Abschied vom Wahlberliner? | In eigener Sache

In eigener Sache 1/24

 Liebe Leser:innen,

der „neue“ oder zweite Wahlberliner ist mittlerweile beinahe 6 Jahre alt. Der erste hatte es ebenfalls auf sechs Jahre gebracht (2011 bis 2016).

In den Jahren 2011 bis 2016 hatten wir etwa 1.500 Artikel veröffentlicht, seit 2018 sind es beinahe 6.000. So waren wir auch angetreten: Mehr von allem zu machen. Allein unsere Kategorien Crimetime und Filmfest beinhalten mittlerweile mehr als 2.200 Texte.

Damit haben wir bewiesen, dass wir im Durchschnitt 3 Artikel pro Tag verfassen können. Die Tendenz war allerdings über die Jahre hinweg abnehmend.

Weil das insbesondere seit 2022 auch auf die Leserzahlen zutrifft, machen wir jetzt Nägel mit Köpfen. Wir reduzieren die Mindestzahl der Beiträge auf einen pro Tag. Dafür gibt es mehrere gute Gründe und es spricht nicht viel dagegen.

  • Wir wollen und müssen uns anderen Projekten zuwenden, die ertragreicher für uns selbst sind, als der Wahlberliner dies zuletzt war.
  • Wir wiederholen uns immer häufiger, weil sich zwar die politische Lage immer wieder verändert, die Erkenntnisse aber im Wesentlichen dieselben bleiben. Um die Veränderungen aber besser berücksichtigen zu können, werden wir tendenziell fundiertere Artikel veröffentlichen, darunter auch weiterhin informative Serien mit Updates bzw. als Mehrteiler.
  • Wir werden weiterhin mit neuen Formaten experimentieren, die dem gesenkten Zeitbudget für den Wahlberliner Rechnung tragen sollen, zum Beispiel mit einem Wochensammler („Wochenticker“, die Bezeichnung steht noch nicht fest), in dem wir wichtige Themen kurz kommentieren, in der Regel anhand von Quellen und Meinungen anderer.
  • Kulturbeiträge und nicht dem Kulturbereich entstammende Beiträge werden wieder etwa im Verhältnis 1:1 erscheinen (zuletzt 1:2). Das Verhältnis von Filmfest und Crimetime wollen wir nämlich beibehalten (derzeit 2:1), was bedeutet, dass nur noch etwa ein Crimetime-Beitrag pro Woche erscheinen wird. Das reicht gerade, um neue Polizeirufe und Tatorte zu besprechen, wenn man Präsentationen, Vorschauen und Rezensionen nicht getrennt betrachtet, sondern als einen Beitrag zur selben Produktion. Wir erwähnen das so detailliert, weil die Beiträge dieser Kategorien die meisten Zugriffszahlen erzielen. Der Grund ist schlicht: Sie veralten nicht oder nur wenig, im Vergleich zu politischen Artikeln.

So viel zu den Basics.

