„Argentiniens gefährliches Experiment“ (Verfassungsblog + Kommentar) | Briefing 494 | PPP, Demokratie in Gefahr, Geopolitik

Briefing 495 Demokratie, Personen, Politik, Parteien, Argentinien, Javier Milei

Heute widmen wir uns mit der Republiaktion des aktuellen Leitartikels des Verfassungsblogs einem Land, das etwas aus dem Fokus liegt. Es ist weit weg, es ist aktuell nicht an einem Krieg beteiligt. Viele werden aber mitbekommen haben, dass Argentinien eine neue Regierung hat, die sich dezidierter als die jedes anderen südamerikanischen Landes dem Westen zuwendet. Weil sie die demokratischen Werte des Westens teilt?

Über das „neue Argentinien“ hat ein argentinischer Rechtsprofessor geschrieben, der eine führende Position im nationalen Wissenschaftsbetrieb einnimmt. Wir kommentieren kurz im Anschluss aus geopolitischer und demokratietechnischer Sicht.

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Argentiniens gefährliches Experiment – Ein Brief aus Buenos Aires

Roberto Gargarella

Seit der Wahl von Javier Milei zum Präsidenten der Republik führt Argentinien ein  extremistischesunerwartetes und gefährliches politisches Experiment durch. Erlauben Sie mir, in den folgenden Absätzen den Versuch zu unternehmen, diese Aussage zu begründen.

Wenn das Experiment, das wir heute in Argentinien sehen, als extremistisch bezeichnet werden kann, dann deshalb, weil es von einem Präsidenten geleitet wird, der sich selbst als Anarcho-Kapitalist definiert (eine extravagante Strömung im Spektrum politischer Ideologien) – und der vorgibt, als solcher zu handeln. Tatsächlich hat das Oberhaupt der Exekutive etwa erklärt, dass der Staat „schlimmer als die Mafia” sei (weil die Mafia, so Milei, zumindest „Verhaltenskodizes“ habe), den Staat als „Vergewaltiger” bezeichnet, der „zerstört“ werden müsse, behauptet, dass die Demokratie („wie bereits von Arrow bewiesen“) ein System sei, das nicht funktioniere, das öffentliche Bildungssystem (einst Grund für nationalen Stolz) als „Gehirnwäsche-Mechanismus“ verurteilt, usw.

Bei alledem geht es nicht nur um Worte: In dem kurzen Zeitraum von nur drei Monaten seit Amtsantritt hat er auch entsprechend gehandelt, hauptsächlich durch ein Wirtschaftsprogramm, das bisher überwiegend darauf abzielt, drastische Einschnitte in staatliche „Ausgaben“ für Gesundheit, Bildung, Sozialhilfe und vor allem das Rentensystem durchzusetzen – all dies vor dem Hintergrund tiefer wirtschaftlicher Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeiten.

Unerwartet ist das Experiment, wenn man es im nationalen und regionalen Kontext verortet. Einerseits ist die Milei-Regierung vor dem Hintergrund der politischen Geschichte Argentiniens unerwartet – einer Geschichte, die seit mehr als einem Jahrhundert durch die Präsenz starker politischer Parteien (die „radikale Partei“, eine Mitte-/Mitte-links-Partei, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts existiert und die peronistische Partei, die seit 1945 besteht) und durch ein (bisher) stabiles institutionelles Gefüge geprägt ist (einschließlich eines gut verankerten Justizsystems, eines starken und funktionsfähigen Kongresses und populärer und autonomer Provinzregierungen). Im regionalen Kontext ist das Experiment unterwartet, weil wir wissen, dass in Venezuela das Parteiensystem in den 1990er Jahren zusammengebrochen ist (mit der Krise der Acción Democrática und der christlich-sozialen Partei sowie der Machtergreifung des Militärs Hugo Chávez). Wir wissen auch, dass in Peru das Parteiensystem praktisch zusammengebrochen ist (nach der Krise historischer Parteien wie der APRA, gegründet von Raúl Haya de la Torre). Und wir wissen schließlich, dass Brasilien lange unter der Tragödie eines stark fragmentierten Kongresses gelitten hat, was die Regierungsfähigkeit behindert. Angesichts all dieser Beispiele schienen Fälle wie die von Argentinien (oder Chile oder Uruguay) – zumindest auf den ersten Blick – besser in der Lage zu sein, einigen der ernsthaftesten politischen „Dramen” unserer Zeit zu widerstehen. Ich denke dabei an das „Drama“, „populistische“ Präsidenten zu haben (d.h., autoritäre Präsidenten, die vorgeben, über oder gegen die etablierten Institutionen zu herrschen) und das „Drama“ „erodierter Demokratien“ (d.h., Systeme von „checks and balances“, die von innen heraus erodiert wurden).

