Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen? (Umfrage + Leitkommentar: Wo wirklich zu viel erhöht wird) | Briefing 528 | Wirtschaft, Gesellschaft, PPP Politik, Personen, Parteien, oben & unten

Briefing 528 PPP, Wirtschaft, Gesellschaft, Mindestlohn, Kapitaleinkünfte, oben und unten

 Der Mindestlohn soll rauf. Interessenterweise kam der Vorschlag von Kanzler Olaf  Scholz, der sich sonst bei solchen Themen eher zurückhält und sie in der SPD den als etwas mehr links geltenden Politiker:innen wie der Co-Chefin der Partei, Saskia Esken, überlässt. Aktuell liegt der Mindestlohn bei 12,41 Euro brutto. Auf der Scholz-Aussage und den Reaktionen darauf basiert die heutige Civey-Umfrage:

Civey-Umfrage: Wie würden Sie einen allgemeinen Mindestlohn von 15 Euro in der Stunde in Deutschland bewerten? – Civey

Der Begleittext aus dem Newsletter

Seit dem 1. Dezember 2023 beträgt der Mindestlohn in Deutschland 12,41 Euro brutto pro Stunde. Anfang 2025 soll sich dieser auf 12,82 Euro erhöhen. Die Mindestlohnkommission hatte die Erhöhungsschritte bis 2025 im vergangenen Jahr beschlossen. Dabei war die Gewerkschaftsseite erstmals von der unabhängigen Komissionsvorsitzenden überstimmt worden. Der gesetzliche Mindestlohn war 2015 eingeführt worden, um Beschäftigte vor Lohndrückerei zu schützen. Zur Vermeidung des Gebrauchs als politisches Mittel wurde im Gesetz festgelegt, dass dieser nicht von der Regierung, sondern von einer Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften bestimmt wird. 

Grüne, Gewerkschaften und Sozialverbände fordern schon lange eine Erhöhung des Mindestlohns. In einem Interview mit dem Stern forderte nun auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen höheren Mindestlohn – schrittweise erst 14 Euro und dann 15 Euro. Katharina Dröge (Grüne) weist gegenüber dem RND darauf hin, dass sich die Mindestlöhne in jedem EU-Land an 60 Prozent des Medianlohns orientieren sollten. SPD-Chefin Saskia Esken fordert außerdem eine Reform der gesetzlichen Vorgaben für die Mindestlohnkommission. Und zwar so, dass dort Entscheidungen, wie bei Tarifverhandlungen, nur im Konsens getroffen werden können. „Man muss sich einigen, die eine Seite kann die andere nicht überstimmen“, hatte Esken dem RND gesagt. 

Ökonomen kritisieren die von Scholz angestoßene Diskussion. Der Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, gab dem RND zufolge zu Bedenken, dass der Mindestlohn „als sozialpolitisches Instrument zu wenig zielgenau“ sei. Längst nicht alle Mindestlohnbezieher seien bedürftig. Die FDP lehnt den Reformvorschlag der Mindestlohnkommission ab. Die Arbeitgeber der Kommission haben die Spielräume der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EU-Vorgaben betont – und darauf gepocht, die Mindestlohnkommission unangetastet zu lassen. Deutliche Kritik kam auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Die richtige Lohnfindung ist keine Aufgabe der Politik, sondern der Tarifpartner“, sagte ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsführer Thorsten Frei.

Unser Kommentar

Als eines der letzten Länder in Europa hatte Deutschland im Jahr 2015  einen Mindestlohn eingeführt, auf Betreiben der SPD hin, vermutlich war dies eine der Bedingungen, wenn sie der Union aus der Patsche eines fehlenden Koalitionspartners nach dem Absturz der FDP bei den Bundestagswahlen 2013 hilft. Erinnern Sie sich noch, wie hoch der Mindestlohn anfangs lag und wie er sich entwickel hat? Wir haben den Copilot gefragt:

In Deutschland wurde der gesetzliche Mindestlohn am 1. Januar 2015 eingeführt12. Hier ist die Entwicklung des Mindestlohns seit seiner Einführung:

Bitte beachten Sie, dass es einige Ausnahmen gibt, für die der Mindestlohn nicht gilt, wie z.B. Auszubildende, Langzeitarbeitslose oder teilweise Praktikantinnen und Praktikanten12Neben dem gesetzlichen Mindestlohn existieren auch höhere branchenspezifische Mindestlöhne2.