  • Weitere Überlegungen, die zum Reduktionsentschluss geführt haben, liegen nicht im Bereich des Zeitbudgets oder des Rezeptionserfolgs, aber, wie immer, hängt alles miteinander zusammen. Wir glauben immer weniger, dass Menschen in der Lage sind, sich weiterzuentwickeln. Auf persönlicher Ebene sicherlich, fragt sich dann allerdings, in welche Richtung. Nicht aber gesamtgesellschaftlich. Die Trends der letzten Jahre zeigen, dass wir genau das bekommen, was wir verdient haben, nämlich politischen Mist. Dagegen anzuschreiben, mit so wenig Ressourcen, wie wir sie haben, ist überdehnt. Lieber stärken wir unsere persönliche Resilienz, als uns immer weiter aufzuregen über die Dummheit der Welt.
  • Natürlich werden wir nicht gleichgültig werden, das liegt uns nicht. Aber seitdem wir uns von der Direkt-Berichterstattung über einzelne Projekte in Berlin getrennt haben oder trennen mussten, der äußere Anlass war die Corona-Pandemie, haben wir natürlich auch darüber nachgedacht, wie einseitig Solidarität sein darf. Wir meinen unsere Solidarität, die wir für die Interessen anderer eingesetzt haben. Wir haben noch lange Beiträge anderer gelikt oder geteilt, aus Solidarität, nicht aus als diese das bei uns nicht mehr getan haben. Vielleicht tun wir das künftig sogar wieder häufiger, weil es kaum Zeit kostet. Aber nicht, weil wir bestimmten Vorhaben Erfolgschancen zurechnen, sondern aus einer Sympathie heraus, die wir den „Sachen“ entgegenbringen, die gute Sachen wären, wenn die Menschen dahinter geschlossener auftreten und mehr Breitenwirkung erzielen würden.
  • Selbstverständlich hätten wir mehr tun können. Uns so richtig reinschmeißen, auch real, durch Teilnahme und Verantwortungsübernahme. Aber wenn wir die politischen Entwicklungen betrachten, sind wir geradezu froh, dass wir uns nicht noch mehr Enttäuschungen eingehandelt haben. Menschen können auf persönlicher Ebene sehr bezaubernd sein, aber als Kollektiv, das seine wahren Interessen vertreten sollte, versage sie. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis kann nur sein, einzelnen Personen gegenüber mehr Empathie zu zeigen, vielleicht auch einigen Menschen etwas zu geben, Freude zu schenken. Aber nicht, irgendwem beibringen zu wollen, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte.
  • Das bisherige „Drei-Artikel-Gebot“ für die Arbeit am Wahlberliner ging zu sehr zulasten ebenjener Empathie für Einzelne. Nicht nur aus Zeitgründen, sondern auch, weil der Druck dahinter und der Frust über die nachlassende Rezeption uns belastet haben. Wir haben aber im Leben noch ein paar andere Kleinigkeiten vor, als die sinkende Wirkung dieses Weblogs zu beklagen, und die Selbstfürsorge muss jetzt nach langem Zögern zu einer geänderten Prioritätensetzung führen. Es ist ohnehin gerade eine Zeit der Abschiede, da kommt es auf einen mehr kaum an. Nun ja, ein bisschen Ironie darf dabei sein. Um die Titelfrage explizit zu beantworten: Wir verabschieden uns also nicht Wahlberliner, sondern pflegen ihn weiterhin und treiben Projekte wie die Verwaltung unserer Artikel weiter voran. Wenn nicht mehr so viele dazukommen, ist das ja auch einfacher.
  • Leider sind wir durch Corona aus dem Schwung gerissen worden und haben nie wieder die vorherige Intensität erreicht. Das ging anderen aber auch so, deswegen hatten wir uns ein wenig mehr Verständnis und – sic! -Solidarität erhofft. Vielleicht, unter günstigen Umständen, hätten wir uns wieder auf dem früheren Niveau einfinden können. Sicher ist das aber auch deshalb nicht, weil wir spüren, wie in den letzten Jahren eine Krise nach der anderen die Aufmerksamkeitsökonomie bestimmt hat. Es ist gar nicht mehr so einfach, denen nicht recht  zu geben, die behaupten, all das wird inszeniert, damit die Menschen nicht mehr am sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt arbeiten können, weil sie dafür einfach keine Kapazität mehr haben. Ein Krieg hier, ein Krieg da, eine Pandemie dort, und schon drückt alles nach rechts, hin zu Aggression und Wut, zur Bereitschaft, andere zu zerstören. Selbst Großthemen wie der Klimawandel haben es schwer, sich dagegen zu behaupten und weiterhin die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten. Viel mehr noch  gilt das leider für soziale Gegenstände, mit denen auch die Kultur und die Zivilisation stehen oder fallen. Wir spüren, dass das Insistieren auf Fortschritt derzeit nicht viel Zweck hat. Mithin ein Erfolg derjenigen, die ganz klar und weiterhin unsere Gegner sind.
