UPDATE. Netanjahu in Berlin, Scholz besorgt ->“In der Existenz bedroht“ – Israel auf dem Weg zur faschistischen Theokratie? (Verfassungsblog + Kommentar) | Briefing 158| Geopolitik, DiG

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Im Moment ist es eher selten, dass wir uns zu innenpolitischen Themen im Ausland äußern.  Vor knapp zwei Wochen haben wir das getan, anlässlich der isrealischen Justizreform und anhand eines Editorials der Onlinepublikation „Verfassungblog“, der politische Vorgänge vor allem unter dem Aspekt ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung untersucht. Der Artikel wiederum basierte auf einem Interview mit Frances Raday, einer emeritierten Professorin der Hebräischen Universität Jerusalem. 

Gestern war Benjamin Netanjahu, der isrealische Ministerpräsident, dessen rechtslastige Koalition die Justizreform vorantreibt, in Berlin. Lesen Sie dazu diesen zusammenfassenden Artikel, der auch die Statements von Bundeskanzler Scholz und derer, die gegen diese Justizreform vor allem in Israel selbst, aber auch in anderen Ländern, auch in Deutschland, protestieren, nicht auslässt.

Für uns ist die deutsch-isrealische Geschichte ein hochemotionales Thema, wie wohl für viele Menschen in beiden Staaten. Wir finden, Kanzler Scholz hat in etwa die richtigen Worte gefunden. Forderungen wie den israelischen Staatschef nicht in Deutschland auftreten zu lassen, sind unmöglich zu realisieren, das müssten auch jüdische Menschen in Deutschland wissen, das gefordert haben. Zumal dann nicht, wenn es  um das Gedenken an die Shoah geht. Wie auch immer sich Israel entwickelen wird, einen politischen Boykott  seiner führenden Politiker kann es nicht geben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir hier nicht lebhaft und kontrovers Anteil an dieser Entwicklung nehmen und auch gegen sie protestieren dürfen, wenn wir der Ansicht sind, die für den  Nahen Osten so eminent wichtige Demokratie entwickelt sich in die falsche Richtung. Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat sich dahingehend geäußert, dass die Politik der aktuellen Koalition die isrealische Gesellschaft zu spalten drohe.  Das ist eine für diese Stelle sehr deutliche Kritik. Die aktuelle Besorgnis basiert ja auch nicht auf einer exklusiven, spezifisch deutschen Position und wird hierzulande in der Regel mit sehr viel Augenmaß vorgetragen. Sie lässt sich untermauern zum Beispiel mit dem Demokratieindex des Freedom House, der Israel in einem Abwärtstrend begriffen sieht und der nicht hierzulande erstellt wird – die aktuelle Justizreform hat dabei noch gar nicht (in vollem Umfang) Eingang in die Bewerung des Reports 2023 gefunden, der sich auf Vorgänge und Tendenzen in allen Staaten der Welt stützt, die bis Ende 2022 stattfanden. 

Die Demokratie im Verteidigungsmodus ist wiederum kein spezifisch israelisches Problem, wie die allgemeine Entwicklung der letzten Jahre zeigt. In der Regel halten wir es auch so, dass wir uns auf Deutschland konzentrieren, denn hier gibt es genug Defizite zu beklagen und mehr davon, als die gute Position und Punktzahl im Freedom Index es ausdrückt (94/100). Israel kommt aber nur noch auf  77/100. Vor vier Jahren waren es immerhin noch 80/100. Zwei weitere Punkte weniger, und der Staat  Israel würde nur noch als „teilweise frei“ bewertet, nicht mehr als „frei“. Das muss uns besorgen, als Freunde, wie Kanzler Scholz richtig anmerkt.  Und im Sinne des Minderheitenschutzes, dessen Wertschätzung auch eine Konsequenz der Shoah ist.

