängt ganz viel von der Interpretation des Films an dieser Szene.

Anni: Du willst doch damit nicht sagen, dass mit der Szene gezeigt werden sollte, dass man mit Gewaltlosigkeit keinen Blumentopf gewinnen kann?

Tom: Ich glaube, Rachel hat sich auch für John begeistert, weil er männlicher wirkt als die eigenen Leute. Obwohl er sie ja anfangs mit ihrem Sohn zusammen in eine im Grunde illegale Verwahrung genommen hat. Du kannst Zeugen nicht einfach so festhalten. Auch in den USA nicht. Aber Frauen mögen Männer, die im entscheidenden Moment auch mal sagen, jetzt ist gut, jetzt halt ich nicht mehr die andere Backe hin.

Anni: So, meinst du. Wenn alle das aber täten, wäre das Gewaltproblem gelöst – unter der Voraussetzung natürlich, dass alle die Gewaltfreiheit ausüben, wie die Amish. Schau mal, Daniel, der Typ, dem John in die Quere kommt – der sagt schon an, aber er würde sich nie mit John prügeln.

Tom: Jetzt machst du einen Argumentations-Loop. Ich denke, man soll sich einsetzen, wenn’s sein muss, auch mit den Fäusten?

Anni: Um jemanden vor echter Gefahr zu schützen, nicht, um das Alphamännchen zu mimen. Das Machogehabe mag der einen oder anderen Frau, die in entsprechend patriarchalischen Strukturen erzogen ist, imponieren, aber mal etwas nachdenken hilft beim Erkennen der Gefahr: Solche Typen sind in der Ehe dann ja auch nicht gerade sanft und gewaltlos. Ich mag die Amish und ihre Einstellung.

Tom: Auch, dass du kein Handy haben darfst, nicht mal eine Waschmaschine … oh, sorry, nicht mal eine elektrische Zahnbürste? Kein cooles kleines Auto, kein … na, was auch immer.

Anni: Wenn ich in einer solchen Gemeinschaft aufwachse und ihre Werte vertrete, dann akzeptiere ich das auch als Teil des Schutzes, den diese Gemeinschaft  zwischen sich und die „Außenwelt“ mit ihrem ganzen Dreck legt. Oder ich kann gehen. Ich glaube nicht, dass die Amish jemanden umbringen, der sich aus ihrer Gemeinschaft nach reiflicher Prüfung entfernen will. Das dürfen sie ja nicht. Es ist nicht wie bei Scientology.

Tom: Ich kann keine Erfahrungswerte vorweisen. Ich war aber auch nie Teil einer starken religiösen Gemeinschaft. Du hast sehr wohl bemerkt, wie schnell du da einen Bannn kriegen kannst, oder? Bloß, weil du Gefühle zu einem „Engländer“ entwickelst, wie sie bei den Amischen immer noch alle nennen, die nicht dazugehören. Ich find’s irgendwie cool, dass man in den USA jede Lebensform leben darf, aber es ist doch eine Art Sekte, mit ihrem rigiden Verhaltenskodex. Sie erkaufen die Gewaltfreiheit mit einem hohen, also, mit einem sehr, sehr hohen Konformitätszwang. Und irgendwie … ist das für mich auch eine Art Gewalt, die Leute so zum gleich sein zu zwingen, inklusive Klamotten.

Anni: Sie empfinden es doch gar nicht als Zwang. Zumindest solange nicht, wie nicht ein Konflikt durch Gefühle zu einem Außenstehenden ins Spiel kommen. Klar, Abgrenzung ist wichtig, würdest du auf einer Öko-Kommune draußen auf einem Bauernhof auch machen, abzüglich Gott dienen und so,  damit nicht doch nach einiger Zeit wieder alles ist wie vorher. Dieses Dilemma besteht doch immer, dass man nicht alles haben kann.

Tom: Ich kann mir nicht helfen, ich würde mich für die gefährliche Großstadt entscheiden.