Der Anfangssatz war zu niedrig, schon 2017 forderte beispielswiese Die Linke 12 Euro. Einen richtigen Sprung gab es im Jahr 2022 (von 10,45 auf 12 Euro), seitdem bleibt die Entwicklung des Mindestlohnes hinter der Inflation zurück. Vor allem der lange Zeitraum von Oktober 2022 bis Dezember 2023 sah eine Inflation, die wesentlich höher war als die Steigerung des Mindestlohns. Es ist richtig, dass für bestimmte Berufe, zum Beispiel in der Pflege, ein (etwas) höherer Mindestlohn gilt, um diese Berufe, die zu den am meisten anstrengenden zählen, die es heutzutage gibt, attraktiver zu machen.

Nun rechnen Sie mal aus, wie weit Sie mit dem aktuellen Mindestlohn kommen würden, wenn Sie Vollzeit arbeiten und nehmen wir ruhig 40 Stunden an, und zwar mit der tatsächlichen Durchschnittsstundenzahl pro Monat, die sie dann hätten: 173 (nicht 160, denn ein Monat hat bis auf den Februar, wiederum mit Ausnahme der Schaltjahre, wie wir jetzt eines haben,  mehr als 4 Wochen). 

Sie haben dann ein Buttogehalt von knapp 2.220 Euro. Damit haben Sie gerade ein Nettogehalt von 1.600 Euro, wenn Sie zum Beispiel in der hochgradig diskriminierenden Steuerklasse 1 zuhause sind, aber keine Kirchensteuer zahlen. Wenn Sie heute in Berlin eine bescheidene Zweizimmerwohnung von 50 m² anmieten, zahlen Sie dafür kalt im Durchschnitt 700 Euro. Alle Nebenkosten zusammen dürften sich auf 250 bis 300 Euro summieren. Nehmen wir 250.

Wenn Sie also Vollzeit zum aktuellen Mindestlohn arbeiten, richtig durchpowern, nicht irgendwelche Teilzeitgeschichten machen, wie so viele, die gar keinen Vollzeitjob kriegen, dann haben Sie bei einer möglicherweise stressigen Arbeit, wie sie im untern Lohnbereich häufig anzutreffen ist, gerade mal 100 Euro im Monat mehr zur Verfügung als ein:e Bürgergeldempfänger:in, der / die gegenwärtig 563 Euro im Monat zur Verfügung hat und deren Mieterhöhungen das Jobcenter trägt.

Falsch gedacht. Wir schimpfen jetzt nicht über die Höhe des Bürgergelds. Wir sagen, der Lohn ist zu niedrig. Wie sähe die gleiche Rechnung nun bei 15 Euro Mindestlohn aus? Dann hätten Sie netto 1.824 Euro zur Verfügung. Ist das in einer Stadt, in der die Preise so anziehen wie in Berlin viel? Ganz sicher nicht. Ist es auskömmlich? Nach unserer Ansicht nur dann, wenn Sie in einem Haushalt mit jemandem zusammenleben, der ebenfalls zum Einkommen beiträgt. Falls Sie Kinder haben, haben Sie Kindergeld und Kinderfreibetrag / -beträge, aber die werden von Kindern ja auch tatsächlich konsumiert, wenn man sie anständig versorgt. Falls diese Beträge dafür ausreichen, wir glauben das eher nicht, wenn man als Familie oder Alleinerziehende:r mit Kind:ern auch mal etwas unternehmen will.

Trotzdem haben wir nicht mit „zu niedrig“, sondern mit „angemessen“ gestimmt. Damit sind wir bei einer knappen Mehrheit von 36 Prozent. 34 Prozent aber sagen aktuell, das sei zu viel. Hallo Klassisten, geht’s noch? Wir berücksichtigen euer Bashing der arbeitenden Bevölkerung ja schon, indem wir eben die Ansicht ausgedrückt haben, 15 Euro seien angemessen. Brutto, nicht netto, wohlgemerkt. Für meistens gleichermaßen schwere wie systemrelevante Jobs, nicht für Bullshit-Business, das horrend überbezahlt ist.

