Crimetime 1221 – Titelfoto © NDR , Christine Schroeder
Nach der Trennung ist es besonders anders
Seine Familie kann man sich nicht aussuchen ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Polizeiruf 110. Der vom Norddeutschen Rundfunk produzierte Beitrag ist die 397. Episode des Polizeiruf 110 und der 25. Fall der Ermittlerin Katrin König. Die Erstausstrahlung erfolgte am 24. April 2022 im Ersten.
Bei der Erstausstrahlung von Seine Familie kann man sich nicht aussuchen am 24. April 2022 verfolgten in Deutschland insgesamt 8,19 Millionen Zuschauer die Filmhandlung, was einem Marktanteil von 26,3 Prozent für Das Erste entsprach.[1] Damit liegt der Polizeiruf zwar unter dem Tatort-Durchschnitt, doch über 8 Millionen Zuschauer:innen bei der Premiere können sich im wörtlichen Sinne sehen lassen.
In der Vorschau hatten wir uns bereits mit der Trennung des Ermittler – und letztlich auch Liebespaares Buckow-König auseinandergesetzt und Kritiker:innen zu Wort kommen lassen. Der Tenor zum neuen Rostock-Tatort war nicht so negativ, aber man muss einen Film immer selbst gesehen haben, um zum Beispiel einen Abgang in Relation zu einem Neuzugang einschätzen zu können. Wie es dieses Mal, ohne Sascha, in Rostock war, darüber mehr in der – Rezension.
Handlung
In einem Einfamilienhaus werden eine alleinerziehende Mutter und ihr Sohn tot aufgefunden. Sie wurde mit mehreren Stichen ermordet. Ihr vom Hals abwärts gelähmter Sohn starb an einem Schlaganfall, weil niemand mehr seine Infusion wechseln konnte. Ein Tod in kompletter Einsamkeit.
Katrin König ermittelt bei Jens Sommer, dem Ex-Mann und Vater, sowie bei der Familie Genth, die gut mit den Sommers befreundet war. Haben Jule und Holger Genth etwas mit dem Tod der Sommers zu tun – oder ihre Pflegekinder Emma und Max? Als Max plötzlich verschwindet und sich der Verdacht gegen ihn erhärtet, beteiligt sich auch Katrin König an der Suche. Dabei handelt sie gegen die explizite Anweisung ihres Vorgesetzten, der selbst klare Anweisung von „oben“ erhalten hatte: Das Rostocker Team soll sich von Pflegekind Max fern halten, da der Junge mit verdeckter Identität lebt.
Um das sicherzustellen, reist Kommissarin Melly Böwe aus Bochum an – die eine enge Verbindung zu Max hat, wie sich zeigt. Und dann wird Katrin König auch noch die Stelle der Teamleiterin angeboten, die seit Kommissar Bukows Weggang vakant ist.
Weitere Stimmen
„Der Plot schlingert zuweilen, weil darin noch so fürchterlich viel Anderes verhandelt werden muss (angesagte Drogencocktails, osteuropäische Mafia, personelle Neuaufstellung), aber als Panorama familiärer Ohnmacht und männlicher Heulsusigkeit entfaltet der Fall eine nachhaltig verstörende Wirkung.“ – Christian Buß: Der Spiegel[2]
Birgit Baumann geht im Standard auf den Ermittlerwechsel ein: Melly Böwe wird von Lina Beckmann gespielt, der Ehefrau von Charly Hübner. Er hatte die Rolle des bisherigen König-Kollegen Sascha Bukow aufgegeben, und König leidet unter dem Verlust. „Beckmann alias Böwe ist präsent und patent. Und dennoch: Der Abgang von Bukow muss erst einmal verdaut werden, der Trennungsschmerz dauert bis zur letzten Minute. Immer wieder glaubt man, dass er gleich um die Ecke tappt. Passiert aber nicht. Vielleicht wird es beim nächsten Mal schon leichter.“[3]
Dass die erste Episode des neuen Duos scheitere, liege nicht an Königs unverarbeitetem Trennungsschmerz und auch nicht an der Neuen an ihrer Seite, urteilt Andreas Frei in der Augsburger Allgemeinen, vielmehr liege es am Drehbuch: Derart viele Figuren tanzten hindurch, „dass einem ganz schummrig wird“. Er kritisiert „unzählige Figuren, die hineinplatzen und wieder verschwinden“. Auch Königs eigene Geschichte als Pflegekind oder Böwes persönliche Verbindung zu Max würden angetippt werden und verpufften wieder: „Der Film will zu viel und ertrinkt in dem Anspruch.“[4]
Ich kann es wenden, wie ich will: Es reicht nicht, die Hälfte des Power-Duos König / Bukow durch Donuts zu ersetzen. Vielleicht wäre das so gewesen, wenn alles andere gepasst hätte. Ich glaube auch zu verstehen, welche schrecklichen Diskriminierungen den Pflegekindern zuteil werden, nachdem deren Pflegeeltern es schaffen, doch noch ein einiges Kind zu bekommen. Ich kann auch die Pflegeeltern verstehen, die es mal etwas leichter haben wollen als mit Max, den ihnen Melly Böwe mehr oder weniger aufgeschwatzt hat, von Selbstmitleid, wie König es sehr schnell tut, würde ich daher nicht so hart sprechen wollen. Man muss die Situation mit einem Sorgenkind, wenn sie jahrelang andauert, erst einmal verstehen und König als Kinderlose tut sich da zu leicht mit ihrem Urteil. Dabei hat sie selbst den Hintergrund, ein angenommenes Kind zu sein, Überlebende eines DDR-Flüchtlingsdramas.
