„Herkules oder Sisyphus? Vom Erbe des gesetzlichen Unrechts im post-autokratischen Polen“ (Verfassungsblog) | Briefing 499 | PPP, Politik, Personen, Parteien, Recht, DiG, Demokratie in Gefahr

Briefing 499 PPP, DiG, Verfassungsrecht, Polen, Demokratie, Gustav Radbruch, Einfaches Recht, Redemokratisierung

Liebe Leser:innen, wir haben selbstverständlich die aktuelle Lage im Blick und kämen demgemäß gar nicht mehr nach mit dem Schreiben über den Nahostkonflikt, wenn wir das besonders Bedrängende immer in den Vordergrund stellen würden.

Weil wir nicht zu einseitig sein wollen, gerade nicht die Kritik an mit der BRD eng verbundenen Staaten betreffend, haben wir zuletzt mit Hilfe des Verfassungsblogs einen Blick auf ein Land geworfen, das – nun ja, mit dem Westen gerne gut befreundet wäre: Argentinien. Gemeint ist natürlich die neue Regierung unter Javier Milei. Dabei haben wir festgestellt, dass es immer schwieriger wird, die richtigen Freunde zu finden. Die Kritik können wir uns nicht verkneifen: Daran ist der Westen in weiten Teilen selbst schuld.

Wir müssen aber gar nicht so weit ausgreifen. Nur etwa 100 Kilometer von diesem Arbeitsplatz  in Richtung Osten liegt ein großes und wichtiges EU-Land: Polen. Wie dort die Demokratie in den letzten Jahren durch die herrschende PiS beschädigt wurde, ist häufig beschrieben worden

Noch nicht so publik und Gegenstand des nachfolgenden Verfassungsblog-Artikels: Wie schwierig es ist, nach dieser Epoche alles wieder geradezurücken. Der folgende Beitrag gibt Tipps dazu, wie man die Demokratie wieder festigen könnte.  

Als Vorbild, nicht das Ausmaß des in Gesetze gefassten Unrechts betreffend, wohl aber das grundsätzliche Denken über gesetztes Recht als Unrecht, könnte dabei die Situation Deutschlands in der Stunde Null dienen, also nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dazu beruft sich  der Autor auf einen Rechtsdenker, dessen Namen jede:r Jurist:in in Deutschland zumindest einmal gehört haben sollte.

TH

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Herkules oder Sisyphus? Vom Erbe des gesetzlichen Unrechts im post-autokratischen Polen

Ein Brief aus Princeton / Wojciech Sadurski

Es gibt verschiedene Metaphern, mit denen man den polnischen Staat beschreiben kann, wie ihn die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) nach ihrer Regierungszeit in den Jahren 2015 bis 2023 hinterlassen hat. Eine davon ist „vermintes Gelände“. Andere Umschreibungen schließen die Begriffe „Falle“ oder „Hinterhalt“ ein. Das beliebteste Wort im Polnischen ist das Adjektiv zabetonowany, das mit „verhärtet“ übersetzt werden kann, „zementiert“ ist wohl treffender. Alle diese Begriffe beschreiben die Situation in Polen, in welcher der Machtwechsel nicht ein normaler Übergang von einer Regierung zur anderen ist. Vielmehr findet er in einer Situation statt, in der sich das ancien régime tief im Staatswesen verankert hat, und zwar durch einfach-gesetzliche Maßnahmen und Vorkehrungen. Diese sind jedoch ihrerseits nicht ohne weiteres durch einfache Gesetze der aktuellen gewählten Regierung lösbar oder umkehrbar.

Die Aufgaben, vor denen die neue Regierung unter Donald Tusk steht, erinnern wiederum an bekannte Figuren der griechischen Mythologie. Etwa Herkules, der seine fünfte Arbeit verrichtet: die Säuberung des Augiasstalls. Eine eher pessimistische Anleihe wäre Sisyphos. Welche Metapher man auch favorisiert, es ist ein harter Job für den unermüdlichen Justizminister Adam Bodnar.

Drei Arten von Fallen

Der polnische Machtwechsel unterscheidet sich von einem normalen Machtwechsel nach regulären Wahlen. Es handelt sich nicht um einen Fall von „Übergangskonstitutionalismus“ wie bei postkommunistischen und anderen postautoritären Regimewechseln. Letzteres ist es nicht, denn die Herausforderung besteht nicht darin, ein neues System zu „erfinden“, dass das schlechte, alte Regime ersetzt. Es handelt sich aber auch nicht um eine reguläre Machtübergabe, weil das Erbe aus der autoritären Zeit im polnischen Recht tief „verankert“ ist. Dieses einfach-gesetzliche Erbe hindert die neue Regierung an wirksamen Reformen innerhalb des bestehenden verfassungsrechtlichen Rahmens.