Dieser Vorgang der Justizreform hat u. E. wenig mit der Abwehr „des Bösen“ zu tun. Abwehr und Abwehrbereitschaft sind generell auch dann möglich, wenn demokratische Rechte erhalten bleiben. Freiheit und Demokratie bewähren sich immer, wenn sie nicht von innen zerschlagen werden, gerade in den Stunden der Gefahr. Das hat die jüngere Historie gezeigt. Netanjahus Argment, man stelle lediglich die Checks and Balances wieder einigermaßen her, indem man die Macht des Obersten Gerichtshofs beschneide, werden von den meisten Demokrat:innen weltweit nicht geteilt. Es wird vielmehr eine rechte Innenpolitik außenpolitisch begründet und auch das ist keine gute Entwicklung. Um diesen Spin zu widerlegen, werden Artikel wie der folgende publiziert, den wir Ihnen noch einmal wärmstens zum Nachlesen empfehlen möchten. 

Wir hatten im Kommentar dazu auch angemerkt, dass wir künftig häufiger über andere Länder und den Stand der Demokratie berichten werden. Es ergibt Sinn, dass wir die Kurve zu einem einen etwas tieferen Einstieg mit einem Land nehmen, dessen demokratische Verfassung aktuell so heiß diskutiert wird und das uns so viel bedeutet. 

TH

Liebe Leser:innen, der oder das Verfassungblog ist derzeit die einzige Publikation, von der wir unter der entsprechenden Commons-Lizenz hin und wieder Artikel übernehmen,* hierbei besonders das wöchentliche Editorial, das oftmals brisante Themen behandelt und gute Einblicke in diese Themen zulässt. Heute möchten wir ein Interview des Herausgebers mit einer emeritierten Professorin der Hebrew University of Jerusalem an Sie weiterleiten. Wir kommentieren unterhalb des Beitrags.

In der Existenz bedroht

Frances Raday war in der Stadt, die berühmte emeritierte Professorin von der Hebrew University in Jerusalem, Menschenrechtsaktivistin und Prozessvertreterin in vielen bedeutenden Verfahren vor dem israelischen Obersten Gerichtshof und unbezähmbare Streiterin für Frauenrechte, und ich hatte heute Vormittag das Glück, sie für ein Interview zu treffen. Hier ist, was sie mir erzählt hat:

MS: Vielen in der deutschen Politik und den Medien scheint es schwer zu fallen, Worte für das zu finden, was gerade in Israel passiert. Wie sehen Sie das?

FR: Es gibt in Deutschland enorme Ängste und Befürchtungen, Kritik am jüdischen Staat zu äußern. Das ist vor dem historischen Hintergrund verständlich. Die als politisch korrekt angesehene und in der Tat beinahe verrechtlichte Position ist, dass die Äußerung von Kritik an Israel oft antisemitisch ist oder das legitime Recht Israels leugnet, ein Staat für die Selbstbestimmung des jüdischen Volkes zu sein. Seit der Gründung des Staates gibt es Spannungen zwischen der liberalen Demokratie und einer starken religiösen Lobby, die darauf besteht, dass das jüdische Recht Vorrang vor den universellen Menschenrechten hat, und die verhindert hat, dass das Recht auf Gleichheit in das israelische Grundgesetz über Menschenwürde und Freiheit aufgenommen wurde. Dennoch konnte bisher ein gewisses Gleichgewicht aufrechterhalten werden, vor allem durch das Eingreifen des Obersten Gerichtshofs, der entschieden hat, dass die allgemeinen Menschenrechte und vor allem das Recht auf Gleichheit für alle Bürger als integraler Bestandteil der Menschenwürde garantiert sind.

Doch jetzt, fast über Nacht, hat sich das Blatt gewendet. Was in Israel geschieht, ist mit nichts zu vergleichen, was wir bisher gesehen haben. In Israel selbst hat man erstaunlich schnell begriffen, dass es sich nicht nur um eine Art Verfassungsreform handelt. Dies ist ein Putsch, eine feindliche Übernahme des Staates Israel durch eine Koalition mit knapper Mehrheit in der Knesset.

MS: Wie ist das möglich?

