Briefing 504 PPP, GG, Verfassungspatriotismus, ethnischer Patriotismus, Nationalismus, Grundgesetz, Politik, Zivilgesellschaft
Ausgerechnet in Deutschland Patriotismus? Die Bundesrepublik Deutschland wird im Herbst 75 Jahre alt. Der Nazi-Terror hat nur zwölf Jahre lang gedauert. Zeit für eine Neubewertung nach so langer Zeit? Civey hat heute eine entsprechende Umfrage erstellt.
Lesen Sie bitte, bevor Sie abstimmen, erst den Civey-Begleittext und unseren Kommentar.
Begleittext aus dem Civey-Newsletter
„Wer sind wir”? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzt sich in seinem neuen Buch „Wir” mit dem Patriotismus in der heutigen Zeit auseinander. Er hinterfragt, ob es jemals völlig homogene Nationalstaaten gab. Heutzutage würde der politische Realismus zeigen, dass „unsere Gesellschaft […] durch die Vielfalt der Herkunftsgeschichten” und „verschiedene […] Orientierungen [und] Lebensweisen” geprägt ist. Anlässlich des 75. Jahrestages der Bundesrepublik erinnerte er an den Wunsch aller, frei und gleichberechtigt zu leben.
Steinmeier kommt zu dem Schluss, dass es auch heute möglich ist „wir zu sagen”. Man kann hierzulande durchaus Patriotin oder Patriot zu sein, losgelöst von völkischem oder rechtsradikalen Gedankengut. Dabei betont er, dass sich ein Patriotismus dieser Zeit wandeln muss. „Ohne Überheblichkeit und nachdenklich muss er sein. […] Er weiß um die hellen und die dunklen Tage unserer Geschichte”. Menschen, die sich für das Wohl von Mensch und Land einsetzen, aber auch für ein friedliches Miteinander mit anderen Nationen, sind für Steinmeier etwa Patriot:innen. Zugehörigkeit entsteht so durch gemeinsame Werte wie Demokratie und Freiheit.
Zugleich warnt Steinmeier vor politischen Kräften, „die nationale Homogenität herbeiwünschen und sich davon die Lösung unserer Probleme versprechen”. Taz-Autor Houssam Hamade verweist indes auf das Problem, dass die innere Logik des Nationalen auch ohne völkische Tradition Ausgrenzung und Unterdrückung begünstigen könne. Sobald Menschen als Iren, Spanier oder Deutsche bezeichnet werden, bestehe das Risiko, dass die so hergestellten Unterschiede zum Ausschluss missbraucht würden. Er plädiert daher dafür, bestenfalls „ein Wir zu schaffen, das sich konsequent auf Werte und nicht auf Herkunft bezieht”.
Patriotismus kommt von „La Patrie“, das Vaterland.
Als Patriotismus wird eine emotionale Verbundenheit mit der eigenen Heimat oder dem Vaterland bezeichnet, häufig bezieht er sich auf die Nation. Im Deutschen wird anstelle des Lehnwortes auch der Begriff Vaterlandsliebe als Synonym verwendet.
Diese Bindung wird auch als Nationalgefühl oder Nationalstolz bezeichnet und kann sich auf ganz verschiedene als Merkmale der eigenen Nation angesehene Aspekte beziehen, etwa ethnische, kulturelle, politische oder historische.
Im Unterschied zu einer historisch-kulturellen Bindung steht der Verfassungspatriotismus für das positive Bekenntnis zu den in einer staatlichen Verfassung verankerten übernationalen ethischen und politischen Grundrechten und Wertvorstellungen. Diese beziehen sich in der Tradition westlicher Rechtsstaaten auf die unveräußerliche Menschenwürde und davon abgeleitete Menschenrechte, für die universale Geltung beansprucht wird.(…)
In Mitteleuropa hat sich der Patriotismus aus dem revolutionär verstandenen Liberalismus und Nationalismus des Bürgertums entwickelt, das gegen den Feudalismus einen demokratisch verfassten Nationalstaat anstrebte. Diese als Macht von unten aufgefasste Volksherrschaft hat sich seit der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 langfristig in den meisten europäischen Staaten als Verfassung und Selbstverständnis durchgesetzt, nachdem sie zunächst nur ein Thema intellektueller Eliten gewesen und dann vielfachen historischen Rückschlägen unterlegen war.