Argentiniens Experiment ist jedoch auch gefährlich, insbesondere wenn wir den Blick auf ähnliche Erfahrungen der Gegenwart richten: Fälle wie die von Jair Bolsonaro in Brasilien, Donald Trump in den Vereinigten Staaten, Recep Erdogan in der Türkei oder Viktor Orbán in Ungarn. Da diese Erfahrungen bekannt sind, werde ich nicht näher erklären, welche Risiken sie mit sich bringen.

Lassen Sie mich nur sagen, dass in Argentinien bereits in den ersten drei Monaten der neuen Regierung zahlreiche Ereignisse Grund zur Sorge geben. Das trifft insbesondere auf die ersten drei der von der neuen Regierung beförderten Gesetzesinitiativen zu – sowohl bezüglich ihres Inhalts als auch bezüglich ihrer Form. Dazu gehören etwa ein “Anti-Protest” oder “Anti-Streik” Protokoll (das – obwohl gerichtlich angefochten – noch in Kraft ist). Dazu gehört ein offensichtlich verfassungswidriges Exekutivdekret, mit dem die Regierung beabsichtigte, substantielle wirtschaftliche Reformen durchzuführen (die nicht per Dekret durchgeführt werden können), mehr als 40 Gesetze aufzuheben und das Zivilgesetzbuch teilweise zu ändern (das Exekutivdekret wurde von den Gerichten in mehreren Aspekten für verfassungswidrig erklärt, ist aber teilweise immer noch in Kraft). Und dazu gehört schließlich ein außerordentlich ehrgeiziges Gesetzesvorhaben (das Proyecto Bases), das die Regierung aufgrund von Meinungsverschiedenheiten vorerst aus der parlamentarischen Diskussion zurückgezogen hat.

Darüber hinaus gab es Bestrebungen der neuen Regierung, die Streitkräfte wieder in Fragen der inneren Sicherheit zu integrieren (etwas, das laut Gesetz in Anbetracht der nationalen Geschichte verboten ist), harsche Ansagen des Präsidenten gegen alle seine Gegner, oder auch provokative „anti-feministische“ Maßnahmen (wie etwa die Auflösung des „Frauenhauses“ am Frauentag), die anscheinend der (selbst auferlegten) „Mission“ der Regierung dienen sollen, „einen Krieg gegen den Kommunismus” zu führen.

Kurz gesagt, es handelt sich um eine Regierung, die eine Mischung aus Improvisation, Unvernunft, politischer Ungeschicklichkeit und einer gewissen provokanten Grausamkeit in den meisten ihrer Handlungen an den Tag legt (vielleicht beeinflusst durch die Besessenheit des Präsidenten von Twitter/X und der Welt der sozialen Netzwerke) – all dies vor dem Hintergrund eines tiefen sozialen Unbehagens und politischer Instabilität.

Ich möchte am Ende mit einigen Überlegungen abschließen, die darauf abzielen, ein Phänomen besser zu verstehen, das sehr schwer zu verstehen scheint, aber das wir verstehen müssen, um seine Wiederholung oder Verschärfung zu vermeiden. Eine entscheidende Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Was könnte uns in diese extreme, unerwartete und gefährliche Situation geführt haben? Lassen Sie mich beim Nachdenken über eine mögliche Antwort auf diese Frage auf eine kürzliche Aussage des bekannten politischen Philosophen Charles Taylor zurückgreifen. Nach Taylor ist das, was in vielen unserer konstitutionellen Demokratien passiert, „Teil eines breiteren Phänomens der Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und Wünschen der gewöhnlichen Menschen und unserem System der repräsentativen Demokratie“ (Taylor et al., 2020). Ich denke, dass wir – ähnlich der Beobachtung Taylors – in einem großen Teil Lateinamerikas (um nicht zu sagen den meisten westlichen Ländern) und zweifellos auch in Argentinien, eine ernste institutionelle Krise durchlaufen, die nicht konjunkturell, sondern epochal ist – und in deren Kern eine unheilbare, unumkehrbare Krise des Systems der politischen Repräsentation steht.