FR: Die Koalitionspartner arbeiten im Minutentakt daran, einen Tsunami von Gesetzen auf den Weg zu bringen, um die in Israel ohnehin schon sehr schwache Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Gerichten zu zerstören und sicherzustellen, dass es im Land keinen Machtzentrum gibt, das sich der faschistischen und rassistischen Weltsicht der Koalition entgegenstellen kann. Das ist das Ziel ihres Handelns. Sie wollen, dass die Ernennung von Richtern politisch ist. Wir haben keine abgesicherte Verfassung, wir haben kein föderales System, wir haben keine Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament, die Mitglieder der Knesset sind ihrer Partei treu, nicht ihren Wählern. Das demokratische System ist ohnehin schwach, aber das ist ihnen nicht genug. Sie wollen die Macht haben, sich über den Obersten Gerichtshof hinwegzusetzen. Wenn wir dies zulassen, wird es in Israel keine politischen und rechtlichen Kanäle mehr geben, um abweichende Meinungen zu äußern. Der einzige Weg wird die Straße sein. Gegenwärtig kann man sich noch an den Obersten Gerichtshof wenden, der die Befugnis hat, Gesetze zu überprüfen, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Wenn sie ihre gesetzgeberische Agenda durchgesetzt haben, wird dieser Weg  

MS: Die Regierung argumentiert, dass sie verfassungsrechtlich befugt und demokratisch legitimiert sei, all dies zu tun. Sind sie das?

FR: Nein. Sie hat es geschafft, eine Mehrheit von 64 von 120 Sitzen im Parlament zu bekommen, was eine recht knappe Mehrheit ist. Sie bekamen sie, indem sie eine Koalition aus der Hölle bildeten, bei der einer der Führer wegen Unterstützung terroristischer Organisationen verurteilt wurde und ein anderer jetzt offen die Zerstörung eines Dorfes im Westjordanland unterstützt als Vergeltung für die Ermordung zweier jüdischer Männer durch einen palästinensischen Terroristen, der aus diesem Dorf stammte. Diese Koalition sagt: Das ist Demokratie, und diejenigen, die gegen uns sind, sind   antidemokratisch! Aber Mehrheitsentscheidungen allein sind keine Demokratie. Die liberale Demokratie umfasst notwendigerweise den Schutz der Menschenrechte, der Minderheiten, der Frauen, der Homosexuellen, der Nichtgläubigen, die alle abgeschafft werden, wenn sie ihren Willen bekommen. Auch die demokratischen Verfahren werden nicht respektiert. Die Anhörungen im Verfassungsausschuss waren eine Parodie. Die Opposition wurde niedergewalzt. Das ist Zerstörung, keine Reform. Die Oppositionsparteien haben den Bluff endlich durchschaut und die Abstimmung über die Gesetzesvorschläge boykottiert und sich geweigert, diesen illegitimen Prozess zu legitimieren, indem sie dabei mitspielen.

MS: In Ungarn und Polen konnten sich die Regierungen darauf verlassen, dass diese Verfassungsfragen von großen Teilen der Bevölkerung als sehr technische und abstrakte Angelegenheiten wahrgenommen werden, die mit ihrem täglichen Leben kaum etwas zu tun haben. Ist das auch in Israel der Fall?

FR: Nein. Bibi Netanjahu verfügt über die wohl effektivste Manipulations-, Täuschungs- und Lügenmaschinerie der Menschheitsgeschichte. Ich meine, er ist verblüffend! Er ist ein brillanter Manipulator. Und doch hat es eine gewaltige zivilgesellschaftliche Widerstandsbewegung geschafft, gegen diese enorme Propagandamaschinerie und mit kaum finanziellen Mitteln dieses Thema zu einem zu machen, das nicht von der Koalition diktiert wird, und die Menschen sind sich der gefährlichen Aushöhlung der Demokratie sehr bewusst. Ich kann es selbst gar nicht glauben. Es geht nicht nur um den Obersten Gerichtshof. In gewisser Weise ist der Gerichtshof zu einem Symbol geworden. Aber der Gerichtshof ist nicht das einzige Ziel. Auch die Armee, die Wirtschaft, die Hochtechnologie, die Universitäten, die Medien und das Bildungssystem stehen auf dem Spiel, und führende Persönlichkeiten des Establishments in all diesen Bereichen haben sich in extremer Opposition geäußert. Es geht auch um das Westjordanland, die Annektierung und die Grenzpolizei. Dies wird von Hunderttausenden von Menschen wahrgenommen.

