Hannah und ihre Schwestern (Hannah and Her Sisters, USA 1986) #Filmfest 1098 #Top250

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Hannah und ihre Schwestern ist eine romantische Filmkomödie aus dem Jahre 1986. Es ist einer der komplexesten Filme Woody Allens. Anders als in seinen meisten anderen Filmen tritt Allen nur in einer Nebenrolle auf. Die Protagonisten des Films sind miteinander auf vielfältige Art und Weise verbunden.

„Hannah und ihre Schwestern“ ist für uns eine der Überraschungen des Herbstes. Die Tatsache, dass Woody Allen 80 Jahre alt geworden ist*, hat ohnehin schon für Entdeckungen gesorgt, denn wir kannten auch „Annie Hall“ nicht, der vielen als sein Meisterwerk gilt. Auch den Nachfolger „Manhattan“ haben wir jetzt erst für den Wahlberliner rezensiert, wenn auch nicht erstmalig gesehen, ebenso wie „The Purple Rose of Cairo“. Die Filme der 1970er und 1980er sind wohl die wichtigsten im Schaffen von Woody Allen. Nicht, dass alle später entstandenen schlecht wären, aber die Vorwärtsentwicklung seines einmaligen künstlerischen Stils kann man schon in den 1980ern als abgeschlossen ansehen – allerdings musste es dazu erst einen Film wie „Hannah und ihre Schwestern“ geben. Mehr zu diesem steht in der Rezension.

Handlung

Hannah, eine liebevolle und anspruchslose Person, ist Schauspielerin. Hannah gibt sich ausgesprochen verschlossen und versucht, niemandem mit ihren Problemen zur Last zu fallen. Dabei bemerkt sie gar nicht, wie belastend gerade ihre Verschlossenheit für ihr Umfeld ist.

Elliot und Hannah sind miteinander verheiratet. Der sensible und belesene Elliot kommt mit Hannahs unkomplizierter und vordergründig bedürfnislosen Art nicht zurecht. Er möchte für jemanden da sein, um den er sich kümmern kann. Diesen Menschen glaubt er in Lee, Hannahs Schwester, gefunden zu haben.

Lee: Bevor Lee ihren Freund, den Maler Frederick, getroffen hat, verlief ihr Leben katastrophal. Sie trank und fand sich selbst fett und hässlich. Nachdem sie es erst genoss, für einen berühmten Künstler die wichtigste Person in seinem Leben zu sein, empfindet sie dieses Leben nun als Belastung. Ihre Rolle als Fredericks Schülerin füllt sie nicht mehr aus.

Holly war lange kokainabhängig. Ihre Karriere als Schauspielerin kommt nicht in Schwung. Sie leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen und erlebt jedes gescheiterte Vorsprechen als Beweis ihrer Unzulänglichkeit. Ihr Verhältnis zu Hannah ist gespannt. Sie fühlt sich von ihr bevormundet.

Mickey ist ein erfolgreicher und gestresster Comedy-Autor fürs Fernsehen. Einen Ausgleich findet er in seiner Hypochondrie. Mickey war mit Hannah verheiratet, mit der er zwei Söhne hat, die durch die Samenspende eines Freundes entstanden, weil er selbst als unfruchtbar gilt.

Frederick ist ein begabter Maler, der mit der Welt um sich herum nicht klarkommt. Er sieht in Lee seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie liebt er mehr als alles andere, und eigentlich liebt er niemanden außer Lee.

Der Film gliedert sich in 16 Kapitel und folgt mehreren Handlungssträngen, die miteinander in Beziehung stehen. Die Handlung erstreckt sich über zwei Jahre − im Fokus stehen dabei die Dinners zum Thanksgiving: eines ganz zu Beginn des Filmes, eines kurz vor Ende und eines als Abschluss des Films.