Lesen Sie ruhig den gesamten Artikel in der Wikipedia, der die Genese des Partiotismus und auch seinen Missbrauch in Deutschland erhellt. Für uns die Überraschung: Willy Brandt hatte im Zuge der Wahl, die der SPD ihr höchstes Nachkriegsergebnis bescherte, auf dem Plakat damit geworben, dass die Deutschen stolz auf ihr Land sein können. Gerade diese Überraschung liefert den perfekten Anker für das, was uns dazu verleitet hat, mit einem klaren Nein zu stimmen. Das haben wir schon deswegen getan, weil die ausformulierte Frage etwas anderes in den Raum stellt, als die Überschrift es suggeriert. Die Überschrift wirkt, als ob es darum geht, ob man patriotisch(er) sein soll oder nicht, in Deutschland. Die Frage jedoch klingt eher, als ob es um den Zustand des Patriotismus in Deutschland ginge. Und der ist schlecht. Den können wir so nicht unterstützen.
Er wird vor allem von denjenigen in den Mund genommen, die nicht, wie Willy Brandt 1972, Stolz auf die Konstitution und den Zustand des Landes zulassen wollen, wie er sich als aus den Trümmern geborene Demokratie mit einem hohen Maß an Menschlichkeit darstellte. Ob die Menschen das 1972 verinnerlicht hatten, ist eine andere Frage, aber formal und bezüglich seiner Leistungsdaten war Deutschland damals ein Vorzeigestaat, sein Wandel nach der Nazi-Vergangenheit beispielhaft, seine Gegenwart konnte optimistisch stimmen, seine Zukunft ebenfalls. Er war nie perfekt, aber man arbeitete daran.
Rechtsradikale Parteien spielten in dieser Phase der BRD-Geschichte eine besonders geringe Rolle. Wenige Jahre später begann der Niedergang. Nicht erst mit der Wende. Nicht mit Angela Merkel. Nicht gar mit der Ampel und den Krisen von heute. Der Niedergang fand allerdings auf einem so hohen Niveau statt und vollzog sich noch so langsam, dass viele Menschen persönlich noch Zuwachs empfanden, als die Vergleichsdaten Deutschlands schon schwächelten. Bereits unter Helmut Schmidt, dem sogenannten Weltökonomen, gab es Anzeichen für diesen Abwärtstrend, der sich unter Kohl fortsetzte, durch die ruckige Wende zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen schien, aber seitdem weitergeht. 1972 ist ein großartiges Jahr gewesen, wenn man vom Anschlag auf die israelischen Sportler im Olympia-Dorf von München absieht. Die Wende kam nach Ansicht einiger, die sehr pointiert darüber denken, 1973-74, vor allem mit der ersten Ölkrise, aber auch mit dem Ende der Möglichkeiten, noch mehr politisches Tauwetter zu nutzen oder zu befördern, wie Brandt es mit den Ostverträgen getan hatte.
Schon die 1980er waren im Grunde eine bleierne Zeit, was die Entwicklung des Landes anging, und hätte es die Wende nicht gegeben, wäre die weitere politische Geschichte wohl anders verlaufen. Scheinmaßnahmen gegen den Abstieg wie Schröders Billgheimer-Ideen, Merkels perspektiv- und strategieloses Dahinwurschteln, falsche Akzente, keine Lösungen für bestehende Probleme. Weil die Deutschen, die die Wahl hatten, es so wollten. Das muss man klar sagen. Bloß keine Veränderungen mehr, bis auf ein bisschen Gesellschaftspolitik, das kaum etwas wert ist, wenn die ökonomische Basis sich für alle Gruppen verschlechtert. Die Ampel bekommt jetzt die Folgen mangelhafter Politik zuvor ab und macht zudem eigene Fehler.
Worauf also sollen wir hier im Land stolz sein? Unsere Antwort: Es ist ganz gut, dass eine Phase erreicht ist, in der man sich nicht mehr auf den Wirtschaftswunderpatriotismus stützen kann, der im Grunde eine Chimäre war und außerdem eine Fortschreibung deutscher Überheblichkeit beinhaltete. Bei uns wird nicht mehr und härter gearbeitet, um mehr zu erreichen und auch nicht besser, wie die schwachen Produktivitätsdaten belegen, es gibt keine Innovation, auf die man stolz sein könnte. Ohnehin gilt: Wieso sollte man auf etwas stolz sein, woran man persönlich gar nicht beteiligt ist? Hier haben viele Menschen Bullshit-Jobs aller Art, ganz unten und ganz oben, die keinen Stolz verursachen können oder sollten.
