Briefing Umfrage, Politik, Personen, Parteien, PPP, Gesellschaft, Tag der Deutschen Einheit
Seit es den Wahlberliner gibt, beschäftigen wir uns auch mit der Wiedervereinigung und mit der deutschen Einheit, nicht nur sporadisch, sondern quasi an jedem Einheitstag und zwischendurch auch immer wieder. Den 33. Tag der deutschen Einheit im vergangenen Jahr hatten wir mit zwei vergleichsweise umfangreichen Artikeln gewürdigt. [1]
Auch damals war die Civey-Umfrage zum Tag der Einheit eingebettet, die Unterschiede zur aktuellen, die wir zum Kern dieses Artikels machen, sind spannend. Erst einmal jedoch zur aktuellen Version:
Manchmal bitten wir Sie, erst den Begleittext zu lesen und auch unsere Infos und unseren Kommentar, dieses Mal nicht. Lassen Sie bitte erst Ihr Gefühl sprechen und schauen Sie sich dann die Ergebnisse an.
Begleittext zur Umfrage
„Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen.” So lautet der Titel des diesjährigen Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit. Mittlerweile sind 34 Jahre seit der deutschen Wiedervereinigung vergangen. Es ist nach wie vor eine Herausforderung, die beiden Teile des Landes in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht zusammenzuführen. Die Bundesregierung sieht zwar große Fortschritte beim Zusammenwachsen des Landes, bei einigen Aspekten seien strukturellen Differenzen jedoch noch deutlich vorhanden.
Positive Fortschritte zeigen sich vor allem in der wirtschaftlichen Entwicklung. Insofern wachse die deutsche Wirtschaft im Osten seit zehn Jahren schneller als im Westen. Dabei nennt der Bericht mehrere internationale Großkonzerne, die sich in der Region angesiedelt haben und moderne Arbeitsplätze schaffen. Auch in puncto Literatur würden sich ostdeutsche Autorinnen immer mehr einen Namen machen, die ein „neues ostdeutsches Selbstbewusstsein” [verkörpern]: zukunftsorientiert, weltoffen und avantgardistisch.” Positiv hervorgehoben wird auch der Austausch, der seit 1990 stattgefunden habe. So seien über fünf Millionen Menschen aus dem Osten in den Westen gezogen, umgekehrt waren es circa drei Millionen. Fortschritte gab es kürzlich auch bei der Rentenangleichung.
Deutliche Unterschiede gibt es nach wie vor noch bei Einkommen, Vermögen und bei Führungspositionen. So würden die Löhne in Ostdeutschland noch immer knapp 30 Prozent unter denen im Westen liegen. Das durchschnittliche Vermögen westdeutscher Haushalte ist mehr als doppelt so hoch im Vergleich zum ostdeutschen Durchschnitts. Ferner würden nur 12 Prozent der Spitzenführungskräfte durch Menschen aus dem Osten besetzt, aus dem Westen sind es knapp 20 Prozent. Die Unterrepräsentation wirke sich negativ auf das Vertrauen in die Institutionen und damit auf die Stabilität der Demokratie aus, warnte der Ostbeauftrage der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD). Daher arbeite die Regierung daran, den Anteil ostdeutscher Führungspositionen zu erhöhen, sagte er im Spiegel.
Haben Sie den letzten Absatz verstanden? Wir nicht. Egal, denn wir wollen Sie nicht auf die Folter spannen. Sie werden es ohnehin geahnt haben.
Die zahl der echten Optimisten, die ganz klar sagen, Deutschland sei vereint (2023er Version der Frage) bzw. die Menschen in Deutschland seien vereint (2024er Version der Frage), sind fast identisch geblieben (12,1 bzw. 12,0 Prozent). Aber schon bei denen, die mit „eher ja“ abgestimmt haben, zeigt sich ein deutlicher Unterschied. Waren 2023 noch 25,8 Prozent der Menschen dieser Meinung, sind es aktuell noch knapp 20 Prozent. Besonders deutlich ist die Zahl derer angewachsen, die sagen: Nein, auf keinen Fall. Von 21 auf fast 29 Prozent. Auch die „eher nein“-Position hat einen leichten Zuwachs von knapp 29 auf knapp 30 Prozent erfahren. Und: waren sich vor einem Jahr noch über 13 Prozent der Menschen nicht schlüssig, sind es jetzt nur noch 10 Prozent. Sie dürfen nun raten, zu welcher Seite die nunmehr nicht mehr Schwankenden eher tendieren.