Wir haben mit der „Angemessen-Stimmabgabe“ schon berücksichtigt, dass die Politik und die Wirtschaft selbst dafür gesorgt haben, dass die ökonomische Situation sehr kippelig geworden ist, wohingegen die Einführung des Mindestlohnes in etwas stabileren Zeiten keinerlei negative Arbeitsmarktfolgen hatte. Es war lediglich nicht mehr möglich, arme Kreaturen für 3 bis vier Euro pro Stunde zu beschäftigen und Dienstleistungen wie Security für unfassbare 10 Euro/h anzubieten und sich damit noch eine goldene Nase zu verdienen. Das ging nach der Einführung des Mindestlohns so nicht mehr. Das Beispiel haben wir nicht zufällig gewählt, es stammt aus unserer Berufspraxis, in der wir uns geschämt haben, Aufträge auf Weisung von oben nach dem Billigstprinzip so vergeben zu müssen. Wir waren froh, als dieser von Schröder & Co. inszenierten Sozialschweinerei mit der Einführung des Mindestlohns ein erster Riegel vorgeschoben wurde.

Berlin ist mit seiner extremen Tendenz zur Ausbeutung durch Lohndrückerei  nicht repräsentativ, aber gerade hier ist es eminent wichtig, die Kaufkraft mit der Anhebung des Mindestlohns nicht vollkommen zu schreddern, angesichts rapide steigernder Preise in allen Bereichen. Sie erreichen tatsächlich mittlerweile Hauptstadtniveau, nur verdienen die Menschen hier nicht wie in anderen Hauptstädten. In der Folge steigt die reale Kaufkraft nicht, sondern dürfte zuletzt eher gesunken sein, neue Zahlen ab 2022 müssen wir uns dazu noch anschauen.

Was wir allerdings auch erwähnen müssen: Der Mindestlohn ist nicht überall gleich, wenn er nominell gleich ist, was seinen Wert angeht. Das ergibt sich aus der Berlin-bezogenen Betrachtung. Vor allem im Osten sind die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger als hier und in den meisten Städten des Westens. Das wir auch immer gerne unter den Tisch fallen gelassen, wenn der Osten mit seinen etwas niedrigeren durchschnittlichen Löhnen und Renten als das arme, abgehängte Deutschland markiert wird, mit sehr durchsichtigen propagandistischen Absichten. Die reale Kaufkraft liegt dort nicht niedriger als z. B. in Berlin. Wer also in den meisten Regionen des Ostens 15 Euro brutto hat, der kann damit schon richtig etwas anfangen. Insofern versstehen wir das Argument seitens des IfW, allerdings bezogen auf 15 Euro, nicht auf 12,41 Euro; Letztere Summe ist überall sehr wenig.

Eine Fragestellung ergibt sich daraus: Müsste der Mindestlohn nicht regional unterschiedlich sein? In München am höchsten, irgendwo im hinteren Thüringen am niedrigsten?

Es hat politische Gründe, dass so nicht gedacht wird, damit nicht eine neue Diskussion über Ost und West aufkommt und auch nicht zwischen ganz unterschiedlichen Regionen innerhalb der beiden Teile Deutschlands. In den USA gibt es zum Beispiel den Bundes-Mindestlohn, die Staaten sind aber frei darin, höher zu gehen. Und das tun einige auch. Der föderale Mindestlohn ist mit 7,25 Dollar pro Stunde lächerlich niedrig und es gibt tatsächlich Bundesstaaten, die noch niedriger gehen.

Aber in den vor allem von Demokraten regierten Regionen im Osten und in Kalifornien liegt er in der Regel zwischen 15 und 17 Dollar, also etwa dort, wo auch der deutsche Mindestlohn nach unserer Ansicht mindestens liegen sollte. Für die Preisverhältnisse dieser Staaten ist das auch nicht viel, aber es ist wenigstens eine Grenze nach unten – die freilich, wie bei uns, für Freelancer und andere, die die große Freiheit manchmal mit dem großen Loch in der Kasse bezahlen, nicht gilt.

Alle, die nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, unterfallen auch hierzulande nicht den Vorgaben für den Mindestlohn. Damit wird er auch gerne umgangen, indem man arme Menschen als Kleinunternehmer darstellt, die in Wirklichkeit von irgendeiner Ausbeutermühle abhängig sind, die sich nicht nur den Mindestlohn, sondern auch die Sozialversicherungsabgaben schenkt. Es gibt ganze Branchen, die nur deshalb so funktionieren können, dass gedankenlose Servicefreaks dort Aufträge platzieren können. Es ist auch nicht verwunderlich, dass man dort vor allem junge Menschen arbeiten sieht, die den Raubbau an sich selbst noch nicht so auf dem Schirm haben, den sie damit betreiben oder auch denken, es ist nur ein Zwischenschritt. Wollen wir für sie hoffen, dass es so ist.