Nach meinem Verständnis – und das ist die These, die ich in diesen wenigen Zeilen aufstelle – haben wir in vielen Ländern der Region ein institutionelles System (in dieser Hinsicht deckt sich die Beobachtung mit den Vereinigten Staaten), das für eine Gesellschaft entworfen wurde, die nicht mehr existiert. Es handelt sich um ein institutionelles Design, das auf der Grundlage einer “politischen Soziologie” entworfen wurde, die wir heute nicht mehr als unsere eigene annehmen können – ein System, das für Gesellschaften entworfen wurde, die nicht nur relativ klein sind in Bezug auf die Anzahl ihrer Mitglieder, sondern auch und vor allem in wenige intern homogene Gruppen aufgeteilt ist. Im Falle der Vereinigten Staaten von 1787 war es eine Gesellschaft, die zwischen großen und kleinen Grundbesitzern, Kaufleuten, Handwerkern und dergleichen aufgeteilt war. In den Worten von James Madison war die amerikanische Gesellschaft eine zwischen den „Reichen“ und den „Armen“ geteilte Gesellschaft, zwischen „den Wenigen“ und „den Vielen“, den „Gläubigern“ und den „Schuldnern“ – wenige Gruppen mit homogenen Interessen.

Mit dieser politischen Soziologie im Hinterkopf könnte es vernünftig gewesen sein, ein verfassungsrechtliches Gefüge wie das damals vorgeschlagene zu entwerfen. Ein Gefüge, das darauf abzielte, die ganze Gesellschaft in das institutionelle System einzubeziehen oder anzupassen (dies war tatsächlich das Ziel des Modells der „gemischten Verfassung“: Eine angemessene Verfassung musste in der Lage sein, alle verschiedenen „Sektionen“ der Gesellschaft zu repräsentieren). Mit der Zeit ist dieser „Traum vollständiger Repräsentation“ jedoch zu Ende gegangen. Heute erkennen wir alle, dass wir in grundlegend multikulturellen Gesellschaften leben (geprägt durch „die Tatsache des Pluralismus“, nach John Rawls), die in eine unendliche Anzahl von radikal heterogenen Gruppen unterteilt sind. In einem solchen Rahmen ist es undenkbar zu glauben, dass – sagen wir – „einige Arbeiter“, die im Kongress vertreten sind, die ganze „Arbeiterklasse“ repräsentieren können, oder dass einige Aristokraten es schaffen werden, „die Oberschicht“ zu repräsentieren (wie im ursprünglichen englischen System des Unterhauses und des Oberhauses). Kurz gesagt, nach mehr als zweihundert Jahren halten wir immer noch an einem veralteten institutionellen Gefüge fest, das vollends unfähig ist, seine ursprüngliche Funktion noch zu erfüllen. Es ist keineswegs so, dass eine „korrupte“ politische Klasse („die Kaste“, wie Präsident Milei sie nennt) sich die Politik angeeignet hat (und wir daher nichts anderes tun müssen, als die „Kaste“ durch Menschen zu ersetzen, die kein Teil von ihr sind). Selbst wenn es perfekt funktionieren würde, wäre das institutionelle System nicht in der Lage, die gesamte Gesellschaft zu repräsentieren – ganz so, als ob wir in unserer Kindheit einen Anzug erworben hätten, der unserem Körper nun nicht mehr passt und auch nie passen wird, egal wie sehr wir seine Ärmel dehnen oder neue Knöpfe hinzufügen. Der „Verfassungsanzug“ wurde nicht für einen sozialen „Körper“ wie den aktuellen entworfen.

