„Frieden schaffen ohne Waffen“: Wie eine traditionelle Parole der Friedensbewegung missbraucht wird. Kritik an den kommenden Ostermärschen. | Briefing 485 | Geopolitik, Gesellschaft

Briefing 485 Geopolitik, Gesellschaft, Ostermärsche, Frieden schaffen ohne Waffen, Waffenstillstand jetzt, Verteidigungsfähigkeit, Bundeswehr, Ukrainekrieg, Gazakrieg

Vor allem am kommenden Samstag werden die Ostermärsche für den Frieden stattfinden, die einst große Menschenmengen bewegten und mit der Marginalisierung der Friedensbewegung immer mehr zu sektierierisch wirkenden Veranstaltungen für ein kleines und spezielles Publikum wurden. Heute könnten diese Märsche wieder sehr aktuell sein. Wenn sie einen vernünftigen Zugang zur Realität zeigen würden.

 „Kriegstüchtig? Nie wieder!“, „Für eine zivile Zeitenwende – Kriege beenden, Aufrüstung stoppen!“, „Waffenstillstand jetzt!“, „Frieden schaffen ohne Waffen“ – unter diesen und ähnlichen Losungen finden ab heute wieder in vielen Städten Ostermärsche statt. Dieses Zeichen ist angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza, angesichts einer neuen Konfrontationspolitik, die die Gefahr einer Eskalation bis zum Weltkrieg in sich birgt, auch dringend nötig. Statt mit Waffenexporten Kriege zu verlängern, statt immer mehr Geld für Aufrüstung zu verpulvern braucht es die Rückkehr zu Diplomatie und Entspannungspolitik als Voraussetzung für ein Leben in Frieden und Sicherheit.

Das obige Zitat stammt aus dem aktuellen, heutigen Newsletter von Sahra Wagenknecht. (Kriegstüchtig? Nie wieder! (sp1-brevo.net))

Schon die Überschrift ist ein Zeugnis von Realitätsverweigerung. Selbstverständlich soll niemals wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Ausgehen meint aber: Von hier aus darf niemals wieder ein Angriffskrieg geführt werden. Kriegstüchtigkeit hingegen ist zwingend Voraussetzung für Verteidigungsfähigkeit. So jedenfalls verstehen wir diesen Begriff, heraus kommt demnach: Es muss möglich sein, einen Verteidigungskrieg zu führen. Ob die Bundeswehr das aktuell könnte und was notwendig ist, um es zu erreichen, darüber darf gestritten werden.

Wir wundern uns zum Beispiel darüber, dass Atommächte wie Großbritannien und Frankreich mit weniger Verteidigungsbudget als Deutschland es neuerdings ausweist, ihre Verteidigungsfähigkeit sichern können, Deutschland aber nicht. Man kann über vieles streiten, was die gegenwärtige Aufrüstungspolitik angeht. Aber wenn man nur herausstellt, dass die Verteidigungskriegstüchtigkeit gegeben sein muss, dann sollte einleuchten, dass daran in einer unfriedlichen Welt kein Weg vorbeiführt, um den Frieden zu erhalten. Man nennt es Abschreckung,  und da Deutschland keine Atomwaffen hat, kann sie nur über eine erstklassige konventionelle Abwehrkriegstüchtigkeit funktionieren – und natürlich im NATO-Verbund.

Wenn man natürlich gerne hätte, dass Putin auch in Deutschland das Sagen hat, darf man das anders sehen, dann sollte man es aber auch offen sagen oder schreiben. Dann sollte man auch zugeben, dass man die Cyberkriegsführung russischer Desinformationsstellen, die längst stattfindet, richtig gut findet und die lasche deutsche Reaktion darauf als Friedensbeitrag abhaken. In diesem Bereich ist die Verteidigungskriegstüchtigkeit zum Beispiel schwach ausgeprägt. Das hat wiederum mehrere Gründe, auch die Demokratieprobleme hierzulande spielen dabei eine Rolle. Im diesem Sinne muss also die Demokratie endlich wieder gestärkt werden, und vielleicht treffen wir uns in diesem Sinne auch mit dem einen oder anderen Ostermarschierer. Wir befürchten aber, da werden wir ziemlich lange suchen müssen. Wir haben bei Ostermärschen in den Jahren mitgemacht, in denen sie nur noch für eine kleine Minderheit interessant waren und haben uns von Menschen umgeben gesehen, die schon damals Frieden als eine Art freiwillige Kapitulationsbereitschaft des Westens aufgefasst haben, vor wem oder was auch immer, natürlich hat auch Freund Putin damals schon eine Rolle in den Überlegungen gespielt.

