Briefing, PPP, Politik, Personen, Parteien, Österreich, Nationalratswahl 2024, FPÖ, Herbert Krickl, Volkskanzler, AfD, Diskussionskultur
Heute nehmen wir die Gelegenheit wahr, uns zur österreichischen Nationalratswahl am vergangenen Sonntag zu äußeren – und haben das Glück, dass wir Informationen übernehmen und uns auf den Kommentar beschränken können. Wir führen damit unsere Reihe Verfassungsrecht fort, in der wir immer wieder Artikel mit Auslandsbezug vom deutschen Verfassungsblog zu besprechen.[1]
Der folgende Beitrag zur Österreich-Wahl ist für ein Editorial des Verfassungsblogs relativ kurz, aber informativ, und natürlich werden sich Assoziationen beim Lesen nicht vermeiden lassen.
***
„Im Grunde war das eine für österreichische Verhältnisse ganz normale Wahl“
Fünf Fragen an Laurenz Ennser-Jedenastik
Österreich hat letzten Sonntag den Nationalrat gewählt. Die rechte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) wurde stärkste Kraft und erzielte damit ihr historisch bestes Ergebnis. Um die Wahl einzuordnen, haben wir mit dem Experten Laurenz Ennser-Jedenastik gesprochen. Er ist Professor für österreichische Politik im europäischen Kontext am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.
- Wer hat die FPÖ gewählt und warum?
Die FPÖ wird vor allem von Leuten gewählt, die Zuwanderung und die Europäische Integration sehr negativ sehen, die die Covid-19-Maßnahmen der vergangenen Jahre für stark übertrieben und ungerecht halten und Klimaschutzmaßnahmen ablehnen. Zudem hängen FPÖ-Wähler:innen stärker als andere bestimmten Verschwörungsmythen an und halten die Sanktionspolitik gegenüber Russland für schädlich. Bei vielen dieser Fragen (Russland, Covid, Anti-Klimaschutz) hat die FPÖ in den letzten Jahren eine Monopolstellung im Parteiensystem eingenommen. Keine andere Partei vertritt diese Positionen mit derselben Konsequenz, wenn überhaupt. Insofern gibt es eine größere Gruppe an Wähler:innen, die von der FPÖ in ihren Interessen besser vertreten werden als von jeder anderen Partei. Die Covid-Pandemie und die steigende Bedeutung von Klimaschutzpolitik haben diese Effekte noch einmal verfestigt.
- Was ist an der Wahl bemerkenswert?
Im Grunde war das eine für österreichische Verhältnisse ganz normale Wahl. Wenn man die Einstellungen der Bevölkerung zu wichtigen politischen Fragen betrachtet, dann passt dieses Wahlergebnis sehr gut dazu.
Interessant ist vielleicht, dass wir im Wahlverhalten ein massives Stadt-Land-Gefälle beobachten können. Das ist nicht ganz neu, hat sich aber in seinem Charakter verändert: Mittlerweile ist die FPÖ im ländlichen Raum deutlich stärker als im städtischen – was bis vor einigen Jahren noch nicht so deutlich zu sehen war.
Wenn man die Stimmenverschiebungen anschaut, war 2024 eine Wahl in zwei Welten. Im ländlichen Bereich fallen die ÖVP-Verluste und FPÖ-Gewinne viel dramatischer aus als im städtischen Bereich. In urbanen Gebieten wiederum sind die Verluste der Grünen deutlich stärker als anderswo. Dafür legt dort die SPÖ sogar zu, während sie in ländlichen Bereichen stagniert oder leicht verliert.
- Ist die Nationalratswahl eine Blaupause für die deutsche Bundestagswahl?
Radikal rechte Parteien erstarken in ganz Europa und darüber hinaus. Das hat sich in Österreich letzten Sonntag gezeigt und ich wäre sehr überrascht, wenn die kommende Bundestagswahl eine Ausnahme davon wäre. Zugespitzt könnte man im Erstarken der AfD eine fortschreitende „Verösterreicherung“ des deutschen Parteiensystems feststellen – aber das ist mehr ein Fortschreiben eines gesamteuropäischen Trends. Der wichtigste Unterschied zwischen AfD und FPÖ ist und bleibt aber, wie sich die Mitte-Rechts-Parteien in den beiden Ländern, also ÖVP und CDU/CSU, ihnen gegenüber verhalten.