Bliebe noch der völkische Patriotismus, also der Nationalismus à la AfD, der alle, die nicht schon seit Generationen hier leben, ausschließen will. Mindestens. Auch die Urdeutschen sind nicht sicher, falls sie anderer Meinung sind, das hat Herr Höcke schon gesagt.
Gerade unsere jüngsten Erfahrungen mit systemrelevanten Berufen zeigen, wie verrückt das ist. In Berlin sind manche Berufe, in denen akuter Arbeitskräftemangel herrscht, nur noch mit Menschen mit Migrationshintergrund überhaupt so aufrecht zu erhalten, dass die Systeme nicht zusammenbrechen. Ohnehin ist völkischer Patriotismus immer mit der Erhebung der eigenen Identität über die anderer verbunden und leider auch genau in dieser Form in Europa wieder sehr salonfähig geworden.
Hingegen wird im Civey-Begleitartikel kein einziges Mal der in der Wikipedia schon recht weit oben in der Darstellung eingeführte Verfassungspatriotismus erwähnt. Im letzten Absatz wird lediglich von Werten gesprochen, als sei die Verfassung, die Grundlage der hiesigen Werte, einer jener Begriff, die nicht genannt werden dürfen, als sei die Verfassung nicht woke. Das ist sie aber, mehr als alles andere, was wir in Deutschland sehen. Sie bietet nämlich den Raum und liefert beispielsweise die Vorlagen für diskriminierungsfreie Politik, fordert vor allem in Art. 1 GG und Art. 3 GG ihre aktive Umsetzung.
Ein Land hat eine bestimmte Rechtsordnung, die man für klasse erachtet und die verteidigt man gegen Angriffe von außen. Aber auch von innen. So gesehen, sind die Deutschen überhaupt nicht patriotisch, wenn man von dem Strohfeuer der Anti-AfD-Demos absieht. Für uns ist dies aber der einzige Patriotismus, über den man aktuell hierzulande mindestens diskutieren könnte.
Hätte die Frage also gelautet: „Sind Sie für oder gegen Verfassungspatriotismus“ oder man hätte verschiedene Formen / Ausprägungen des Patriotismus genannt und darunter wäre diese gewesen, hätten wir anders votiert. Wer dieses Blog kennt, weiß, dass wir uns über sechs Jahre hinweg in hunderten von Artikeln für die Demokratie und für die Verfassung eingesetzt haben. Für das Grundgesetzt, das wir wirklich mehr als nur schätzen. Es ist 1949 die Zusammenfassung von allem gewesen, was in Demokratien und übernational bis dahin entwickelt worden war. Es war nicht nur ein Gegenentwurf zur grausamen Nazi-Zeit, sondern damals die modernste Verfassung der Welt. Grund zu einem besonderen Stolz bezüglich ihrer Entstehung ist jedoch unangebracht, denn sie wurde uns geschenkt, wir haben sie nicht hart erarbeitet.
Auf ihre Erfüllung mit Leben konnte man sich aber 1972 noch stützen, als Willy Brandt Wahlkampf mit Patriotismus gemacht hatte. Man wollte mehr Demokratie wagen. Er sah darin wohl auch einen patriotischen Akt.
Und heute? Heute ist Verfassungspatriotismus schwierig. Denn man muss für sich erst einmal klären, ob er sich auf das Grundgesetz bezieht, wie es bei moderner, progressiver Auslegung sein und was es dann alles bieten könnte, oder muss man der aktuellen, immer mehr neoliberal-konservativen Auslegung der Verfassung tatsächlch eine so starke Wertschätzung entgegenbringen, dass man sie als Patriotismus bezeichnen kann, weil sie unweigerlich den Schutz, die Verteidigung des Territoriums beinhaltet, auf dem die Verfassung zum Wohle aller gelten soll, auch der eingewanderten Menschen.
Wenn wir uns auf die Möglichkeiten des Grundgesetzes beziehen, dann könnten wir sagen, Verfassungspatriotismus ist angebracht, weil wir jeden Grund haben, das Ist zu verteidigen.
Diesen Weg können wir leider nicht nehmen, um zum Patriotismus zu gelangen, angesichts der sich immer mehr verschlechternden Werte Deutschlands nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und rechtlich. Ja, auch rechtlich. Menschenrechtlich vor allem. Sozialrechtlich. Und das auf vielen Ebenen.