Die Einsicht in die drohende Gefahr, die das israelische Establishment durchdrungen hat, ist erstaunlich. Reserveoffiziere der Armee und der Luftwaffe, einschließlich freiwilliger Spezialkräfte, haben ihre Dienstgrade abgegeben und erklärt, dass sie nicht zum Reservedienst kommen werden. Die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, die sich geweigert hatte, eine Petition anzunehmen, in der die Disqualifizierung Netanjahus für das Amt des Premierministers aufgrund seiner Korruptionsanklagen gefordert wurde, und die streng sagte, dass „keine Zitadelle fällt“, hat nun öffentlich klar Stellung bezogen, wie antidemokratisch und inakzeptabel diese Regierungspolitik ist. Es sind Hunderttausende von Demonstranten auf der Straße. Meine Tochter lebt in Eilat, einer Stadt, die normalerweise sehr rechtslastig ist. Normalerweise geht sie mit etwa 12 Personen zu den Demonstrationen, wobei sie von Passanten mit Beleidigungen überschüttet werden. Jetzt kam der Präsident, um eine Rede zu halten und zu einem Kompromiss aufzurufen, und es demonstrierte eine sehr große Menschenmenge – in Eilat! Offensichtlich sehen viele Menschen, dass es mit diesem faschistischen Putsch keinen Kompromiss gibt. Mit Faschisten kann man keine Kompromisse eingehen.

MS: Eine Sache, die ich schwer verstehen kann, ist die Strategie der Regierung. Sie hat die Wahlen gewonnen, ist an der Macht und verfügt über eine Mehrheit. Sie könnte ihre Ziele auf subtilere, schrittweise Weise verfolgen, hier einen wichtigen Beamten austauschen, dort ein Gesetz ändern, den Boden bereiten, die Intensität ihrer Maßnahmen allmählich steigern, während sie ihren Griff auf den Staat ausweitet. Stattdessen scheinen sie dem Staat und der Gesellschaft alles auf einmal ins Gesicht zu werfen. Und warum?

FR: Wie David Grossmann es ausdrückte: Es ist getrieben von Hass und Rache gegen die Eliten. Universalismus und Menschenrechte werden als ein elitäres Projekt angesehen. Diese Leute sind messianisch. Sie sind expansionistisch. Sie sind rassistisch. Sie sind frauenfeindlich. Und sie sind wütend!

MS: Warum ist der Oberste Gerichtshof das Hauptziel dieser Wut?

FR: Alle drei Koalitionspartner haben ihre eigenen Gründe dafür. Bibi Netanjahu und die Gangster, die heute die Likud-Partei bilden, werden ausschließlich von dem Motiv angetrieben, Netanjahu und seine Familie aus dem Gefängnis zu halten. Die theokratischen Ultra-Orthodoxen, die enorme Privilegien genießen, sind wütend darüber, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass ihre Befreiung vom Armeedienst gegen das Recht auf Gleichheit verstößt. Und dann sind da noch die nationalistischen Siedler, die äußerst wütend darüber sind, dass der Oberste Gerichtshof einen gewissen zügelnden Einfluss auf die Siedlungen im Westjordanland ausgeübt und die Politik der vorherigen Regierung, die Gasfelder vor der Küste mit dem Libanon zu teilen, nicht verworfen hat. Sie wollen das Gericht zerstören und bezeichnen es als Diktator, obwohl das Gericht, wenn es um die besetzten Gebiete geht, äußerst zurückhaltend war und die Siedlungen auf öffentlichem Land nicht als völkerrechtswidrig eingestuft und vor kurzem sogar die Beschlagnahme palästinensischen Privateigentums zugunsten der Siedler unter bestimmten Umständen zugelassen hat. Jetzt haben sie die Zügel der Macht in der Hand und galoppieren los und versuchen, für ihre Wählerschaft so viel wie möglich zu ergattern, bevor entweder die Welt eingreift oder sie gestürzt werden. Sie wollen die Annexion des Westjordanlandes, und sie bekommen sie.

MS: Die rechtliche Annexion des Westjordanlandes findet statt?