- Ein weiterer Unterschied ist auch, dass die FPÖ wesentlich älter ist als ihre europäischen autoritär-populistischen Parteischwestern. Welche Strategie hat sich gegenüber der FPÖ historisch bewährt: Brandmauer oder Mitregieren?
Weder die eine noch die andere Strategie hat dauerhaft dazu geführt, dass die FPÖ an Zuspruch verloren hätte. Während der 1990er-Jahre gab es ein striktes Nein aller anderen Parteien zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ auf Bundesebene. In dieser Zeit war die FPÖ dennoch bei Wahlen sehr erfolgreich. Nach Regierungsbeteiligungen hat die FPÖ zwar mehrmals massiv Stimmen verloren (2002, 2019), aber das lag vor allem an Skandalen (Ibiza) oder parteiinternen Konflikten, die zum Koalitionsbruch führten. Es gibt in der Bevölkerung einfach eine starke Nachfrage nach den inhaltlichen Positionen der FPÖ. Die wird sich auch durch das Verhalten der anderen Parteien nicht massiv ändern.
- Am 24. Oktober steht die konstituierende Sitzung des Nationalrats an. In Deutschland hat die AfD erst letzte Woche die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags genutzt, um, man kann es nicht anders bezeichnen, ein antidemokratisches Theaterstück aufzuführen. Wie glauben Sie geht es jetzt in Österreich weiter?
Der nächste Schritt ist, dass die Parteien in Sondierungsgespräche eintreten. Politischer Tradition folgend erteilt dann der Bundespräsident dem bzw. der Vorsitzenden der mandatsstärksten Partei den Auftrag zur Regierungsbildung – was aber eine Konvention, keine verfassungsgemäße Vorgabe ist. Diese Person versucht dann, eine Mehrheit für eine Koalitionsregierung zu finden. Wenn das klappt, wird der/die Bundeskanzler:in dann vom Bundespräsidenten ernannt und danach die Minister:innen ebenso.
Nachdem der Bundespräsident kein großer Freund des aktuellen FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl ist, ist offen, wie dieser Prozess ablaufen wird. Womöglich gibt es einen Regierungsbildungsauftrag für Kickl, vielleicht wird aber auch ohne einen solchen Auftrag verhandelt. Theoretisch könnte nach den ersten Sondierungen auch jemand anderer mit der Regierungsbildung beauftragt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die ÖVP – die einzige Partei, die eine Koalition mit der FPÖ nicht von vornherein ablehnt – sich darauf festgelegt hat, nur ohne Kickl eine Koalition mit der FPÖ schmieden zu wollen. Die FPÖ hat das wiederum ausgeschlossen. Wenn alle bei ihrem Wort bleiben, dann kommt im Prinzip nur eine Koalition ohne FPÖ infrage, das wäre wohl am ehesten eine Zusammenarbeit von ÖVP, SPÖ und einer dritten Partei (Neos oder Grüne).
Dieser Beitrag wurde unter einer Lizenz CC BY-SA 4.0 Legal Code | Attribution-ShareAlike 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben ihn gemäß den Vorgaben der Lizenz unter gleichen Bedingungen weiter. Wir stellen die von uns verfassten Textteile unter dasselbe Recht.
****
Kommentar mit Informationen
Im Grunde ist es ganz gut, dass dieses Mal nicht vertieft Rechtsfragen besprochen werden, sondern ein allgemeiner Befund der politischen Landschaft und der politischen Positionen der Menschen in Österreich im Vordergrund stehen. Dadurch wird die Parallele zu Deutschland sofort klar – und auch der Unterschied, dass in Österreich schon seit längerer Zeit keine Berührungsängste mit rechten Positionen mehr existieren. Andere Kommentatoren haben hervorgehoben, dass die die Zeit, in der die Kreisky-SPÖ so stark war, eher untypisch für das insgesamt konservative Gepräge der österreichischen Bevölkerung war. Wenn man so will, kann man hier schon mit der Parallelenziehung beginnen: Die Regierungszeit von Willy Brandt war untypisch in einem Land, das nach wie vor von konservativem Gedankengut beherrscht wird. Allerdings war Österreich viel länger von der SPÖ regiert als Deutschland von der SPD, das ist die andere Seite der Medaille. Es ist in Österreich auch möglich, dass Sozialdemokraten regieren, während Rechte stark sind.
Vielleicht ist die heutige Lage ja in Deutschland auch der Normalzustand, der Wille eines Teils der Bevölkerung hat jetzt die passende Partei gefunden. Im Grunde gibt es sogar zwei Angebote, wenn man das neue BSW als sozialere Variante einer rechten Partei berücksichtigt.