Könnten wir uns mit uns selbst stattdessen so vereinbaren: Wir sind patriotisch, wenn es besser wird? Eine Art Wenn-dann-Patriotismus. Ein Patriotismus unter Bedingungen, von denen wir uns eher weiter entfernen als annähern.
Wir meinen, das ist ebenfalls nicht der richtige Ansatz. Wir müssen jetzt schauen, wann es am besten war und dafür hat uns Willy Brandt mit seinem Plakat einen guten Anhalt geliefert. Wir müssten nicht irgendwelche Schwurbeldiskussionen darüber führen, was in einem Land mit so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft ein ethnisch fundierter Patriotismus sein kann. Ganz im Gegenteil. Wir müssen auch Tendenzen entegegenwirken, dass sich Ethnien, die in diesem Land leben, aus Gründen ihrer Herkunft oder auch aus religiösen Gründen über andere erheben.
Wir leben also schon den Verfassungspatriotismus, auch wenn er leider auf Markierung von Verschlechterungen, nicht auf Fortschritt ausgerichtet ist, in diesen Zeiten.
Patriot kann man in Deutschland am besten dadurch sein, dass man sich für das Beste einsetzt, was wir haben, und das ist nach wie vor das Grundgesetz. Wenn sich darauf alle vereinbaren, dann ist das für uns ein zulässiger Patriotismus, der aufgrund der Ausfassung dieses Gesetzes niemals gegen andere gerichtet sein oder sich über andere heben kann.
Wer hingegen sagt, er sei Demokrat, pflegt aber gleichzeitig ein Überlegenheitsdenken, das sich auf seine Identität als Angehöriger einer Ethnie oder seine religiöse Identität bezieht, kann für uns kein deutscher Patriot oder Patriot in Deutschland sein. Wir wissen nicht, was in der Denkschrift des Bundespräsidenten steht. Wir glauben aber, es gibt keine andere Lösung, wie in Deutschland Patriotismus organisiert werden kann, der diese Gesellschaft krisenfester macht, sie wieder mehr zusammenschweißt, ihre eine neue Geschichte anbietet, nachdem das letzte gültige Narrativ der Wiedervereinigung und ihrer Bewältigung erkennbar und endgültig nicht mehr in die Zukunft weist.
Tut alles, damit das Grundgesetz wieder fortschrittlicher ausgelegt wird, ändert es notfalls dort, wo es dafür Hindernisse gibt, gebt niemals die Grundrechte auf oder lasst weitere nicht notwendige Einschränkungen zu! So würden wir einen modernen, verfassungspatriotischen Aufruf gestalten.
Es ist uns klar, woran einige jetzt sofort denken. Nein, das meinen wir nicht. Selbstverständlich gibt es Notlagen, in denen auch individuelle Grundrechte beschnitten werden müssen, um das Ganze zu erhalten. Denn ohne das Ganze gibt es kein Einzelnes. An einiges, was in der letzten Zeit passiert ist, hatten die Verfassungsgeber ersichtlich nicht gedacht. Sie dachten nur an Dinge, die von Menschen gemacht werden, auch den Terror, der menschengemacht ist, den Krieg, die Diskriminierung, die Ungleichheit der Klassen, nicht etwa an Pandemielagen.
In allen Kategorien, die menschliches Handeln ausmachen, leistet das Grundgesetz gegenwärtig weniger, als es könnte. Dass dem so ist, haben wir uns selbst zuzuschreiben, wenn wir Parteien wählen, die das Grundgesetzt immer mehr gegen die Menschen stellen. Bei gewissen politischen Kräften wirkt es, als ob nur noch Art. 14 GG eine Rolle spielt, der in Wirklichkeit nachrangig gegenüber anderen Grundrechten ist. Und nicht einmal das, sondern nur Art. 14 I GG ohne die Begrenzungen, die im nächsten Absatz folgen. Das ist eine armselige Auffassung von einer Verfassung, die so viel reicher ist. Es ist beschämend.
Man könnte sagen, die Politik hat es so gemacht. Wir sagen: Damit die Politik es so machen konnte, mussten wir es zulassen. Denn die Verfassung, wenn man sie im von uns gemeinten Sinne patriotisch denkt und sich für sie einsetzt, würde nicht so rissig und unansehnlich wirken, wenn wir der Politik progressive Vorgaben gemacht hätten bezüglich ihrer Instandhaltung und Renovierung. Die Verfassung gehört sozusagen zur kaputtgesparten Infrastruktur.