FR: Das tut sie. Mit Finanzminister Smotrich an der Spitze der zivilen Verwaltung im Westjordanland behauptet sie nicht einmal mehr, ein militärisches Besatzungsregime zu sein. Die schleichende Annexion dauert schon lange an, und ich gebe der Arbeiterpartei ebenso wie dem Likud die Schuld dafür, sie zugelassen zu haben. Ich sage nicht, dass es keine Verteidigungsgründe für die Besetzung des Westjordanlandes gab. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die glauben, dass das palästinensische Volk und die palästinensische Führung keine Mitschuld daran tragen, dass es nicht gelungen ist, einen modus vivendi zu erreichen. Sie haben sich mitschuldig gemacht. Ich gebe Israel nicht für alles die Schuld. Aber die Siedlungen sind Kolonialismus. Das ist nicht nur Verteidigung. Wenn es das wäre, dann hätten dort Armeeeinheiten mit temporären Siedlungen sitzen müssen, nicht Generationen von israelischen Bürgern. Das war von Anfang an ein mehr als problematisches Unterfangen. Aber jetzt ist es völlig außer Kontrolle geraten. Es hat die israelische Demokratie übernommen. Erst vor ein paar Monaten war ich auf einer Konferenz in Deutschland, wo ich die einzige Person von israelischer Seite war, die gesagt hat: Es ist noch keine Apartheid, was wir in Israel haben. Ich habe Amnesty International dafür kritisiert, dass sie den Begriff in Bezug auf Israel selbst verwenden, während ich davor gewarnt habe, dass es in den besetzten Gebieten auf Messers Schneide steht, aber solange die Zweistaatenlösung das Ziel ist und solange die palästinensische Seite mitschuldig daran ist, dieses Ziel nicht zu erreichen, ist es keine Apartheid. Das habe ich erst vor einigen Monaten behauptet. Aber angesichts der Erklärungen und Handlungen dieser Regierung kann ich unmöglich sagen, dass es sich nicht um Apartheid handelt. Jetzt nicht mehr.

MS: Was bedeutet das für die Sicherheit des Staates Israel?

FR: Sie ist in großer Gefahr. Im Moment eröffnen einige Leute Bankkonten im Ausland, wenn sie Geld zu überweisen haben. Die Start-up-Nation, auf die Netanjahu so stolz war – die Leiter der Start-up-Unternehmen sagen ihm, dass dies das Ende der Start-up-Nation ist. Führende Wirtschaftswissenschaftler in Israel und international warnen, dass dies der israelischen Wirtschaft schweren Schaden zufügen wird. Das ist das Ende einer so lebendigen Gesellschaft, im modernen Tanz, im Film, in der Literatur, in der Wissenschaft… Der Unterschied zwischen Ungarn und Israel: In Ungarn geht es um das Überleben der Demokratie. In Israel geht es um das Überleben Israels. Ich glaube nicht, dass all diese Menschen, die demonstrieren und dagegen sind, unter der faschistischen Herrschaft bleiben und leben werden. Sie werden gehen. Unsere Kinder dienen in der Armee, sie verbringen Jahre in der Armee. Wer will sein Kind zum Dienst schicken, wenn eine Person wie Itamar Ben Gvir Minister für nationale Sicherheit ist? Wer will, dass eine Person wie Bezalel Smotrich mitentscheidet, ob seine Tochter oder sein Sohn in den Krieg zieht?

MS: In Ungarn hat es auch eine Massenauswanderung der jungen, professionellen und gebildeten Eliten gegeben. Das hat die Opposition geschwächt und das Regime stabilisiert.

FR: Auch hier gilt, dass Israel nicht in der Lage ist wie Ungarn. Ungarn wird weitgehend von der NATO und der Europäischen Union geschützt. Israel nicht. Die messianischen Theokraten glauben, dass Gott Israel vor dem Iran schützen wird, aber die meisten Menschen tun das nicht. Wenn Sie also am Überleben Israels im Nahen Osten interessiert sind, müssen Sie als erstes erkennen, dass es als faschistische Theokratie nicht überleben kann. Es sind nicht die Theokraten, die zur Wirtschaft, zur Armee, zur Bildung, zu den Bündnissen mit Europa und Amerika beitragen. Die Menschen, die das tun, sind in absolutem Protest gegen das, was vor sich geht. Vielleicht wird die Regierung irgendwann erkennen, dass sie ihre eigene Agenda gefährdet, wenn sie Hightech-Investoren, Reserveoffiziere, junge Wehrpflichtige, unsere europäischen und amerikanischen Verbündeten loswerden. Aber dafür sehe ich im Moment keine Anzeichen.