Rezension 

Woody Allen misstraut grundsätzlich Versprechungen, die über das Hier und Jetzt hinausgehen, deswegen sind seine Filme oft Hymnen an den Augenblick und Aufforderungen, diesen Augenblick und das Leben fest ins Visier zu nehmen und sich darauf einzulassen. Aber kein Allen-Film, den wir bisher gesehen haben, lässt dieses Prinzip so von der Leine wie „Hannah und ihre Schwestern“. Die Handlung beginnt an einem Thanksgiving-Day, an dem eine jüdische Familie zusammenfindet und läuft ab, wie Familienfeiern eben ablaufen, nur mit etwas interessanteren Typen als bei einer durchschnittlichen Familienfeier, mit Linien, die in der Folge den Film bestimmen werden, weil hier nichts vollendet und alles im Fluss scheint. Ein Jahr später, beim nächsten Treffen, scheint das Desaster perfekt, alle haben sich irgendwie verfahren und sehen sich unlösbar scheinenden Problemen, Dilemmata, dem Scheitern gegenüber. Doch dann noch ein Jahr, und alles ist besser als je zuvor: Mickey hat keinen Hirntumor und in der exzentrischen Holly sein alter ego gefunden, und er kann doch Kinder kriegen. Elliot bleibt bei der wunderbar empathischen Hannah und entsagt dem  Seitenspringen mit ihrer Schwester Lee, diese wiederum ist auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung wieder einen großen Schritt vorangegangen und hat einen Universitätsdozenten kennengelernt, der ihr diese Entwicklung spiegeln kann.

Dass es zwei Darsteller-Oscars gab, einen für Michael Caine als Elliot und einen für Dianne Wiest als Holly, ist für uns absolut nachvollziehbar, Woody Allen hätte im Grunde für jede seiner Figuren einen verdient, wenn sie nicht doch alle einander ähnlich wären und er sich in ihnen mehr oder weniger selbst spielt. Gerade bei Michael Caine aber bemerkt man anhand von „Hannah“ seine Vielseitigkeit. Wir haben ihn zuletzt in „Die schwarze Windmühle“ (1974) gesehen, wo er als Geheimdienst-Offizier eine ganz andere Ausstrahlung auf die Leinwand bringt. Die Rolle des erstaunlich feinsinnigen Anlageberaters in „Hannah“ meistert er so souverän, dass er mal nicht schlau oder taff wirken darf, sondern unsicher und unerfüllt und von widerstreitenden Gefühlen und seinem Gewissen geplagt – Donald Sutherland ist der andere britische Schauspieler, der für diese Rolle infrage gekommen wäre. Natürlich spielt Woody Allens damalige Frau Mia Farrow die Hannah, und ihre   Fähigkeiten hat er in vielen Filmen wunderbar ins Bild gesetzt. Obwohl der Film ihre Figur im Titel trägt, hat man nicht den Eindruck, dass sie auch die meiste Spielzeit hat – sicher aber ist sie der emotionale Mittelpunkt der Familie, deren Nachname offensichtlich nicht genannt wird (und die deshalb umso mehr exemplarisch wirkt).

Zu dem üblichen Sprachwitz, der auch in „Hannah und ihre Schwestern“ auf hohem Niveau zum Vergnügen beiträgt, gesellt sich ein größeres Personaltableau als in den meisten anderen Allen-Filmen, obwohl diese selten unter zu viel Konzentration auf Einzelfiguren leiden. Doch die Souveränität, mit welcher der Großstadtneurotiker dieses Tableau zu einem glücklichen Ende schiebt, ist hier fantastisch. Es sind die Leute, die er kennt und die man von früheren Filmen kennt, vielleicht nicht ganz so künstlerisch orientiert, dafür aber auch nicht in ihrer Funktion als Teilnehmer am Kunstbetrieb so satirisch angeleuchtet wie besonders in „Annie Hall“ und „Manhattan“. Es ist sein eigenes, jüdisch-intellektuelles und dabei wieder speziell newyorkerisches Milieu, das es möglicherweise in dieser Ausprägung sonst nirgends auf der Welt gibt. Schade einerseits, andererseits muss am Big Apple und seinen Typen auch etwas dran sein, das all dies besonders wirken lässt. Dass es gleichwohl universell ist und man alle Gefühle und Gedankengänge der Figuren so gut nachvollziehen kann, ist eines der Geheimnisse, warum Woody Allens Filme von einer bestimmten Klasse Menschen geliebt werden, die viel reflektieren, die ein wenig kunstverständig sind, die sich an den Anspielungen und Aussagen ergötzen können, die ein gewisses Maß an Bildung voraussetzen, aber niemanden überfordern, der ebenjenes Maß an Bildung vorweisen kann, ohne dass er dafür gleich ein Genie sein muss. Allens Filme aus dem New Yorker Medien- und Kunstbetrieb sind auf diesem Niveau alles andere als hermetisch.