In diesem Kontext ist (und bleibt) die „Dissonanz“ zwischen den „Bedürfnissen und Wünschen“ der Bürgerschaft und dem bestehenden institutionellen System sehr stark – etwas, das „demokratische Qualen“ und „soziale Wut“ hervorrufen wird. Innerhalb dieses institutionellen Szenarios ist es nicht merkwürdig, sondern im Gegenteil zu erwarten, dass „Führer“ auftauchen, die darauf abzielen, jenen anhaltenden sozialen Ärger auszunutzen. Wir müssen damit rechnen, dass neue „Führer“ kommen, die eine aggressive und zerstörerische Rhetorik gegenüber den etablierten Institutionen anschlagen. Die Herausforderung besteht also darin, darüber nachzudenken, wie demokratisches Leben in einem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext neu organisiert werden kann, der nie wieder derselbe sein wird wie vor zweihundert Jahren.

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Kommentar

Zu Beginn des Artikels dachten wir, jetzt bekommen wir Argumente in die  Hand, die belegen, warum auch im Westen ein Typ, bei dem der Vergleich mit Trump, Bolsonaro et alii naheliegt, nicht als der ideale Partner für den geopolitischen Erfolg angesehen wird, den der Westen angesichts seiner vielen Fails der letzten Jahrzehnte dringend braucht. Eine sichere Bank in Südamerika, das wäre doch ganz wichtig, denn der Kontinent ist immer in Unruhe, wirkt nie politisch stabil.

Dann lesen wir weiter und merken, wie der Autor das, was in Argentinien geschieht, verallgemeinert und auf uns zurückspiegelt. Er stellt uns eine Frage, die uns noch lange beschäftigen wird: Können wir die Demokraitien in ihrer jetzigen Form überhaupt retten – und wäre dazu nicht eine homogenere Gesellschaft notwendig? Hätten nicht diejenigen recht, die sagen, wir diversifizieren uns zu Tode, und, das fügen wir hinzu, zerstören damit die Demokratie? Wenn wir Roberto Gargarella richtig lesen, merken wir aber auch, dass es schon zu spät ist. Es wird nie wieder werden, wie es war, als große, aber in sich halbwegs geschlossene Gruppen wie das Kapital und die Arbeiter einander gegenüberstanden und durch Checks und Balances demokratisch kanalisiert wurden.

Einst reichten in Deutschland drei Parteien aus, um einigermaßen jeden zufriedenzustellen. In Ostdeutschland nur eine und ein paar Blockflöten, aber darauf kommen wir noch zurück, denn erstens waren die Menschen dort nicht sehr zufrieden und zweitens ist der Osten trotz größerer Homogenität der Milieus geradezu ein Schrittmacher beim Zersetzen der Demokratie. Nun, um es hier schon kurz zu machen: Die Diktaturerfahrung belastet jedes nachfolgende System, und diese Erfahrung hat im Westen nur 12 Jahre gedauert und im Osten über 50 Jahre. Damit ist Ostdeutschland nicht vergleichbar mit den traditionellen westlichen Demokratien, die Gargarella als Beleg für die zunehmende Dysfunktionalität der Institutionen heranzieht, Westdeutschland ebenfalls nicht ganz, aber schon eher.

Der Artikel ist schrecklich, vor allem, weil er sich rein analytisch aufstellt und keine Lösung anbietet. Wenn das, was darin geschrieben steht, stimmt, dann werden unsere Demokratien zwangsläufig weiter den Bach runtergehen. Dann ist das, was in den Indizes, die sich mit Freiheit und Demokratie befassen (zuletzt haben wir uns mit dem Maß des Freedom House befasst), nur eine konsequente Folge der sich verändernden Gesellschaften.