MS: Um auf die deutsche Zurückhaltung bei der Kritik an Israel zurückzukommen: Wenn man sich um die Sicherheit und das Überleben Israels sorgt, kann man nicht kritisch genug sein?

FR: Ich habe mich in dieser Frage nicht immer auf die Seite der radikalen Liberalen gestellt. Anti-Israel-Kritik wurde manchmal als Mittel benutzt, um die Existenz Israels zu deligitimieren. Ich denke, das ist ein heikles Thema. Aber in diesem Moment, in dem so viele Persönlichkeiten des israelischen Establishments die israelische Regierung anprangern und Mitglieder dieser Regierung Dinge sagen und tun, die so eindeutig gegen das Völkerrecht verstoßen und die grundlegenden Menschenrechte verweigern, gibt es so etwas wie eine neutrale Haltung nicht. Wie Churchill über Chamberlain sagte: Don’t look the reality in the eye and turn your face away. Wer versucht, Israel in eine faschistische Apartheid-Theokratie zu verwandeln, die das Recht auf Gleichberechtigung der arabischen Bürger und die Menschenrechte der Bewohner der besetzten Gebiete nicht anerkennt, sollte weder in Deutschland noch irgendwo sonst willkommen sein. Sie sollten nicht als Vertreter des Staates Israel akzeptiert werden. Sie sind keine legitimen Führer, wenn sie die Überlebenschancen Israels in einem solchen Ausmaß untergraben.

Dieser Beitrag wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Attribution-ShareAlike 4.0 International — CC BY-SA 4.0
 erstellt und wir geben ihn gemäß den Vorgaben der Lizenz unter gleichen Bedingungen weiter.

*** Ende des Interviews***

Auch wir zensieren uns beim Thema Israel wie bei keinem anderen. Wir wollen weder das Überlebensrecht Israels noch das Überlebensrecht der Palästinenser in einer gesicherten staatlichen Ordnung in Zweifel ziehen, aber wohl ist uns bei dieser Zurückhaltung nicht immer. Es ist tatsächlich die deutsche Geschichte, die uns besonders vorsichtig sein lässt. Umso wichtiger ist es, dass in diesem Fall die Einschätzungen zur gegenwärtigen israelischen Politik aus dem Inneren des Landes stammen, aus dem Zentrum seiner Institutionen – und von jemandem, der nicht im Verdacht stehen dürfte, antisemitisch zu argumentieren. Auch größere Medien in Deutschland haben sich bereits kritisch mit der neuen Regierungs- und Rechtsrealität in Israel befasst, insofern ist das, was wir gelesen haben und mit der Republikation machen, nicht avantgardistisch und hoffentlich auch nicht mutig. Um klarzustellen, dass dieses Thema uns grundsätzlich und über einzelne Länder hinweg wichtig ist, haben wir es auch unter „DiG“ („Demokratie in Gefahr“) rubriziert, wie wir es auch bei Themen häufig tun, die sich auf  die innenpolitischen Verhältnisse in Deutschland beziehen, speziell auf die Phänomene Rechtsextremismus und Lobbyismus.

Was wir allerdings auch getan haben: Einen Satz aus dem Interview zum Subtitel zu verdichten, der klarer macht, um was es geht. Das wurde bei der ursprünglichen, knappen Überschrift sicher absichtlich nicht so deutlich gemacht, aber es geht genau darum: Wie steht es um die Demokratie in Israel, wird sie Bestand haben oder nähert sich das Land bezüglich seiner Rechtsstaatlichkeit ausgerechnet seinem ärgsten Widersacher, der faschistischen iranischen Theokratie, an? Bis zu einem ähnlichen Status an Unfreiheit und Dominanz des Religiösen  ist es ein weiter Weg. Doch sind Ultraorthodoxe weniger fanatisch religiös als Revolutionswächter? Und wie schnell ändern sich die Verhältnisse in Richtung Autokratie, wenn erst die entsprechenden Kräfte am Werk sind?