Einige der Ostermarschierer kennen ganz sicher „Das Lied der Partei“, die Hymne der SED: Darin wird der Stalinismus quasi als Friedenswerk dargestellt, und wer das nicht versteht, der ist dumm oder schlecht. Ein wenig von dieser Ideologie oder auch ein wenig mehr ist erhalten geblieben in dem, was  die Ostermarschierer der „kleinen Zeit“, als die Märsche auch in Berlin auf nicht mehr als 2.000 Personen kamen, vor sich hertrugen: Friedlich war es nach unserer Ansicht nicht, denn Pazifismus zugunsten von barbarischen Diktaturen ist kein Frieden in Freiheit, und für die meisten Menschen im Westen ist ein Frieden ohne Freiheit nach wie vor nicht denkbar. Es sind die Lehren aus höchst unglücklichen Jahren bis 1945 und ganz gut geglückten Jahren bis 1989, die diesen Zusammenhang erwachsen ließen:

Friede ist kein Wert für sich. Friede ist dann wertvoll, wenn er menschenwürdig ist. Diejenigen, die Putin gerne die Ukraine und manch anderes Land überlassen würden, dem Vorsitzenden einer mittlerweile vollständigen Diktatur also, negieren diesen Zusammenhang, obwohl er aus der deutschen Geschichte so klar herausgedeutet werden muss. Man kann viel über den Zustand der hiesigen Demokratie klagen. Das tun wir auch. Wir schauen genau auf jede Verschlechterung. Aber der Abstand zu Systemen wie dem russischen wird eher größter als kleiner, weil sich dort die Autokratie in immer rascherem Tempo manifestiert. Auch deswegen, weil der Krieg das Treibmittel für deren Festigung ist.

Wer also in Deutschland die eingangs zitierten Parolen skandiert, tut in Wirklichkeit folgendes: Er sagt  zum einen, Friede darf gerne auch Grabesruhe sein, er kennt keine qualitativen Aspekte.

Ebenso erschütternd ist aber etwas anderes, was daraus folgt: Es wird so getan, als ob wir Krieg und Frieden im Moment wirklich beeinflussen könnten. Das war während der Zeit der großen Märsche und der zwei Blöcke eher möglich als heute. Denn es gab in Europa keinen Krieg. Es ging also darum, was man mit Entspannung und Abrüstung aktiv vermeiden kann. Wer den Unterschied zu heute nicht sieht, der ist in der Tat dumm oder schlecht. Damals war das Wettrüsten und das Abrüsten in Europa vor allem symbolischer Natur: Man dokumentierte damit eine bestimmte Einstellung und den Willen zu Konfrontation oder Kooperation, ohne dass es schon zu einer heißen Kriegsphase gekommen wäre. In anderen Teilen der Welt war das anders, leider.

Jetzt reden wir aber von einem europäischen Krieg, der längst stattfindet, hier, heute, seit mehr als zwei Jahren. Und was immer ihm vorausgegangen ist, angefangen hat ihn Wladimir Putin. Und in der Verteidigung befindet sich die Ukraine. „Die Waffen nieder!“ ist nach wie vor eine Unverschämtheit gegenüber den Verteidigern und ihren Unterstützern. Auch diesbezüglich haben wir uns häufig mit Details und der Realität befasst. Mit dem Preis für das Weitermachen, mit den Fehlern des Westens und allem, was in die aktuelle Sackgasse geführt hat.

Doch so zu tun, als hätten wir die Möglichkeit, Frieden in dieser Situation zu schaffen, ist blanker Unsinn. Natürlich könnte man die Unterstützung für die Ukraine einstellen, aber es wäre genauso logisch, zu sagen, wir zeigen Putin endlich die Grenzen auf. Das wäre ein großer Beitrag zur künftigen Verteidigungskriegstüchtigkeit. Denn ganz sicher wird es nicht friedlicher in der Welt werden, wenn Putin siegt. Das Thema ist also viel zu kompliziert, um mit naiven oder hinterhältigen, jedenfalls aber populistischen Parolen bearbeitet zu werden.