Beschäftigt hat uns die Aussage, dass es im Grunde egal ist, ob sich die anderen Parteien von der FPÖ abgrenzen oder nicht, sie gewinnt auf natürliche Weise Wähler:innen und verliert sie höchstens durch missglückte, skandalbefrachtete Regierungsbeteiligungen. Dass das Ergebnis „ganz normal“ ist, lässt sich gut anhand der Historie österreichischer Nationalratswahlen belegen. Die heutige Partei hat allerdings nicht viel mit der gemeinsam, die 1953 erstmals zur Wahl antrat. Lange Zeit war die FPÖ eher das österreichische Pendant zur FDP. Auch die deutschen Liberalen haben sich ja mehrfach gewandelt von einer mittigen, auch an Bürgerrechten orientierten politischen Kraft hin zu einer reinen Kapitalvertretungsstelle, aber der FDP fehlte der populistische Funke, den Jörg Haider mit seiner Rechtsverschiebung der FPÖ ausgelöst hat. Eine NS-affine Anfangszeit gab es auch bei der FDP, aber bei der FPÖ bliebt das pangermanisch-nationalistische Elemente immer erhalten, auch wenn bis in die 1980er immer wieder einmal an einer Liberalisierung gearbeitet wurde, und schon 1983 erlangte die FPÖ die erste Regierungsbeteiligung, 1988 übernahm Jörg Haider die Partei und machte sie zu einer der am meisten rechts stehenden in ihren Ländern relevanten Kräfte in Europa.
Erst damals fing die FPÖ an, eine „Volkspartei zu werden“ und Ergebnisse von über 20 Prozent bei Nationalratswahlen zu erzielen. In Zeiten, als es in Deutschland auch immer wieder ein Aufflackern des erlaubten organisierten Rechtsextremismus gab, seitens der NPD oder der Republikaner, das aber noch nicht von Dauer war. Von der FDP gab es nie eine offizielle Abspaltung, während der FPÖ das in ihrer Geschichte immer wieder passiert ist – jedes Mal ohne dauerhaften Erfolg. Trotzdem wurde durch die starke Verschiebung der FPÖ nach rechts Platz für eine neue, mehr mittige liberale Partei, die sich passenderweise „Neos“ nennt und bei der aktuellen Nationalratswahl 9 Prozent der Stimmen erhielt.
Die FPÖ kam auf ihr bisher bestes Ergebnis, mit fas 29 Prozent, bisher stand das, was sie unter Jörg Haider 1999 erzielt hatte (knapp 27 Prozent) als Bestmarke da. Diese Bestmarke ist 25 Jahre alt, und wenn man bedenkt, wie stark die Rechtsverschiebung in ganz Europa seitdem vorangeschritten ist und dass die FPÖ sich durch Skandale und Abspaltungen immer wieder selbst einen Teil ihrer Möglichkeiten genommen hat, so ist ein Zuwachs von 2 Prozent über 25 Jahre und alle Täler hinweg in einer Zeit, die für solche Parteien wie gemalt ist und erzielt von einer relativ einig und in guter Form daherkommenden FPÖ, mit dem Rückenwind durch Themen wie die wirtschaftliche Entwicklung, die Russlandpolitik, die Immigration, also Gegenständen, die in Deutschland ähnlich wichtig sind, in der Tat ein normales Ergebnis für österreichische Verhältnisse.
Angesichts vieler Einlassungen aus FPÖ-Kreisen, die zumindest in der Vergangenheit in Deutschland nicht toleriert worden wären, kann man auch feststellen, dass Offenheit gegenüber eindeutig NS-nahen und rassistischen Parolen dort lange Zeit viel größer war, das fiel uns auch während unserer Zeit dort auf; ebenso jedoch, dass auf persönlicher Ebene viel weniger darüber diskutiert wurde als hierzulande. Im Grunde herrschte nach unseren Beobachtungen eher ein Konsens über den Dissens. Was hierzulande schelmisch mit „offener Diskussionskultur“ bezeichnet wird und das Sagbare nach rechts erweitern soll, das ist in Österreich schon länger gängig. Inwieweit die FPÖ in Deutschland „verbotsfähig“ wäre, wo das doch bei der AfD so schwierig zu sein scheint, darüber würden wir gerne einmal einen Artikel lesen.