  • Unsere Erkenntnisse und auch einige Erlebnisse der letzten Jahre haben uns jedoch klar darin bestärkt, kritisch zu bleiben und noch kritischer zu werden. Lediglich können wir das nicht mehr jeden Tag in mehreren Artikeln für den Wahlberliner ausdrücken. Die oben angesprochene Reduktion bedeutet im Übrigen nicht eine Drittelung des Zeitaufwands, da wir ja qualitativ wieder etwas zulegen, möglicherweise auch mehrere Tage an einem Beitrag arbeiten möchten. Wir gehen von einer Halbierung des täglichen Einsatzes für den Wahlberliner aus.  Die tägliche Mindestzahl an Wörtern, die wir veröffentlichen wollen, reduzieren wir von 1.300 auf 600.
  • Dieser Einsatz liegt uns nach wie vor am Herzen, trotz der Erkenntnisse und Erfahrungen, die denen vieler anderer Menschen nicht unähnlich sein dürften. Wir wertschätzen nach wie vor die Möglichkeit, über das, was uns bewegt, schreiben zu können. Dadurch bleiben wir bezüglich des Schreibens in Übung, bleiben am Zeitgeschehen dran, lesen Nachrichten und Meinungen, erhalten uns mithin die Anbindung an alles, was über den Tellerrand hinausgeht. So selbstverständlich ist das nicht, wir mussten uns diese Aufmerksamkeit ab dem Start des ersten Wahlberliners im Jahr 2011 nach langer Pause bezüglich des politischen Interesses richtiggehend erarbeiten und fingen dabei recht klein an. Am 27. März jährt sich die Gründung des ersten Wahlberliners zum 14. Mal, wir überlegen gerade, ob wir einige alte Artikel in einer unserer beiden Timeline-Schienen republizieren und kommentieren.
  • Es geht uns nichts verloren, außer der Enttäuschung über die nachlassenden Leser:innenzahlen. Wir können mittlerweile auch ganz gut mit intrinsischer Motivation arbeiten, aber für sie gibt es natürliche Grenzen.
  • Wir können auch nicht Trends ignorieren wie jenen, dass Weblogs im Stil des Wahlberliners generell nicht mehr die Wirkung erzielen, wie das der Fall war, als wir 2011 gestartet sind. Wir hatten damals fast auf Anhieb die Leser:innenzahlen wie mit wesentlich mehr Aufwand für die zweite Ausgabe des Blocks zu seinen besten Zeiten, als wir aufgrund der Vor-Ort-Berichterstattung und der vielen Gespräche mit anderen über bestimmte politische Themen ganze Tage für dieses Engagement aufgewendet haben. Der erste Wahlberliner war bezüglich seiner Rezeption auch in der Presse und seitens Filmschaffender dem zweiten sogar um einiges voraus. Für das ständige Bespielen der sozialen Medien mit Kurzstatements hingegen fehlt uns derzeit die Motivation. Trotzdem haben wir überlegt, ob wir nicht, siehe oben, wieder etwas mehr kommentieren, liken, teilen werden, möglicherweise auch in einer Form, die keine direkte Verbindung zum Wahlberliner sichtbar werden lässt.

Wir bleiben also der Blogwelt oder dem Bürger:innenjournalismus erhalten. Wir freuen uns auf hoffentlich noch viele Jahre mit unserem virtuell-journalistischen Kind, das hoffentlich nie vollständig erwachsen, also nur noch ökonomisch und egoistisch orientiert sein werden wird und danken Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit, diesen Artikel in eigener Sache und alle anderen Beiträge von uns betreffend.

Die beschlossene Reduktion fällt beinahe zusammen mit dem 27.03.2024, dem 14. Jahrestag der Gründung des ersten Wahlberliners. Danach werden noch es noch für einige Monate zu mehr als einem Artikel pro Tag kommen, weil wir die Rückstände, die aufgelaufen sind, weil wir schon seit einiger Zeit die  vorgesehehen 3 Artikel pro Tag nicht mehr schaffen, noch abarbeiten wollen. 

Thomas Hocke, Berlin, 16.03.204

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