Auch dieses Mal können wir die Betrachtung nicht weglassen, die denen gilt, die so gar nichts mit der Mindestlohnzohne zu tun haben. Seit 2020 haben die Menschen, die über 30 Millionen Dollar Nettovermögen haben, diese Vermögen glatt verdoppeln können. Sie profitieren davon, dass in Deutschland und anderswo tatsächlich über 30 Prozent der Menschen bei einer Abstimmung denken, ein Mindestlohn von 15 Euro sei zu viel. Es ist klar, dass bestimmte Kleinunternehmer die gestiegenen Lohnkosten an die Kundschaft weitergeben müssen, um überhaupt Gewinn zu machen, aber wie wär’s denn stattdessen mit einem kooperativen Modell? Was wir überhaupt nicht hören können, ist, wenn jemand als Unternehmer sagt, er verdient weniger als seine Angestellten. Ja, dann sollte die Konsequenz wohl klar sein.

Nein, die Löhne sind weltweit viel zu niedrig, daraus resultieren enorme Gewinne, die auch während Corona weiter angestiegen sind. Klingt seltsam, wo doch einige Branche so zu „knapsen“ hatten. Ist es aber nicht. Die Kapitaleigner haben es sich zunutze gemacht, dass die Unternehmen getrimmt wurden, die Börsenkurse stiegen, und sie steigen immer weiter. Ob das noch lange gutgehen kann, ist eine andere Frage. Aber der absurde und rasch wachsende Reichtum einiger ist der Spiegel der anhaltenden Armut vieler – und sie nimmt in den klassischen Industrieländern zu. In Deutschland sogar ziemlich schnell, weil es insgesamt nicht mehr rundläuft.

Angesichts der Tatsache der weltweit rasant zunehmenden Ungleichheit zwischen Arbeitenden und Kapital Besitzenden wollen Sie den Menschen wirklich einen Mindestlohn von 15 Euro verwehren, von denen Sie tagtäglich bedient werden und die den Laden hier am Laufen halten? Wenn Sie zu dieser Gruppe der „Zu-viel-Abstimmer“ gehören, sollten sich ein bisschen schämen, finden wir. Wir schämen uns schon beinahe dafür, dass wir sagen, es ist genug. Wir sehen es aber auch als Zwischenschritt, bis vielleicht doch die Konjunktur wieder anzieht und bis endlich das gesamte Verfahren neu ausverhandelt wird. Wer leistet tatsächlich und wer profitiert nur, ohne arbeiten zu müssen?

Dass die FDP eine Mindestlohnerhöhung ablehnt, ist klar, sie dient ja den Reichen. Die CDU vergisst wieder mal das „C“, aber auch das ist ja nichts Neues. Die Tarifpartner haben sich nie um diejenigen gekümmert, die nicht im tarifgebundenen Bereich arbeiten, und das ist in Berlin die Mehrzahl aller Beschäftigen. Die FDP ist wenigstens offen klassistisch, dafür wird sie ja auch nur von einer Minderheit gewählt, aber die Scheinheiligkeit der Union ist nach der Existenz der AfD das größte Übel in dieser Demokratie, in der auch unter Kanzlerin Merkel die Ungleichheit angewachsen ist, weil die Einkommen oben viel schneller stiegen als unten.

Eigentlich müssten wir noch einmal abstimmen, wir waren da viel zu gutmütig, angesichts des Reibachs der Reichen, der immer unverschämtere Dimensionen annimmt und die sich die Politik immer offener kaufen, damit es auch schön so bleibt. Auch das mit dem „kaufen“ ist nicht aus der hohlen  Hand geschrieben. Werfen Sie mal einen Blick auf das, was NGOen wie Abgeordnetenwatch und Lobbycontrol so alles zusammentragen über die Verbandelung von Wirtschaft und Politik. Aber lassen Sie sich nur einreden, 15 Euro Mindestlohn für schwer arbeitende Menschen seien zu viel Geld. Darüber lachen die Privilegierten sich richtig schlapp.

TH

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