Wir haben nichts gegen Menschen, die einfach nur Frieden wollen. Wer wollte das nicht, von Kriegsgewinnlern und ihren politischen Handlangern abgesehen? Aber deren Geschäft nicht zu betreiben,  heißt nicht, ins Gegenteil  zu verfallen und aggressiven Autokraten Wehrlosigkeit zu signalisieren, bei der ersten Aggression gleich wegzukippen. Nach unserer Ansicht hat der Westen vor allem den Fehler gemacht, Putin nicht ernst genug zu nehmen. Dessen Angriffskriegstüchtigkeit  zu unterschätzen, ist mittlerweile eine großes Problem geworden.

Wen also müssten die Marschierer an Ostern adressieren? Wladimir Putin natürlich. Er ist derjenige, der Friedfertigkeit zeigen und vom Angriff ablassen kann. Tun die Ersteller der Parolen das? Benennen sie diejenigen, die Macht haben über Krieg und Frieden? Keinesfalls. Sie wenden sich an und gegen die in der Klemme steckende Bundesregierung. Man könnte auch die USA angehen, das kommt sogar vor. Man könnte China vorwerfen, dass es nicht für Frieden sorgt. Das tut von den Ostermarschierern natürlich niemand, dabei ist es das einzige Land, das Putin mit Druck und ohne Krieg zum Einlenken bringen kann.

Das Problem dieser Märsche und ihrer Organisatoren ist die eklatante Einseitigkeit, und die ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist in der Tat ein Ausdruck stalinistischer Ideologie, die in heutigen kommunistischen Kreisen fortwirkt. Deswegen ist dort Antiimperialismus nie äquidistant, sondern immer nur gegen den Westen gerichtet. Das ist auch kein Denkfehler im engeren Sinne, sondern tatsächlich Bestandteil der dort herrschenden Doktrin, nach welcher der Westen grundsätzlich böse ist und alle anderen sind grundsätzlich gut.

Diese Einstellung führt dazu, dass Putins Regime sich entwickeln kann, wie es will, es wird immer unterstützt. Jede antiwestliche Diktatur, wie grausam sie auch sein mag, wird immer unterstützt. Wie infam und gegen alle Menschenrechte gerichtet ist, wie heuchlerisch im Sinne einer friedlichen Koexistenz aller in Frieden, müssen wir nicht näher erläutern. Denn damit wird ganz sicher kein Frieden gefördert, sondern es werden gutwillige, naive Menschen manipuliert. Die oben zitierte Sahra Wagenknecht ist mehr, als mancher denken mag, noch immer von dieser Ideologie geprägt, auch wenn sie nicht mehr Mitglied einer kommunistischen Organisation ist (damit ist die KPF innerhalb von Die Linke gemeint, nicht Die Linke als Gesamtpartei).

Hinter diesen Anklagen gegen eine deutsche Regierung, die versucht, in diesen Zeiten Maß zu halten, ohne sich als Verrätertruppe zu erweisen, steckt nichts anderes als die Idee, diesen Staat zu desorganisieren. Zusammen mit der AfD, auch das muss man ganz klar benennen. Sozialpolitische Unterschiede treten in diesen Tagen gegen die gemeinsamen Angriffe auf Freiheit und Demokratie zurück, wenn propagiert wird, dass Putin doch bitte das Feld der Ukraine übernehmen möge und sich danach zum nächsten Waffengang bereit machen darf. Die Kandidaten für die nächsten Überfälle durch Russland stehen schon fest: Moldawien, Georgien.

Das Baltikum? Das wollen wir wirklich nicht hoffen, sonst wird es ganz, ganz eng auch für uns hier in Deutschland.

Dann werden wir nämlich entscheiden müssen, ob wir im Sinne der Ostermarschierer lieber unter Putin leben wollen, in einem Diktatfrieden der Unfreiheit, oder ob wir vielleicht doch die Freiheit verteidigen möchten. Wenn wir sagen, dass wir das möchten, dann muss das Land verteidigungskriegstüchtig sein. Daran darf dann kein Zweifel bestehen: Ein Angriff darauf wird ein Angriff sein, den der Westen mit ganzer Kraft beantworten wird. Wenn Deutschland im Falle eines solchen Angriffs seiner Verteidigungspflicht nach Art. 5 der NATO-Charta nicht nachkommen sollte, werden wir die Freiheit verlieren.