Niemals in der Menschheitsgeschichte waren Gesellschaften so heterogen wie heute. Und dieses Rad lässt sich nicht zurückdrehen. Mit einem Schlag versteht man auch, wie Nationalisten ticken: Sie versuchen, dieses Problem durch die Rückbesinnung auf eine gemeinsame Nationalität und nationale Identität zu lösen. Die Nazis waren insofern geradezu avantgardistisch. Nationalismus gab es immer schon, aber er wurde seit dem späten 19. Jahrhundert durch eine machtvolle, internationalistische Arbeiterbewegung gekontert. Seine totalradikale Durchsetzung in einer im Grunde auf die Stärkung sozialer Rechte und universalistischer Ansätze ausgerechneten Entwicklungsphase der westlichen Gesellschaften erforderte einen Typus von Führung, wie die Nazis ihn umgesetzt hatten, um diesen Trend zu brechen. Wie wir wissen, haben die Nazis einer Gruppe aber nicht geschadet, während andere unsäglich litten: dem Kapital.

Das Kapital ist auch heute noch die homogenste aller gesellschaftlichen Gruppen und es vernetzt seine Interessen weitaus besser als jede andere es noch kann. Der Auflösung der organisierten Macht der Arbeitenden steht keinesfalls eine Auflösung der Organisationsmacht des Kapitals gegenüber. Da Gargarella keine Konsequenzen aus seinen Beobachtungen zieht, könnte man auf die Idee kommen, er rede eine Renationalisierung das Wort. Das stimmt aber nicht, denn diese wäre ja dann eine Art Kur für die bestehenden Institutionen und daran glaubt Gargarella nicht, dass es eine Kur für diese gibt, die tatsächlich anschlägt. Es musste an dieser Stelle dazu kommen, dass wir nachgeforscht haben, wofür Gargarella politisch steht. Da Spanisch hierzulande nicht sehr weit verbreitet ist, haben wir den spanischsprachigen entscheidenden Abschnitt  über Gargarella in der Wikipedia ins Englische übersetzen lassen:

Gargarella maintains a deliberative conception of democracy based on dialogic experience (Habermas), the limits to the punitive penal response, and the principles that form the very foundations of the rule of law (autonomy, inviolability, and dignity of the person). This is the basis of his criteria when it comes to showing alternatives to issues such as prison sentences or the need for a robust public debate that includes the State and its population. He also defends the ethical construction of constitutional principles, considering them as moral principles, a position typical of Kantian rationalist naturalism. Likewise, it rejects perfectionist arguments that imply the imposition of ideals of personal excellence that are alien to the free decision of the individual; All this to the extent that it assumes elementary civic virtues and accepts minimum standards of the democratic system.

Wir haben den gesamten Wiki-Artikel über ihn ins Deutsche übersetzen lassen:

Roberto Gargarella (geboren 1964 in Buenos Aires) ist ein argentinischer Anwalt, Jurist, Soziologe, Schriftsteller und Akademiker, der sich auf Menschenrechte, Demokratie, politische Philosophie, Verfassungsrecht sowie Gleichheit und Entwicklung spezialisiert hat1Derzeit ist er Professor an der Universidad Torcuato Di Tella und an der Universidad de Buenos Aires und leitender Forscher des Projekts “Institutional Changes for Democratic Dialogue (ICDD)”, das vom Europäischen Forschungsrat an der Universität Pompeu Fabra finanziert wird2.

Außerdem ist er Direktor der Argentinischen Zeitschrift für Rechtstheorie.

Er erwarb seinen Abschluss als Anwalt an der Universidad de Buenos Aires im Jahr 1985, als Soziologe im Jahr 1987, einen Master in Politikwissenschaft an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften in Buenos Aires im Jahr 1990 und promovierte im Recht an der Universidad de Buenos Aires im Jahr 1991. Seine postdoktoralen Studien absolvierte er am Balliol College in Oxford im Jahr 19943.

Von 1989 bis 1991 war er Forscher am Zentrum für Institutionelle Studien. Er war Gastprofessor an der Columbia University im Jahr 2003, an der New York University im Jahr 2000, an der Universität Bergen im Jahr 2003, an der Southwestern University School of Law im Jahr 2002, an der Universität Oslo im Jahr 1997 und an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona von 1993 bis 19994.

Er erhielt mehrere Stipendien von der Fundación Antorchas, dem British Council und der John Simon Guggenheim Foundation5.

Er war unter anderem Professor für Soziologie im Doktorandenprogramm, Professor für Politische Philosophie, Rechtsphilosophie und Forscher am CONICET.