Mit anderen Worten, fast 60 Prozent der Abstimmenden sind mittlerweile der Ansicht, das war bisher nichts, mit der Vereintheit. Im vergangenen Jahr glaubten das erst knapp über 50 Prozent. Das ist sehr deutlich und entspricht nach unserer Ansicht leider den Tatsachen. Wir hatten schon im letzten Jahr mit „eindeutig nein“ abgestimmt und sind jetzt plötzlich bei der größten Gruppe, weil wir unsere Position gehalten haben. Die Illusionen nehmen deutlich ab, und das hat natürlich auch mit den gerade gelaufenen drei Landtagswahlen im Osten zu tun. Die Ansicht, das, was dort passiert ist, könnte auch im Westen passieren, ist vermutlich nicht sehr weit verbreitet. Relativ gesehen, stimmt das auch, absolut gesehen nicht. Wenn im Westen 30 Prozent die AfD wählen würden, dann wären es im Osten sicher schon über 40 Prozent.
Was ist der Grund für diesen Schlamassel? Ein gigantisches, anhaltendes Politikversagen seit der Wiedervereinigung? So sehen es viele, die im Osten wohnen oder sich dessen Mentalität auf oftmals populistische Weise zunutze machen. Oder gehen die Ursachen tiefer? Was hat die DDR-Diktatur bewirkt? Mittlerweile geht man noch weiter zurück, aus guten Gründen, und entdeckt, dass der Osten auch schon überdurchschnittlich aktiv beim Wählen der Nazis kurz vor der Machtergreifung 1933 war, also zu einem Zeitpunkt, als die Wahlen noch frei waren. Im Osten, aber auch im Norden, haben Menschen häufiger ihr Kreuz bei den Nationalsozialisten gemacht als im Westen und Südwesten. Kürzlich haben wir den Artikel eines Historikers besprochen, der meint, die Unterschiede zwischen dem Westen und „Ostelbien“ bis ins Mittelalter zurückverfolgen zu können und der daraus einen stärkeren Hang zu Völkischem und Autoritarismus im Osten ableitet.
Wenn das so stimmt, dann können wir die jüngere Politik im Grunde entlasten, denn was kann sie schon gegen 800 Jahre lang tradierte und somit nach einer Ansicht in der Biogenetik auch vererbte Verfestigung einer weniger weltoffenen ostelbischen Mentalität machen, die außerdem ein uraltes Narrativ vom erobert werden pflegt? Die Politik hätte alles richtig machen können, die Menschen wären trotzdem unzufrieden gewesen, so, wie sie auch dort am meisten ausländerfeindlich sind, wo es die wenigsten Ausländer gibt.
Was wir dazu geschrieben haben? Wir werden es wohl nicht heute veröffentlichen, am Tag der deutschen Zwietracht, sondern zu einem anderen Zeitpunkt, weil wir den Beitrag noch einmal mit etwas Abstand überarbeiten wollen. In seiner jetzigen Form ist er jedenfalls nicht geeignet, Gräben zu überwinden.
An diesem grauen, tristen Tag, der so richtig gut zum Stand der Einheit passt, machen wir es etwas kürzer. Es wird auch unabhängig vom Datum noch viel zu besprechen sein. Trotzdem freuen wir uns mit für diejenigen, denen durch Einheit neue Chancen eröffnet wurde und die vielleicht sogar ihr Glück als Folge der Möglichkeit, frei zu sein, gefunden haben. Denn immerhin haben ja laut obigem Text insgesamt 8 Millionen Menschen die Seite gewechselt. Zu jenen gehören wir auch, denn Berlin hat uns erst angezogen, als die Mauer darin nicht mehr stand.
TH
[1] Zum 33. Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2023:
- 33 Jahre deutsche Einheit, Teil 2: Ost und West vereint? (Umfrage) +++ Ostidentität weiter stark ausgeprägt (Statista) +++ Über den Stand der Dinge und mentale Probleme der Deutschen (Leitkommentar) | Briefing 324 | Wirtschaft, Gesellschaft, Einheit, Mentalität, Rechtsextremismus – DER WAHLBERLINER
- 33 Jahre danach – Der Stand der wirtschaftlichen Einheit (Statista + Zusatzinfos + Kommentar) | Briefing 323 Wirtschaft, Gesellschaft – DER WAHLBERLINER
Zum 32. Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2022:
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