Damit ist die Frage, wie weiter in der Ukraine? leider nicht beantwortet. Das wissen wir natürlich, wir sind ja auch nicht so hintersinnig, mit Parolen anstatt Fakten und Problemen an unsere Leser:innen heranzutreten. Wir können diese Frage auch nicht beantworten. Historische Fehler haben zu einer Verknotung der Lage geführt, die uns noch viel Kopfzerbrechen bereiten wird. Aber gerade jetzt, wo einige wieder scheinbar einfache Lösungen fordern, möchten wir den Akzent nicht auf die Probleme legen, sondern darauf, dass diese Lösungen eine Bankrotterklärung für einen jeden freiheitsliebenden Menschen sind. Klar, funktionieren würden sie. Aber es wäre eine andere Welt, in der wir dann leben würden. Und bei aller Kritik an der Bundesregierung: Die Herren Xi und Putin möchten wir nicht als unsere Regenten sehen, denn das wären sie, Regenten mit absoluter Macht, unter deren Herrschaft wir Texte wie diesen nicht mehr schreiben dürften. Mit etwas Pech würden wir sogar nachträglich für sie belangt werden, obwohl sie nur den Wunsch nach echtem Frieden in Freiheit ausdrücken.

Die Ostermarschierer haben neben der Ukraine eine zweite Kriegshandlung dieser Tage im Blick, das wollen wir noch erwähnen, weil wir da näher beieinander sind: Es muss unbedingt eine Waffenruhe in Gaza geben, jetzt, dauerhaft, die humanitäre Katastrophe muss ein Ende haben. Denn hier verteidigt sich nicht ein angegriffenes Volk aktiv, wie in der Ukraine, das darüber mitbestimmen kann, wie lange es standhält, sondern hier werden aufgrund des infamen Terrorakts einer radikalen und gewalttätigen Minderheit Millionen von wehrlosen Menschen in tödlicher Bedrohung gehalten und Zigtausende umgebracht. Das ist eine grundsätzlich andere Lage, die unter anderen Vorzeichen entstanden ist. Leider gilt auch hier: Was wir fordern, wird den Krieg nicht stoppen. Es können nur die Machtstaaten ein Machtwort sprechen.  Wenn wir die Fahne mit der Friedenstaube hochhalten würden in dieser Sache, wären wir primiert angesichts unserer Machtlosigkeit, nicht zusätzlich mit dem Gefühl unterwegs, auf der falschen Spur zu sein.

Wir haben uns dazu vor wenigen Tagen ausführlicher geäußert und die Politik des Westens und Israels kritisch kommentiert.

Aus unserer Position heraus, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechte für alle gelten müssen, weil es nicht darum geht, einem Volk vorzuschreiben, ob es sich verteidigen darf, sondern darum, eine humanitäre Katastrophe unter Wehrlosen zu begrenzen, sind wir in diesem Fall aber eher bereit, zu sagen: dafür würden wir auch mitgehen. Leider ist festzuhalten, dass sich bei den Ostermärschen das alles miteinander vermengen wird und sich dabei nichts zeigen kann, was uns im Ganzen überzeugen würde. Daher schreiben wir lieber, das ermöglicht uns mehr Differenzierung.

Gerade aus einer linken Position heraus darf man nicht Parolen unterstützen, die allzu deutlich auf eine Preisgabe jedweder linken Politik zielen. Das ist der Kern dessen, was wir mit diesem Beitrag ausdrücken möchten. Gleichwohl müssen wir heute alle Opfer der laufenden und vergangener Konflikte ins Herz schließen. Die Botschaft unserer Zeit muss aber sein: Friedfertigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Wehrlosigkeit. Müssen wir tatsächlich noch einmal die fatale Appeasement-Politik Hitler gegenüber bemühen, um klarzustellen, wie wichtig es ist, verteidigungsbereit zu sein in einer so unübersichtlichen Welt wie der heutigen, in der Autokratien und aggressive Regimes auf dem Vormarsch sind?

„Frieden schaffen ohne Waffen“ ist ein Spruch aus der Zeit der Abrüstung zwischen dem Ostblock und dem des Westens, aus den 1970ern im Wesentlichen, den man bis 1989 mit guter Begründung fortschreiben konnte. Damals gab es nicht das Dilemma, dass Abrüstung und Freiheit nicht kompatibel waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gab es Zeichen der Entspannung im Sinne eher einer friedlicheren Konkurrenz als einer echten Koexistenz, aber immerhin. Wer das auf die heutige Situation fortschreiben möchte, redet Unfug oder, siehe oben, redet der Weltdiktatur das Wort. Damit identifizieren wir uns nicht und bleiben am Samstag oder Sonntag – nicht unbedingt zu Hause, aber den „vielen Veranstaltungen in vielen Städten“ fern.

TH

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