Hinzu kommt aber, dass ich mich an Melly Böwe als Ersatz für Sascha Bukow erst gewöhnen muss und natürlich auch an die zuweilen irritierten Reaktionen Katrin Königs auf sie, die ich jedoch ebenfalls nachvollziehen kann. Es ist schwer, diese Bukow-Lücke zu füllen, sogar mit einer eigenen Frau (Böwe-Darstellerin Lina Beckmann und Bukow-Darsteller Charly Hübner sind im Realleben ein Paar). Im Grunde lässt sich die vorherige Konsteallation nicht adäquat ersetzen, vermutlich nicht einmal durch den Versuch, sie 1:1 durch den Einsatz eines ähnlichen Typs wie Bukow. Zum einen gibt es solche Typen nicht viele, zum anderen hat jedes Ding seine Zeit. Beide waren nun einmal zwölf Jahre jünger als jetzt, als sie in Rostock zusammengespannt wurden. Da ist etwas gewachsen, auch durch die horizontale Erzählung, die sich mit der Vergangenheit und dem Werden der Beziehung gleichermaßen auseinandergesetzt hat, das kann man nicht reproduzieren. Man sollte es auch nicht und mir hätte es ausgereicht, wenn man das bisherige Team ohne Bukow hätte weitermachen lassen, es gibt um Katrin König ja noch Männer und es wäre interessant gewesen zu sehen, wie zum Beispiel Pöschel auf sie als neue Teamleiterin reagiert hätte, ohne dass ein neues Element die Lage verändert.
Auf der kognitiven Ebene hat mich der Familienfilm jedoch erreicht. Ich verstehe, was man mit ihm ausdrücken will und wie Biografien beeinflusst oder gar Morde provoziert werden, wenn man das Pech hatte, von Beginn an ohne echte Chance aufzuwachsen. Das ist furchtbar ungerecht, aber diese Ungerechtigkeit auszugleichen, ist beinahe unmöglich. Gefühlsmäßig sieht es anders aus, ein bisschen konnte ich schon mit der „Mörderin“ fühlen, zumal ihr Angriff kein Mord war, aber tot ist tot und wie soll man Menschen, die hermetisch sind, so zeigen, dass man sich ihnen als Zuschauer so öffnet, wie man sich gegenüber Menschen öfffnet, die es ohnehin leichter haben im Leben. Die Ungerechtigkeit setzt sich fort, was wir sehen, müsste ihm Grunde therapeutisch, sozialpädagogisch abgefedert werden. Dann käme wiederum die Frage auf: Wieso? Wirkt das zurückgenommen, unscheinbare Mädchen, das die Fassung verliert, als es abgeschoben werden soll, wie eine tickende Zeitbombe? Max gerät viel eher in Verdacht, weil er viel mehr opponiert, sich in Drogen flüchtet, erkennen lässt, dass die Welt und er nicht miteinander im Einklang stehen.
Finale
Sicher hat der Film nicht die Dynamik, die früher In Rostock üblich war, selbst wenn noch unzählige Nebengeräusche zu vermerken waren, überfrachtet fand ich ihn aber nicht und in seiner Aussage ziemlich klar, nicht ganz zufrieden bin ich mit seiner Position, falls es diejenige von König sein sollte, die als einzige eine Meinung ausdrückt und nach Bukows Abgang beinahe alleine die moralische Autorität im Rostocker Team ausübt. Die Zeiten, als auf der Wache noch Rechtsphilosophie betrieben wurde, hätte man wiederaufleben lassen können, aber das wäre dann neben den Donuts wohl doch zu viel gewesen. Dass ich in diesem Film nicht emotional mittendrin war, bedeutet nicht, dass er schlecht ist. Viele Menschen werden darin etwas finden, weil es sie an ihre eigene Biografie erinnert. Ich habe im Moment gar nicht im Kopf, ob Melly Böwe dauerhaft in Rostock arbeiten soll, für mich ist die Bukow-Position noch offen und man kann experimentieren. Oder das Team eben ein wenig schrumpfen lassen. Auch in Tatorten gab es das mangels guter Alternativen für Abgänge schon. Nie auf Dauer freilich.
7/10
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2022)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
- [1] Felix Maier: Primetime-Check Sonntag, 24. April 2022. In: de. 25. April 2022, abgerufen am 25. April 2022.
[2] »Polizeiruf 110« mit Lina Beckmann: Familie ist nur ein anderes Wort für Versagen – DER SPIEGEL
[3] Rostocker „Polizeiruf 110“ mit neuer Kommissarin: Der Schmerz nach der Trennung – Fernsehkritik: TV-Tagebuch – derStandard.at › Etat
[4] Polizeiruf 110: Neuer „Polizeiruf“ aus Rostock: Die erste Folge ohne Bukow | Augsburger Allgemeine (augsburger-allgemeine.de)
| Regie | Stefan Krohmer |
|---|---|
| Drehbuch | Florian Oeller |
| Produktion | |
| Musik | Christopher Colaço & Philipp Schaeper |
| Kamera | Carol Burandt von Kameke |
| Schnitt | Jan von Rimscha |
| Premiere | 24. Apr. 2022 auf Das Erste |
| Besetzung | |
|
|
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