Anni: Hast du ja eh getan. Dich von deinem sicheren Job und deiner schönen Welt in den Bergen hierher bewegt, um der Welt direkt ins fiebrige Auge zu gucken. Applaus! Aber du bist auch nicht bei den Amish aufgewachsen. Prägung ist das Zauberwort. Ach, apropos Prägung: Auch eine bemerkenswerte Szene. Wie der kleine Samuel in dem großen Bahnhof in Philadelphia einen Mann mit Hut dastehen sieht und denkt, es ist ein Amish – aber es ist ein Jude, und der guckt mit so einem verächtlichen Blick auf den Jungen. Ist das ein Kommentar?

Tom: In der Tat, ist mir auch aufgefallen, dass man den Mann absichtlich abweisend und unfreundlich gezeigt hat, während vorher eine deutlich nicht nach religiöser  Zugehörigkeit zu identifizierende Mutter mit ihrer Tochter zu sehen war und beiden den „kleinen Amish-Jungen“ süß finden. Man merkt, dass der Film noch vor der PC gedreht wurde, heute wäre diese Szene ein Thema. Aber das ist es auch, was mich oft stört: stark religiös geprägte Menschen lassen es nicht damit bewenden, dass sie Gott auf ihre Weise dienen und finden darin offenbar nicht alleinige Erfüllung, sondern wollen allen anderen auch beibiegen, dass sie die einzigen sind, die am richtigen Rad zur Seligkeit drehen.

Anni: Die Amish nicht. Die wollen nicht missionieren, da kannst du sicher sein. Die kriegen halt so viele Kinder, dass sie nicht aussterben, das reicht ihnen.

Tom: Scheint so. Ich hab gerade den Wiki-Artikel über die Amish überflogen. Schon sehr interessant. Ich finde übrigens, die Rachel-Darstellern Kelly McGillis macht diesen Job hervorragend. Sie hat so eine einfache, etwas bäuerliche, aber durchaus attraktive Ausstrahlung in die Rolle gelegt. Bei den Amish kam der Film nicht so gut an, es hat auch keiner von ihnen darin mitgespielt. Nicht, weil sie sich falsch dargestellt fühlen, sondern aus Prinzip. Showbiz ist nicht gottgefällig. Aber es gibt schon eine Menge Unterschiede zwischen den Amish-Gruppen und natürlich entwickelt sich auch deren Leben – in verschiedene Richtungen sogar.

Anni: Der Mensch will immer was Besonderes sein, und wenn er’s nur durch die Besonderheit seiner Gemeinschaft ist. Geht doch auch. Ich schreib meine Punkte auf.

Tom: Ich auch. Zeig mal deinen Zettel. 8/10. Hab ich auch.

Anni: Ist das jetzt das erste Mal, dass wir einer Meinung sind?

Tom: Wir sind nicht einer Meinung, wir vergeben die gleiche Punktzahl.  Wieso eigentlich nicht mehr als 8?

Anni: Der Film ist mir etwas zu sehr in viele Richtungen angelegt. Copthriller, Romanze, Doku über die Amish. Es ist das Einzelne Element nie hundertprozentig ausgeformt.

Tom:  Ähnlich geht’s mir auch. Er kann nicht mit den besten Copfilmen mit, die Handlungselemente sind sehr deutlich darauf hinkonstruiert, dass John sich irgendwie bei den Amish einnisten muss, damit deren Welt gezeigt wird, und die fiesen Außenweltler sind doch sehr rudimentär geblieben. Dafür fehlt mir bei den Amish schon auch das tiefere Eindringen in deren Welt, das sie wirklich nicht nur zeigt, sondern auch verständlich macht. Die moralische Haltung des Sowohl-als-auch und die Schauspieler, auch das Visuelle, für 1985, sind aber sehr überzeugend.

Anni: Na, 8/10 eben.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2024: Aktuell erhält der Film von den IMDb-Nutzer:innen eine Durchschnittsbewertung von 7,4/10. Für kurze Zeit war er jedoch in der Liste der 250 besten Filme aller Zeiten enthalten und ist damit Bestandteil unseres Projekts, möglichst viele Filme zu rezensieren, die einmal einen Platz auf dieser Liste hatten.

80/100

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