Die „Verankerungen“ wurden durch einfaches Recht vorgenommen. Im Unterschied zur ungarischen Fidesz unter Orban verfügte die PiS nicht über die Mehrheiten, derer es zur Änderung der Verfassung bedurft hätte. Da der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda, dessen zweite und letzte Amtszeit in der zweiten Jahreshälfte 2025 endet, über ein Vetorecht gegen Gesetze verfügt, haben diese gesetzlichen Verankerungen de facto verfassungsähnliche Wirkung. Ein Veto des Präsidenten kann durch eine Mehrheit überstimmt werden, über die die demokratische Koalition derzeit jedoch nicht verfügt. Darüber hinaus können der Präsident und die PiS-Parlamentarier den „Verfassungsgerichtshof“ anrufen (aus Gründen, die weiter unten erläutert werden, sind die Anführungszeichen hier mit Bedacht gesetzt). Der Verfassungsgerichtshof ist ausschließlich mit PiS-Kandidaten besetzt und kann jedes einfache Gesetz für ungültig erklären, das der PiS-Minderheit im Parlament nicht zusagt.

Die von der alten Regierung gelegten „Landminen“ oder „Fallen“ sind vielfältig und infizieren (um die Metapher zu ändern) fast jeden wichtigen Aspekt der Regierungsführung in Polen. Der Einfachheit halber bilde ich drei Fallgruppen, wobei ich jedoch darauf hinweisen möchte, dass die Taxonomie bei weitem nicht umfassend ist und die Zuordnung zu einer der Fallgruppen willkürlich: Jede kann gleichzeitig als „institutionell“, „personell“ oder „verfahrenstechnisch“ dargestellt werden. Aber eine solche Einordnung verdeutlicht das Bild. Um Platz zu sparen, werde ich für jede Kategorie nur ein repräsentatives Beispiel anführen:

  1. Institutionelle Fallen. Das zentrale Gremium des polnischen Justizsystems, der Nationale Justizrat (polnische Abkürzung: KRS), der für alle Entscheidungen über Ernennungen, Beförderungen, Degradierungen und Entlassungen von Richtern entscheidet, wurde 2017 umstrukturiert, um der PiS-Mehrheit die alleinige Kontrolle über 23 der 25 Mitglieder des Rates zu sichern. Mit einer gesetzlich garantierten Amtszeit bis 2026 kann der KRS (oder, wie seine Kritiker ihn nennen, der Neo-KRS) die von der PiS initiierte Aushöhlung der richterlichen Unabhängigkeit aufrechterhalten, indem er sich allen Versuchen widersetzt, Nominierungen und Ernennungen für PiS-Loyalisten im Justizwesen rückgängig zu machen.
  2. Verfahrensrechtliche Fallen. Der zweitwichtigste Beamte im System der Strafverfolgung in Polen (der erste ist der Generalstaatsanwalt, der von Amts wegen der Justizminister ist) ist der Nationale Staatsanwalt (Prokurator Krajowy). Nach einem von der PiS verabschiedeten Gesetz aus dem Jahr 2016 wird der Nationale Staatsanwalt vom Premierminister auf Vorschlag des Justizministers und unter Berücksichtigung der nicht bindenden Stellungnahme des Präsidenten ernannt. Präsident Duda nimmt jedoch für sich in Anspruch, dass die Berücksichtigung seiner Stellungnahme eine Voraussetzung für eine gültige Ernennung sei. Gleichzeitig enthält er sich jeglicher Stellungnahmen.
  3. Personelle Fallen. Die Besetzung der obersten Gerichte, vor allem des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs (und in geringerem Maße des Nationalen Verwaltungsgerichts), ist das deutlichste Beispiel für diese Art von Fallstricken. Da die Ernennung von Richtern bekanntermaßen schwer zu widerrufen ist (wie es im Normalfall auch sein sollte), wurden diese Obergerichte mit PiS-Loyalisten „zementiert“. Sie stellen nun 100 Prozent der Mitglieder des Verfassungsgerichts und etwas mehr als 50 Prozent des Obersten Gerichtshofs.

Zur Erinnerung: Dies sind nur einzelne repräsentative Beispiele für juristische überall tief vergrabene Landminen. In ihrer Gesamtheit machen sie die Position der neuen Regierung besonders unhaltbar. Die Einhaltung der von der alten Regierung erlassenen Gesetze, mit denen diese Vorkehrungen getroffen wurden, würde jeden nennenswerten Schritt nach vorn praktisch unmöglich machen. Würden sie ignoriert, müsste sich die Regierung den Vorwurf gefallen lassen, dass sie dieselben Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit begeht, die die derzeit regierenden Politiker ihren Vorgängern in den Jahren 2015 bis 2023 vorgeworfen haben. Kann man denn das System der Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, wenn man genau die Rechtsstaatlichkeit verletzt, zu der man sich bekennt?

Radbruchs Vermächtnis

1946 veröffentlichte der große deutsche Rechtsgelehrte Gustav Radbruch einen Artikel über die Kluft zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht, der für das post-autoritäre Denken über die Rechtsstaatlichkeit gleichsam kanonisch wurde. Ich bin weit davon entfernt, die „gesetzliche Rechtlosigkeit“ des Dritten Reiches mit der des PiS-Regimes zu vergleichen. Aber, toutes proportions gardées, der Gedanke, dass ein Gesetz nicht das letzte Wort darüber sein darf, welches Recht legitim ist und als gültig angesehen werden sollte, ist allgegenwärtig und begegnet uns in jedem Kontext, in dem die Machthaber formaljuristische Mittel in willkürlicher, unkontrollierter und repressiver Weise einsetzen.

