Crimetime Vorschau – Titelfoto © NDR, Christine Schroeder
Der Neuanfang mit dem langen Titel, der eine schlichte Tatsache beinhaltet
Sascha Bukow ist weg. Banger Blick nach Rostock: Kann der dortige Polizeiruf jemals wieder so werden wie mit ihm und Katrin König als Gespann? Sicher nicht. Wir kommen nun auch nicht mit der Plattitüde, dass anders nicht schlechter sein muss.
Einige Tatort- und Polizeirufermittler:innen haben diverse neue Partner:innen überstanden, ohne dass sich deswegen viel zum Negativen verändert hätte. Aber Charly Hübner hat dem Rostocker Polizeiruf zusammen mit Anneke Kim Sarnau ein besonderes Vermächtnis hinterlassen. Ein Paar mit so viel Drive und Emotionalität hat es nie zuvor im Tatort oder Polizeiruf gegeben und es ist schwer vorstellbar, das zu toppen. Mir fallen auch keine Darsteller:innen ein, die das könnten, deshalb ist es vermutlich eine gute Idee, es mit zwei Frauen zu versuchen, außerdem liegt es im Trend. Vielleicht tritt die „zweite Reihe“ des Teams etwas mehr hervor, Pöschel und Thiessler. In anderen Schienen wären sie ohnehin geeignet, die Filme zu tragen, Pöschel-Darsteller Andreas Guenther tut das andernorts auch. Lina Beckmann, die nun als Melly Böwe an der Seite von Anneke Kim Sarnau ermittelt, ist eher als hervorragende Bühnenschauspielerin denn als Fernsehstar bekannt, aber der Wechsel in diese Richtung ist allemal leichter als umgekehrt, wenn an nicht am Theater ausgebildet wurde. Was sagen nun die Profis zu dem Film, dessen Titel eher wie die Sub-Headline klingt und auch irgendwie banal. Ja, sisso. Ich glaube, dass es mehr Menschen gibt, die dies bedauern als solche, die es super finden, weil sie zum Beispiel mit dem goldenen Löffel geboren wurden.
Melly Böwe ist da – und setzt zu Beginn gleich mehrere Ausrufezeichen: Unangekündigt platzt sie in die Ermittlungen, Muffins mampfend inspiziert sie Kinderzimmer und Opferwohnungen, zielstrebig stapft sie durch die mecklenburgische Wildnis auf der Suche nach dem verschwundenen Zögling – das alles mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie nie etwas anderes getan. Mit der desorientierten und psychisch labilen Katrin König als Kontrastfigur funktioniert das gut. Klar ist aber auch: Der Rostocker Polizeiruf wird mit Melly Böwe harmonischer, gefälliger, humorvoller, versöhnlicher werden. (…) Das muss nicht verkehrt sein, solange das Kunststück gelingt, dabei den melancholisch-rauen Grundton der NDR-Krimis aus dem Nordosten zu erhalten (…). Eine Bemerkung noch zum Fall selbst: Die behauptete „Vorstadthölle“, die sich hinter der Heile-Welt-Fassade der Familie Genth verbirgt, hätte – mit welchen filmästhetischen Mitteln auch immer – über die gesamte Filmlänge sehr viel deutlicher herausgearbeitet werden müssen, nicht nur in der letzten Viertelstunde. Der hr hat letzten Sonntag gerade gezeigt, wie’s besser geht. – Redaktion Tatort-Fans
Den HR-Tatort „Finsternis“ haben wir noch nicht gesehen, müssen das aber in den nächsten Tagen tun, um im Takt zu bleiben. Auffällig ist, wie seit einiger Zeit in den Filmen der beiden Reihen Familien-Blackboxen angefasst, hin- und her gewendet, von allen Seiten betrachtet, geöffnet und untersucht werden. Das Spannendste ist eben doch daheim, da mag das Draußen die Hölle sein. Vielleicht ist es gerade das: Die Gefahr des Lebens, von der in letzter Zeit wieder mehr die Rede ist, bedingt eine Abkehr von den großen Entwürfen und eine Hinwendung zu den kleinen Welten, die jedem geläufig sind. Ob jeder sie so oft sehen will, wie sie im Moment serviert werden, ist eine andere Frage. Die Quoten der Tatorte stimmen jedenfalls nach wie vor. Wir schreiten voran mit der Kritiker:innenschau:
Geht’s auch ohne ihn [Sascha Bukow, Anm. TH] ? Ja, Kommissarin König funktioniert auch allein – nur nicht so gut, sagt SWR3-Redakteur Michael Haas. (…) Alles in allem haben wir hier einen eher unspektakulären Polizeiruf mit anständiger Story, moralisch immer auf der richtigen Seite, aber auch ohne große Kracher. Macht solide drei von fünf Elchen. Und ja, Bukow fehlt! Mir auch!
Das ist vollkommen legitim und wenn es nicht so wäre, hätte Bukow eben doch wenig Spuren hinterlassen. Es gibt aber doch wenigstens drei von fünf Elchen. Mit „auch“ ist gemeint, dass auch König ihn vermisst. Ebenfalls kein Wunder, nach „Der Tag wird kommen“, einem Film, der mich schon berührt, wenn ich nur an ihn denke. Und wenn ich an die Tatort- und Polizeiruf-Teams denke und darüber nachdenke, welche mir am meisten fehlen würden, wenn sie aufhörten, hatte ich die Rostocker immer vernachlässigt, weil ich wohl doch sehr im seit viel längerer Zeit gewohnten Tatortland verblieben bin – wir rezensieren Tatorte seit 2011, Polizeirufe erst seit 2019. Im Moment würde ich so weit gehen, zu sagen, dass ich bei allen Polizeirufschienen eine Neubesetzung gut verkraften würde, mit Ausnahme von Rostock, wo doch immerhin eine Hälfte des unvergleichlichen Paars und ansonsten das gesamte Team weitermacht.