Dass die israelische Gesellschaft tief gespalten ist, hat keinen großen Neuigkeitswert mehr,  zumal sich die Spaltung in anderen Ländern ebenfalls immer mehr vertieft und leider eine allgemeine Tendenz weg vom zivilgesellschaftlichen Konsens hin zu Radikalität und faschistischen Bestrebungen hin zu beobachten ist. Wer wollte bestreiten, dass auch die deutsche Gesellschaft dabei versagt, das Land in den letzten Jahren auf eine zutiefst demokratische, soziale und verbindende Weise weiterzuentwickeln?  Der Regierungswechsel hin zur Ampel kann dafür bisher nicht als Beleg genommen werden, denn die Ungleichheit wächst weiter und sie wächste schneller.

Woher der im Interview beschriebene Hass verschiedener Gruppen in Israel stammt, die jetzt eine knappe Regierungsmehrheit zustandegebracht haben, darüber kann man natürlich viel schreiben, aber wir wollen das aufgrund unserer Außensicht nicht in den Vordergrund rücken und uns auf das Hier und Jetzt und die  Zukunft konzentrieren.

Und auf den Aspekt der möglichen Beschädigung des Existenzrechts des Staates Israel von innen heraus. Die faktische Existenz und das Recht, als einzige echte Demokratie der gesamten Region schützenswert zu sein, muss man sowieso trennen, das tun die Radikalen nämlich auch und sie bestimmen jetzt den Gang der Dinge. Die typische linke Lesart des Ungarn-Israel-Vergleichs wäre, in etwa die: Man sieht wieder einmal, dass die Doppelstandards sogar EU-intern gelten, oder werden Polen und Ungarn für ihre demokratischen Rückschritte wirklich angemessen sanktioniert? Wie erst außerhalb der EU, zum Beispiel im Umgang mit Israel? In der Tat sind Ungarn und Polen nicht einmal in Gefahr, die EU verlassen zu müssen, geschweige denn in existenzieller Not. Ist das bei Israel anders, das faktisch ein Atomstaat ist und außerdem von den USA geschützt wird? Wird sich die Haltung der USA  und der einflussreichen jüdischen Organisationen dort ändern, weil Israel sich ändert? In der Tat haben viele liberale Juden in den USA Probleme mit dieser Entwicklung, das ist bekannt. Aber wenn es zum Schwur käme, in einer existenzbedrohenden Lage, wie Israel sie lange nicht mehr hatte, würde das Bündnis zerbrechen, nur, weil diese Lage von einer radikalen, nach der Ansicht vieler profaschistischen Regierung herbeigeführt wurde?

Es fällt uns schwer, uns das vorzustellen. Die USA haben schon diverse verbrecherische Regime unterstützt, wenn es ihren Interessen diente  und in diesem Fall kommt Druck von ihnen auf die amerikanische Politik hinzu, besonders durch die AIPAC. Wir haben außerdem gesehen, dass in den USA selbst eine Radikalisierung stattfindet, die religiöse Eiferer immer deutlicher in den Vordergrund treten lässt. Es geht nicht darum, „welche Religion“, das Christentum, das Judentum, den Islam, sondern darum, wie diese monotheistischen, sich alle auf den Gründervater Abraham berufenden Religionen politisch eingesetzt werden und wie einig sich religiöse Radikale darin sind, den liberalen demokratischen Staat zu verabscheuen und wenn irgend möglich zu demontieren, wie leicht es ihnen fällt, Minderheiten zu marginalisieren und schlimmerenfalls zu terrorisieren. Was in den USA die schrittweise Abschaffung des Abtreibungsrechts ist, die auch unter dem Demokraten Joe Biden nicht zu stoppen zu sein scheint, ist in Israel der Umgang mit der arabischen Minderheit, ist in anderen Ländern der Umgang mit jenen, die Menschenrechte und Frauenrechte gegen den Durchgriff von Menschenrechtsverächtern unter Zuhilfenahme der Scharia bewahren wollen. 

Im aktuellen Democracy Index, der noch vor dem Regierungswechsel in Israel aufgelegt wurde, werden sowohl Israel als auch die USA bereits als „fehlerhafte Demokratien“ bezeichnet (wenn auch am oberen Ende dieser Gruppe) und wir erwarten mit Bangen, wie sich die Bewertung in den nächsten Jahren verändern wird. Uns in Europa, besonders uns in Deutschland kann die Entwicklung des Landes nicht gleichgültig sein, zu dem wir eine besondere Beziehung haben, weil wir unserer historischen Verantwortung aus der Shoah gerecht werden müssen. Im Grunde müsste man das, was sich dort jetzt zuträgt, wenn es für viele Menschen im Land selbst die Überschreitung einer roten Linie darstellt, die bisherige Übergriffe und Menschenrechtesverletzungen toleriert haben, sogar auf hervorgehobene Weise und besonders aufmerksam beobachten und kommentieren.