Außerdem können wir uns kaum einen anderen Filmemacher vorstellen, der es schafft, sich als Figur so rüberzubringen, dass man vor Lachen kaum an sich halten kann, wenn eine Tumor- oder Krebsdiagnose droht. Im Grunde ist das, was Mickey durchleiden muss, gar nicht witzig, und es geht dabei eben nicht nur um die übliche Stadnteurotiker-Hypochondrie. Vielmehr kommt es zu einem realen Bedrohungszenario, als seine Ärzte immer weiter an ihm herumdiagnostizieren, ohne vorerst zu einem Schluss zu kommen. Man muss kein Hypochonder sein, um genau das nachzufühlen, was in Mickey in diesen bangen Minuten und Tagen vor sich geht. Wir haben sogar eine persönliche Assoziation zu einer solchen Lage – deren Details hier nichts zur Sache tun. Selbstverständlich nutzt er die letztliche Erleichterung, um endlich aus der Vergangenheit zu treten und sich für Holly frei zu machen. Wir sind eben doch im Film, da bewirken kathartische Erlebnisse genau das, nämlich eine Katharsis. Nebenbei erfahren wir, wie witzig es sein kann, an einer Kiste richtig zu arbeiten, auch wenn sie anfangs nicht zu passen scheint, wie es ja bei vielen Beziehungen ist, in denen Woody Allen während vieler seiner Filme steckt. Man versteht sich nicht automatisch blind.

Die Art und Weise, wie Allen kommunikative Missverständnisse und Fallen für den Zuschauer erläutert, ist hoch modern und war, als er sie in den 1970ern auf die Leinwand brachte, ihrer Zeit ein gutes Stück voraus. Dialogfilme gab es schon vorher, aber bei ihnen traf oft das Wort „dialoglastig“ zu, weil die Gespräche das Filmische erstickten und es irgendwann in Mode kam, viel zu viel zu theoretisieren und in Worten darzustellen, was man besser bildlich umgesetzt hätte. Allens Werke sind, vom sehr präzise komponierten „Manhattan“ abgesehen, in dem die Grafik der Stadt, ihrer Bauten und Kunstwerke und wie Menschen dazu in Bezug gesetzt werden, eine ungewöhnlich große Rolle spielt, keine visuellen Offenbarungen. Sie sind aber nicht im genannten Sinn dialoglastig, weil die Wortkaskaden so pointiert und auf Konfrontation gebürstet wurden, auf Nabelschau vom Feinsten, dass man sie als jemand, der mit Worten operiert, fantastisch und allemal gerechtfertigt findet. Es gibt in seinen Filmen auch Momente, in denen es etwas viel wird, aber keiner davon ist in „Hannah“ zu beklagen. Einfach deswegen, weil der Rhythmus des Films wunderbar ausgewogen ist und der Wechsel zwischen den Handlungssträngen ein Festfahren der Handlung im Morast der verbalen Überdehnung verhindert.

Finale

„Hannah und ihre Schwestern“ ist einer der menschlich wärmsten, bewegendsten Filme von Woody Allen, gewiss ein wenig sentimental, aber nicht kitschig, weil die Figuren diese Sentimentalität als etwas Natürliches erscheinen lassen, das zum Leben gehört. Wie häufig setzt Allen auch hier Klassiker des New Yorker Komponistenschaffens der 1930er oder 1940er Jahre ein, die man aus älteren Filmen kennt, und die für die Amerikaner einen hohen, emotional unterlegten Wiedererkennungswert haben, um diesen Effekt zu verstärken. Am besten funktioniert das natürlich, wenn die älteste Generation der Familie diese Lieder singt oder am Klavier zum Besten gibt, die Menschen, die mit dieser Musik groß geworden sind. Allens Eindringen ins kollektive Bewusstsein funktioniert aber auch hier und jetzt, zumindest dann, wenn man durch die Befassung mit dem Medium Film einen ähnlichen Zugang zu dieser Musik hat wie die Amerikaner selbst. Denn vor der Auseinandersetzung mit moderneren und komplexeren Filmen war erst die Faszination für diese alten Musical notwendig, in denen diese Lieder präsentiert wurden, häufig verbunden mit Tanzszenen, u. a. von Fred Astaire und Ginger Rogers. Nicht zuletzt trägt die Musik damit zum Rhythmus und zur emotionalen Temperatur der Allen-Filme und einzelner Szenen viel bei, unterstreicht oder kontrastiert, aber ist nie neutral. Filme wie „Hannah und ihre Schwestern“ ist Gefühlskino im besten Sinn.

85/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
*Wir haben die zeitlichen Bezüge aus dem Entwurf unverändert übernommen.

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Woody Allen
Drehbuch Woody Allen
Produktion Robert Greenhut,
Charles H. Joffe,
Jack Rollins,
Gail Sicilia
Kamera Carlo Di Palma
Schnitt Susan E. Morse
Besetzung

 

 

 


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