„Der Positivismus“, so Radbruch, „mit seinem Grundsatz ‚Gesetz ist Gesetz‘, hat die deutsche Rechtswissenschaft faktisch wehrlos gemacht gegen willkürliche und kriminelle Gesetze“. Es ist diese Art von Positivismus die dieser Tage in Polen vorgebracht wird, um der Regierung einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit vorzuwerfen. Wenn man aber Rechtsstaatlichkeit als die Herrschaft des „übergesetzlichen Rechts“ begreift, wie Radbruch klugerweise forderte, dann wird der Inhalt der zu befolgenden Regeln durch die polnische Verfassung und das europäische Recht bestimmt und nicht durch jene Gesetze, die gerade mit dem Ziel erlassen wurden, die demokratischen Nachfolger der Autoritären zu entmündigen. Die polnische Verfassung enthält genügend Mittel, um diese juristischen Fallen zu beseitigen: Artikel 8 sieht den Vorrang und die unmittelbare Wirkung der Verfassung vor. Dieser Gedanke spiegelt sich ganz allgemein im Titel eines Artikels zweier polnischer Rechtswissenschaftler der jüngeren Generation, Maciej Bernatt und Michał Ziółkowski, wider: Statutory anti-constitutionalism, also „gesetzmäßige Verfassungsfeindlichkeit“. Gesetze können ein Instrument für verfassungsfeindliche Änderungen sein, wenn der wichtigste institutionelle Wächter ausgeschaltet ist.

 

Das bringt uns zum Problem des Verfassungsgerichtshofes, der Mutter aller juristischen Landminen in Polen: Mit der vollständigen Kolonisierung des Gerichts durch die PiS gibt es keinen unparteiischen institutionellen Schiedsrichter in einem System, das ursprünglich mit einem Kelsen‘schen Verfassungsgericht im Zentrum konzipiert wurde. Ich habe seit langem– auch auf diesem Blog – argumentiert, dass die polnischen Entscheidungsträger in den sauren Apfel beißen und den Gerichtshof in seiner jetzigen Form abschaffen sollten, da er jeden Anschein von Legitimität verloren hat. Ich werde meine Argumente hier nicht wiederholen – und auch nicht auf die Gegenargumente meiner Kritiker eingehen, die ich respektiere, mit denen ich aber offensichtlich nicht übereinstimme.

Was ich jedoch betonen möchte, ist, dass die Regierung und die Mehrheit der Legislative ohne eine solche Abschaffung (oder zumindest ohne die Schaffung eines strengen cordon sanitaireum den Gerichtshof und die grundsätzliche Nichtbefolgung seiner Urteile) immer wieder in die zahlreichen Fallen, Hinterhalte und Minen tappen werden, die ihre Vorgänger absichtlich gelegt haben.

Das Rechtsstaatlichkeits-Dilemma

„Das rechtsstaatliche System befolgen und dabei gegen Rechtsnormen verstoßen“ ist eine Maxime, die unheilvoll klingt. „Die Verfassung zu befolgen und dabei einzelne gesetzliche Bestimmungen zu verletzen“ ist ein annehmbarerer Vorschlag, vor allem, wenn wir die EU-Verträge und die Europäische Menschenrechtskonvention in die Verfassung mit einbeziehen, wie wir es tun sollten. Die Geltung einer Verfassung ohne Verfassungsgericht ist kein Widerspruch. Sie zieht lediglich eine notwendige Konsequenz aus der faktischen Nichtexistenz eines Verfassungsgerichts und überträgt die verfassungsrechtliche Verantwortung auf den Gesetzgeber, die gewählte Regierung und die ordentlichen Gerichte.

Wie John Morijn kürzlich auf diesem Blog einräumte „ist die traurige Realität, dass die Verankerung [in Polen] stattgefunden hat und oft nicht einfach über Nacht rückgängig gemacht werden kann, außer durch drakonische Maßnahmen, die selbst (…) in starker Spannung zu der Rechtsstaatlichkeit stehen, die es zu retten gilt.“

Das ist in der Tat traurig und ärgerlich. Aber im Widerspruch zur Rechtsstaatlichkeit? Ein Staat wie Polen nach dem 15. Oktober 2023 kann sich nicht den Luxus leisten, das System der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und dabei getreu den Buchstaben der von den Autokraten erlassenen Gesetze zu folgen. Vielmehr könnte etwas wie Andras Sajós „streitbare Rechtsstaatlichkeit“ vonnöten sein. Die größte Herausforderung für die demokratischen Reformer wird es sein, dafür zu sorgen, dass diese sich nicht selbst perpetuiert. Aber das ist nicht das Problem, mit dem die polnischen Demokraten im Moment konfrontiert sind; jedenfalls noch nicht.

*** Ende des Beitrags ***

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