Familie ist nur ein anderes Wort für Versagen – Männerschwund: Nachdem Charly Hübner den »Polizeiruf« verlassen hat, ermittelt Anneke Kim Sarnau nun gemeinsam mit Lina Beckmann. Es geht um zwei Familien, in denen die Väter durch Abwesenheit glänzen. – Christian Buß, Der Spiegel
Es wird ein richtiges Frauending, in dem Männer am Ende ganz stark sein müssen, schreibt Buß u. a. im weiteren Verlauf seiner Kritik. Klar, ohne einen Bukow, der mehrere andere Männer spielend ersetzen und für uns alle stark sein konnte, muss man selber stark sein. Buß vergibt 7/10, das ist ordentlich, aber die Kritiker:innen mochten den Polizeiruf Rostock meist so gerne, dass man auch von einer mittleren Wertung sprechen kann. Im Grunde ist es ganz einfach: Familie ist erst zum Versagen geworden, als die Evolution bei der Entwicklung des Menschen gleich mehrere schwerwiegende Fehler beging und es fehlt nicht nur in den Familien ein Mann, sondern auch dem männlichen Zuschauer nun ein Charakter, mit denen er sich identifizieren kann. Papa Bukow hat uns mit all diesen Frauen sitzengelassen und wir müssen die Chance, die darin liegt, erst einmal annehmen.
Nach Bukows Abgang bekommt es die Kripo Rostock mit einem besonders grausamen Verbrechen zu tun. Und dann taucht plötzlich Bukows Halbschwester Melly Böwe auf und grätscht Katrin König in ihren Fall. Grund: ein 16-Jähriger im Zeugenschutz, Böwes Schützling, könnte etwas mit dem Mord zu tun haben. Erfreulicherweise erwartet die Zuschauer in „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ (NDR / filmpool fiction), dem ersten Rostocker „Polizeiruf 110“ ohne Charly Hübner, kein nerviger Zickenkrieg im Dienst. Die Situation zwischen den beiden entspannt sich deutlich; dass sie künftig gemeinsam ermitteln ist noch nicht ausgemacht. Es ist ein ungewöhnlicher Einstieg für eine (potenzielle) Neue, ein Einstieg mit tief sitzendem psychologischem Konfliktpotenzial. Auch wenn Böwe offenbar zum Anti-Bukow gemacht werden soll, zwar direkt, aber freundlich, zugewandt, ja geradezu herzlich, wird dieser „Polizeiruf“-Ableger auch künftig dunkel, abgründig und ambivalent genug bleiben. „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ ist ein in sich stimmiges Krimidrama, das vor allem auch als Charakterstudie der „Heldinnen“ taugt. Es ist somit eine klug konzipierte Übergangsepisode. (…)
Was andere erhoffen, ist für Rainer Tittelbach, den Herausgeber der nach ihm benannten Online-Publikation Tittelbach-TV, bereits klare Sache. Es wird viel vom bisherigen Rostock-Konzept bleiben, auch wenn die Ermittlungspartnerin, die König nun hat, anders gestrickt zu sein scheint als ihr Halbbruder. Es ist ein großes Erbe, das „die Neue“ nun antritt, aber „der Alte“ kann ihr ja Tipps geben, falls notwendig, um die besondere Atmosphäre und das Setting des HRO-Polizeirufs im Sinne dieses Erbes zu erneuern. Lina Beckmann ist im Realleben die Frau von Bukow alias Charly Hübner.
TH
Handlung, Stab, Besetzung
In einem Einfamilienhaus werden eine alleinerziehende Mutter und ihr Sohn tot aufgefunden. Sie wurde mit mehreren Stichen ermordet. Ihr vom Hals abwärts gelähmter Sohn starb an einem Schlaganfall, weil niemand mehr seine Infusion wechseln konnte. Ein Tod in kompletter Einsamkeit. Katrin König ermittelt bei Jens Sommer, dem Ex-Mann und Vater, sowie bei der Familie Genth, die gut mit den Sommers befreundet war. Haben Jule und Holger Genth etwas mit dem Tod der Sommers zu tun – oder ihre Pflegekinder Emma und Max? Als Max plötzlich verschwindet und sich der Verdacht gegen ihn erhärtet, beteiligt sich auch Katrin König an der Suche.
Katrin König | Anneke Kim Sarnau |
Henning Röder | Uwe Preuss |
Jule Genth | Susanne Bormann |
Holger Genth | Jörn Knebel |
Anton Pöschel | Andreas Guenther |
Max Wagner | Alessandro Schuster |
Emma Pettke | Paraschiva Dragus |
David Sommer | Paul Ahrens |
Volker Thiesler | Josef Heynert |
Melly Böwe | Lina Beckmann |
Jens Sommer | Christian Beermann |
Regie | Stefan Krohmer |
Musik | Philipp Schaeper |
Christopher Colaco | |
Kamera | Carol Burandt von Kameke |
Buch | Florian Oeller |