Im Jahr 2014 erhielt er das Diplom al Mérito der Konex-Preise in der Disziplin “Politischer und Soziologischer Essay” und erneut im Jahr 2016, diesmal in der Disziplin „Theorie und Philosophie des Rechts“6Im Juli 2019 wurde er zum Ehrendoktor der Universität Valparaíso (Chile) ernannt7.

Seine erste theoretische Ausbildung ist eng mit dem Werk von Carlos Nino verbunden, dessen Schüler er in seiner frühen Jugend war und mit dem er ein Buch über den argentinischen Präsidentialismus veröffentlichte. Der plötzliche Tod seines Lehrers hinderte Gargarella nicht daran, die erhaltene Ausbildung zu vertiefen, die er mit Nuancen in seinem gesamten späteren Werk beibehält.

Neben seinem Lehrer Carlos Nino haben zahlreiche Autoren und Werke Gargarellas Denken beeinflusst und werden häufig zitiert:

Gargarella vertritt eine deliberative Auffassung der Demokratie, die auf der dialogischen Erfahrung (Habermas) basiert, die Grenzen der punitiven strafrechtlichen Antwort und die Prinzipien, die die Grundlagen des Rechtsstaates bilden (Autonomie, Unverletzlichkeit und Würde der Person). Darauf basiert er seine Kriterien, wenn er Alternativen zu Themen wie Gefängnisstrafen oder die Notwendigkeit einer robusten öffentlichen Debatte aufzeigt, die den Staat und seine Bevölkerung einschließt. Er verteidigt auch den ethischen Aufbau der Verfassungsprinzipien, indem er sie als moralische Prinzipien betrachtet, eine Haltung, die dem rationalistischen Naturrecht Kants eigen ist. Ebenso lehnt er perfektionistische Argumente ab, die die Auferlegung von Idealen persönlicher Exzellenz beinhalten, die nicht auf der freien Entscheidung des Einzelnen beruhen; dies alles, solange der Einzelne elementare bürgerliche Tugenden annimmt und Mindeststandards des demokratischen Systems akzeptiert.

Weitere seiner Anliegen konzentrieren sich auf die Theorie der Gerechtigkeit, in deren Analyse er das Werk von John Rawls aktualisiert und die theoretischen Diskussionen über die gerechte Entwicklung der Demokratien, insbesondere im Hinblick auf die verwundbarsten Sektoren der Gesellschaft, auf den neuesten Stand gebracht hat.

Er koordiniert ein Seminar für Verfassungstheorie und Politische Philosophie an der Juristischen Fakultät der Universidad de Buenos Aires. Er ist der Direktor der Argentinischen Zeitschrift für Rechtstheorie, deren Herausgeber Studenten der Universidad Torcuato di Tella sind8.

Am 12. April 2018 nahm Roberto Gargarella an der zweiten Debatte über die Legalisierung von Abtreibungen in Argentinien im 2. Plenum der Kommissionen des Nationalkongresses teil und äußerte seine Unterstützung für die Abtreibung mit den Worten: “Wenn es heute in Südafrika ein rassistisches Gesetz gäbe, das von einer weißen Minderheit geschrieben wurde, hätte es keine Gültigkeit, weil es keine demokratische Übereinkunft gibt, die es unterstützt”. Die derzeitige Abtreibungsgesetzgebung ist von “katholischen Männern” geschrieben, daher ist sie juristisch anfechtbar.

Er hat mehr als 25 Bücher und zahlreiche Artikel verfasst. Zu diesen gehören:

Wir halten diesen Exkurs über einen Mann, der in Deutschland nur Insidern bekannt sein dürfte, für notwendig, um wenigstens vermuten zu können, wie sein Artikel weitergegangen wäre, hätte er auch Vorschlags- oder gar Appellfunktion:

Er hätte die Herrschafts des Rechts nach vorne gerückt, weniger auf die Herrschaft der Institutionen abgehoben, als das in der aktuellen politischen Diskussion der Fall ist, sofern es nicht gerade um das AfD-Verbot geht, das aber Herausforderung für den Umgang der Institutionen mit dem Verfassungsrecht ist, die dem Wandel der Zeit nicht mehr gewachsen scheinen und sich damit nah bei vielen Autor:innen des Verfassungsblogs befunden, die immer wieder prüfen, wie sich die Institutionen zum Recht verhalten, was im Grunde nur in demokratischen Gesellschaften überhaupt einen Sinn ergibt. Ob dabei herausgekommen wäre, dass zum Beispiel die Institutionen so umgebaut werden müssen, dass sie vor Angriffen der Antidemokraten besser geschützt werden können?