Was wir gerade gefunden haben. Ein Interview zu einer Studie, das belegt, wie auch der weitere Weg der AfD aussehen könne, wenn man ihr mit Ausgrenzung nicht beikommt und ein Verbot nicht funktioniert: Neue Studie zur FPÖ: Wie die AfD, aber normal (berliner-zeitung.de)
Interessanterweise wurde die FPÖ nie dafür, dass sie revisionistische Positionen kundgetan hat, von anderen rechten Parteien belangt, auf EU-Ebene zum Beispiel aus der ID-Fraktion ausgeschlossen, wie das jetzt der AfD passiert ist – freilich, ohne sich negativ auf deren Wahlergebnisse auszuwirken. Wir halten den AfD-Ausschluss sowieso eher für eine antideutsche Aktion des RN, die auf den üblichen historischen Diskrepanzen fußt als für eine inhaltlich begründete, was auch wieder darauf hinweist, wie gefährlich nationalistische rechte Parteien auch für das Verständnis in Europa sind. Die FPÖ hatte übrigens nicht für den AfD-Ausschluss gestimmt. AfD aus rechter ID-Fraktion in EU-Parlament ausgeschlossen | tagesschau.de.
Die Österreicher:innen glauben gemäß dem oben zitierten Artikel aus der Berliner Zeitung, dass die AfD viel radikaler ist als die FPÖ. Das stimmt aber nicht, die Diskussion in Deutschland hat lediglich noch nicht den Schritt zur Normalisierung solcher Positionen bezogen. Viele sagen voraus, dass die „Brandmauer“ nicht halten wird, wir glauben das leider auch. Denn dass nun in drei ostdeutschen Bundesländern das BSW mitregieren wird, weil die Abwehrkoalitionen gegen die AfD immer abenteuerlicher werden, dass Verfahren geändert und langjährige parlamentarische Konventionen zulasten der AfD gekippt werden, das wird der Partei vermutlich bei kommenden Wahlen nicht schaden, sondern helfen. Gefährlich ist es für alle, die sich gegen die AfD in Stellung bringen lassen, auch für das neue BSW, das alsbald von der AfD als „Systempartei“ markiert werden wird. Vielleicht wird man noch einen demokratieschädlichen Exit finden, einen anderen gibt es ja kaum noch.
Was wir gerne etwas genauer betrachten würden: Ist die FPÖ neben ihren Themenpositionen auch systemfeindlich, wie man das der AfD unterstellt, das heißt, auf die Abschaffung der Demokratie ausgerichtet? Bisher sieht es in Österreich nicht so aus, aber es gab auch noch keinen „Volkskanzler“, wie der FPÖ-Vorsitzende Herbert Krickl gerne einer wäre, der für die grundsätzlich koalitionsbereite ÖVP, das österreichische Unions-Pendant, eine Persona non grata zu sein scheint, während sie grundsätzlich koalitionsbereit ist (schon in der Ära Schüssel in den 2000ern gab es eine schwarz-blaue Koalition).
Wir wissen nicht, wo der Begriff zuerst entstand, aber wir weisen auch heute wieder auf das vom Verfassungsblog-Herausgeber geschriebene Stück „Ein Volkskanzler“ hin, das den Weg zu einer mehr substanziellen Machtergreifung von rechts behandelt, als das im Thüringer Parlament kürzlich der Fall gewesen sein soll: Ein Volkskanzler – Verfassungsblog. Grundsätzlich ist der Begriff viel älter, wurde aber durch seinen Gebrauch durch die Nazis diskreditiert.
TH
- [1]Verfassungsblog-Artikel mit Auslandsbezug, die wir republiziert und kommentiert haben:
- Im Grunde war das eine für österreichische Verhältnisse ganz normale Wahl (der vorliegende Artikel)
- Trump vs. United States und Roe vs. Wade
- Von verfasstem Recht und verstecktem Gift – ein Brief aus London
- Taiwans verfassungsrechtlicher Showdown
- Das EU-Projekt auf der langen Bank?
- Georgiens Rechtsstaatskrise
- Unboxing the EU Body for Ethical Standards
- Unfrei, Unfair und Unsicher – ein Brief aus Ankara
- Herkules oder Sisyphus? Vom Erbe des gesetzlichen Unrechts im post-autokratischen Polen
- Argentiniens gefährliches Experiment
- Netanjahu in Berlin, Scholz besorgt -> “In der Existenz bedroht“ – Israel auf dem Weg zur faschistischen Theokratie?
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