Was viele jetzt meinen, mit Füßen treten zu können, ist genau das, was sie immer schon mit Füßen traten, und sie verwechselten immer schon absichtlich Folge und Wirkung um ihre antipatriotische, verfassungsfeindliche Agenda weiter vorantreiben zu können. Rechts gibt es viele solche Menschen, links auch einige. Die dazwischen sind aber nicht viel besser. Den meisten ist die Verfassung schlicht egal, daher ist Deutschland nach diesem Verständnis auch vollkommen unpatriotisch.
Nur, wenn die eigene Freiheit eingeschränkt werden soll, gibt es Alarm, die der anderen hingegen ist nicht so wichtig. Schon gar nicht dann, wenn sie die eigene Freiheit begrenzt. Verfassungslose Gesellen gibt es in diesem Land zuhauf. So ist das mit einer Schönwetterdemokratie, die noch immer nicht in harten Herzen und mit verfassungsfeindlichem Denken angefüllten Hirnen angekommen ist.
Die wenigen Verfassungspatrioten, die wir kennen, haben einen schweren Stand, denn sie stellen eine Minderheit dar, die außerdem, wenn die Entwicklung so weiterläuft wie in den letzten Jahren, in Bedrängnis geraten könnte, weil die Verfassung nicht mehr so angewendet wird, dass sie alle Minderheiten schützt, auch die Andersmeinenden. Wenn es sich so weiterentwickelt, dann handelt es sich um einen Verrat an der Verfassung, der von den allermeisten Menschen toleriert werden wird.
Wer heute Verfassungspatriot ist, kann vielleicht noch evolutionär denken, aber keinesfalls darf er konservativ denken. Es geht um die Rückeroberung, nicht um die Bewahrung. Sicher folgt Ersteres Letzterem, weil die Bewegung erst einmal gebremst werden muss, die zu weiteren Verlusten an Demokratie führt. Aber wenn nicht bald eine Kehrtwende erfolgt, kann man sich, wenn man Verfassungspatriot sein möchte, auch gleich als Revolutionär bezeichnen, denn ohne Revolution wird die Reinstallation des Geistes der Verfassung in die deutsche Wirklichkeit hinein dann nicht mehr möglich sein.
Auf verfassungspatriotischer Grundlage möchten wir eine politische Veränderung, eine Systemkorrektur. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann fordert uns die Verfassung selbst, wie wir wissen, zu Widerstand auf. Die meisten Menschen, auch diejenigen, die unser, ja unser! Grundgesetz schätzen, sind dafür viel zu bequem und seine Gegner wissen dies. Eigentlich dürfen wir uns nur Verfassungspatrioten nennen, wenn wir wissen, dass wir bereit sind, das Grundgesetz aktiv zu verteidigen. Werden wir das tun, und wann ist der richtige Zeitpunkt dazu? Wann wird das Bestehen auf dem Grundgesetz ein revolutionärer Akt sein?
Wir wissen es nicht. Wir möchten es nicht festlegen wollen. Und deswegen sind wir sehr vorsichtig damit, uns Verfassungspatrioten zu nennen.
Da es keinen anderen Patriotismus gibt, den wir in Deutschland für gangbar und richtig halten, sind wir eben keine Patrioten. Keine sicheren jedenfalls. Immerhin ist das ehrlich und vermeidet billige Behauptungen. Ein billiger „Patriotismus“, der darin besteht, überheblich zu sein, ist es sowieso nicht, was wir uns vorstellen. Der wertvolle Patriotismus aber, der Verfassungspatriotismus, ist auch eine Herausforderung. Aktuell stellen wir uns dieser Herausforderung nicht genug. Eigentlich ist dieses Land schon über den Punkt hinaus, wo das Schreiben eines kleinen Blogs noch ausreicht, um hinreichend Verfassungspatriotismus zu zeigen.
Wir müssten uns irgendwo einbringen, wo wirklich um die Verfassung gekämpft wird. Wo könnte das sein? Außerhalb des Justizsystems und der Politik, in beiden Tätigkeitsfeldern sind wir nun einmal nicht verortet. Nein, kein Patriotismus. Dafür reicht, was wir für die Verfassung tun, einfach nicht aus. Aber wir dürfen uns wünschen, wir wären engagierter und mutiger und finden daher Verfassungspatriotismus generell nicht schlecht.
Hätte die Frage also eine Wahlmöglichkeit in diese Richtung klar angeboten, hätten wir auch mit „ja“ gestimmt.
TH
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