Wenn Gargarella auf die Kraft des gesellschaftlichen Diskurses setzt, im Sinne von Habermas, dann würde sich daraus, würde er konsequent und aufrichtig geführt, unzweifelhaft ergeben, dass die Institutionen der repräsentativen Demokratie westlicher Prägung ein Problem exakt dort haben, woraus sie ihre Legitimation ziehen, nämlich aus der Repräsentation (fast) aller Teile der Bevölkerung.

Sehr treffend beschreibt Gargarella den zunehmenden Frust vieler Menschen in Demokratien darüber, dass die Institutionen nicht mehr als ihren Bedürfnissen gemäß handelnd angesehen werden und die Gefahr, dass Populisten daraus Honig ziehen, während auch sie nach Gargarellas Ansicht nicht in der Lage sein werden, die Institutionen wieder zweckgemäß zu organisieren. Sie könnten diese aber abschaffen, und zwar ohne gesellschaftlichen Diskurs.

Sofern sich Gargarella an Kant und Habermas orientiert, ist das auf der einen Seite ein Ansatz, der die Demokratie so umgestalten könnte, dass sie wieder mehr Menschen mitnimmt, auf der anderen Seite ist es ein Modell, das eine rundum bestimmten Prinzipien des Rechts, inklusive der moralischen Komponente, als mehrheitlich in der Tat akzeptiert voraussetzt.

Im Grunde, ohne es so zu hinterlegen, fordern wir das schon lange: Eine Zivilgesellschaft der Vielen und Vielfältigen bündelte ihre Interessen und bewegt sich dort, wo diese Interessen liegen, selbstständig auf deren Aushandlung mit anderen Interessen zu. Die starke Institutionalisierung der deutschen Demokratie hat allerdings auch sehr gute Gründe, die aus der Vergangenheit resultieren. Aus jener Vergangenheit, in welcher der Gesellschaftsdiskurs durch den angenommenen Willen der Mehrheit, der Volksgemeinschaft, ersetzt wurde, unter Ausschaltung aller Moralität, die zur Etablierung von Menschenrechten führt.

Die Frage, die wir uns nun stellen, ist nicht mehr, wie Gargarella seine Kritik an den Institutionen versteht, das tut er nämlich einem sehr prodemokratischen und dem Recht verpflichteten Sinn, sondern, ob die Philosophen, die von Aufklärung und einer hohen, wohl auch wachsenden Kapazität der Gesellschaft bezüglich ihrer Fähigkeiten zum politischen Diskurs ausgehen, nicht letztlich ein zu positives Menschenbild haben oder es am Ende doch auf eine Elitendiskussion hinauslaufen wird, weil die Diskursfähigkeit in der allgemeinen Bevölkerung ganz ersichtlich mehr abnimmt als zunimmt. Es hat Gründe in den Gesellschaften selbst, dass sie Männer wie Milei und andere in ihre Ämter wählen. Sicher, es hat mit zu hohen Erwartungen zu tun, aber auch mit einer reaktionären Auffassung davon, was eine gute Gesellschaft ist. Dabei kann die Demokratie schnell verunglimpft werden. Gargarella geht aber nicht den Weg, Milei für seine Ansichten zu bashen, sondern aufzuzeigen, dass die heutigen Demokratien sehr wohl Probleme haben, funktional zu bleiben.

Die Schlüsse, die man daraus ziehen kann, sind für ihn aber andere, als die Demokratie abzuschaffen, sondern eine Diskursoffensive. Wenn dieser Diskurs tatäschlich ganz offen geführt wird, wird es unangenehm werden, das sagen wir allerdings voraus. Es wird nicht so regelbasiert ablaufen, wie sich politische und juristische Denker es erhoffen. Denn mit dem verlorenen Respekt vor den Institutionen verbindet sich verlorener Respekt vor Personen. Wir sind im Moment ziemlich weit von einer kantschen oder (von ihm vorausgesetzten oder gewünschten)  Habermasschen Verfassung der Diskursorientierung entfernt.