Es wäre Teil unserer Verantwortung und aufgrund der Lehren aus der NS-Diktatur legitimiert. Beunruhigenderweise sehen wir derzeit zu wenige Gegentendenzen gegen die antidemokratische Radikalisierung, die sich in vielen Staaten vollzieht. Israel ist aktuell nur ein besonders augenfälliges Beispiel. Nicht zuletzt ebnet diese Entwicklung auch hierzulande solchen Ansichten den Weg und unsere Sorge gilt vor allem der länderübergreifenden Bedeutung dieses Trends für Menschen hat, die antiimperialistisch und antikapitalistisch aufgestellt sind. Für jene, die hinter dem religiösen Furor handfeste geopolitische und ökonomische Interessen erkennen und wie aufgepeitschte Fanatiker dafür instrumentalisiert werden. 

Damit diese kritischen Einlassungen nicht singulär wirken und zu sehr auf ein Land bezogen, dessen Schicksal uns besonders am Herzen liegen sollte, werden wir künftig den Verfassungsblog auch nach Artikeln jenseits des Editorials durchforsten und anhand dieser Artikel immer wieder die Entwicklung der Demokratie und des Rechtsstaats in anderen Ländern untersuchen oder diese Beiträge als Ausgangspunkt nehmen und sie mit weiteren medialen Darstellungen der jewiligen Vorgänge verbinden. Wir haben bisher vor allem die EU-Länder, insbesondere Deutschland, die USA und China im Blick gehabt, was nicht unverständlich sein dürfte. Aber da ist mehr. Zum Beispiel wird Indien immer noch recht gedankenlos als die größte Demokratie der Welt und neuerdings als super Alternative zu Investitionen in China dargestellt. Ist der Modiismus, der u. a. Angriffe auf die Meinungsfreiheit beinhaltet, aber nicht auch ein Projekt, mit dem die ohnehin – sic! -fehlerhafte Demokratie weiter ramponiert werden soll und wie stellt man sich hierzulande angesichts des Primats einer „werteorientierten Außenpolitik“ dazu?

Letztlich gibt es einen weiteren Aspekt, der so selbstverständlich ist, dass wir ihn nur noch abschließend erwähnen: Von der rechtsstaatlichen Verfassung des israelischen Staates, von der Politik in diesem Land, hängt es sehr wesentlich ab, ob eine Befriedung im Nahen Osten möglich ist. Bisher war es schwierig, jetzt könnte es richtig düster werden. Denn selbstverständlich wird die Außenpolitik in dem Maße immer nationalistischer und aggressiver werden, wie die Innenpolitik radikaler und in Bezug auf das Judentum exzeptionalistischer wird. Ein Beispiel dafür, wie sich das in der Siedlungsfrage auswirkt, wird im Interview erwähnt. Bei uns wurde der Vorfall nachrichtlich nicht vergessen, aber hat auch nicht zu einem Aufschrei aller Freunde eines demokratischen, modernen Staates Israel geführt.

Grundsätzlich ist jede falsche Entwicklung reversibel und es muss für eine Korrektur nicht zu einer Existenzgefährdung kommen. Beunruhigend ist im Moment aber, dass so viele Länder nicht gerade liberaler und werden und dass Israel sich lediglich in diese Phalanx der sich selbst schwächenden Demokratien einreiht. Das macht die Welt unsicherer und unfriedlicher, daran führt nichts vorbei und wir können nur hoffen, dass es starken Zivilgesellschaften gelingt, diesen Trend abzufedern und eines Tages wieder umzukehren, bevor der Krieg nach außen und die Repression nach innen wieder der Alltag für die meisten von uns sein wird.

TH

*Statista-Infografiken mit ihren Begleittexten reproduzieren wir ebenfalls, aber mit dem Akzent stärker auf der eigenredaktionellen Kommentierung.

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