Wir stellen es uns die Entwicklung dann so vor: Die Mehrheit führt keinen Diskurs, sondern will mehr oder weniger Blut sehen. Eine Minderheit, die sich nicht nur für besser hält, sondern tatsächlich universalistisch und humanitär ist, knickt entweder schon angesichts der Rüpeleien der Mehrheit ein  und wird marginalisiert, oder sie reißt den Diskurs an sich, nicht zum ersten Mal natürlich, und wird dafür abgestraft. Erst abgewählt, dann bedroht und mit Gewalt traktiert. Oder sie zurrt das rechtliche und instituionelle Gerüst noch schnell so fest, dass es nicht zu rasch geschleift werden kann. Versuche dazu sehen wir im Moment, zum Beispiel bezüglich der Steigerung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts.  Die Repräsentanz verbessert sich dadurch aber leider nicht. Und damit auch nicht die Legitimation.

Zum Abschluss machen wir es etwas konkreter: Würde man das Kapital endlich bändigen, könnte man in Großstädten die wichtigen sozialen Fragen sicher recht gut ausverhandeln. Lauter geübte Diskussionsteilnehmer und viele Selbstdarsteller säßen in den Diskussionsrunden, auf den Podien und man käme zu etwas, das als ausgehandeltes Ergebnis eines Diskurses erscheint. Aber schon hier gibt es viele, die daran gar nicht teilnehmen werden und in den ländlichen Regionen wird unter Diskurs ohnehin etwas ganz anderes verstanden als die permanente Auseinandersetzung und Rechtsetzung anhand der somit ausverhandelten Realität.

Was im Moment vollkommen fehlt, sind nämlich wesentliche Faktoren, die eine solchermaßen demokratisierte Gesellschaft erst ermöglichen: Kapazität und Attraktivität. Es ist ja alles freiwillig, das darf man nicht vergessen. Wenn die Freiwilligkeit nicht zur Wahl von Populisten führen soll, die schnelle und glücklich machende Ergebnisse versprechen, jenen, die ihrer Ansicht sind, allen anderen die Hölle, sondern zu einer hochwertigen Weiterentwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen, müssen die Menschen buchstäblich den Kopf dafür frei haben und sie müssen das Ergebnis als attraktiv empfinden können. Als Habermas einer der führenden Philosophen in Deutschland wurde, konnte man davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Aufbruch sein Modell der gesellschaftlichen Verhandlung einmal privilegieren würde, alles bewegte sich in Richtung mehr Demokratie wagen. Davon sind wir heute leider sehr weit entfernt.

Das heißt nicht, dass unser Denkprozess in dem Sinne schon abgeschlossen ist, dass wir sagen: Schön wär’s, aber die Menschen sind dafür nicht geeignet. Im Gegenteil, wir denken wieder an die kleinen Maßstäbe. Wo kann man das schon konkret umsetzen und braucht keine oder nur eine recht geringe Repräsentation durch Personen, die alles bündeln, die andere, das Volk oder die Bevölkerung, also vertreten? Wir finden das immer noch spannend, trotz der absolut negativen Eindrücke der letzten Jahre. An diesem Punkt lassen auch wir offen, wie man dem Wandel der Gesellschaft begegnet. Die vorgetragene Kritik ist durchaus tricky, weil sie ein bisschen die Richtung geht, dass eben nicht die Menschen ein System lernen müssen, sondern das System sich den Gegebenheiten anpassen muss, auch wenn der Diskurs, der ja nie tot ist, sondern nur die Mängel der Gesellschaft zeigt, alles andere als ein tiefes demokratisches Verständnis aufweist, denn diese Mängel wirken fort und wären nur durch massive politische Bildung anzugehen. Diese aber ist zwangsläufig Sache der Institutionen, zu denen wir in diesem Fall auch die Medien zählen.

TH

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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