Filmfest 1187 Cinema
What Happened on Twenty-third Street, New York City ist ein Kurzfilm aus dem Jahr 1901. Regie führten George S. Fleming und Edwin S. Porter.[1]
Schon im Jahr 1901 kamen zwei Regisseure zusammen, um einen epochalen Film zu drehen, manchmal wäre das wegen des Vieraugenprinzips auch heute besser. Wahrscheinlich stand aber einer der Männer hinter der Kamera und kurbelte und der andere beaufsichtigte das Paar, das die Hauptrollen innehat. Wir hatten zuletzt angesichts der Vorstellung von „Der schreckliche Teddy, der Grizzly-King“ bereits angedeutet, dass für das Jahr 1901 noch großes zu erwarten sei. Wir schicken dieses kleine Große (der Film hat mit 1:18 Länge das übliche Format eines Edison-Kurzfilms von 1901) gleich hinterher, weil wir das Jahr 1899 auslassen mussten. Es gibt aus dem Jahr offenbar keine vorzeigefähigen US-Filme mehr, vermutlich warteten auch alle schon auf das neue Jahrhundert und machten eine kreative Pause. Dem Kino hat sie gutgetan, denn es sollte sich in den nächsten Jahren sehr rasant entwickeln. Wie es anfing, dokumentiert unter anderem der Film, den wir nun besprechen werden.
Handlung (1)
In der Twenty-third Street in New York City gibt es einige U-Bahnschächte, die von den meisten Passanten umgangen werden. Nach einiger Zeit gehen ein Mann und eine Frau über diese U-Bahnschächte und der Rock der Frau hebt sich ein kleines Stück nach oben. Dann gehen beide lachend weiter.
Hintergrund (1)
Der Film ist eine Mischung aus Dokumentarfilm und Komödie, hierbei wurden die Reaktionen der Passanten auf die neuen U-Bahnschächte dokumentiert. A.C. Abadie (1878–1950) arbeitete hauptsächlich als Kameramann für die Edison Manufacturing Company. Im Jahr 1903 übernahm er nochmals eine Filmrolle, er verkörperte den Sheriff in dem Film Der große Eisenbahnraub. Florence Georgie war nur für diesen Film tätig.[1]
Rezension
Der Film ist nicht nur wegen seines ikonischen Inhalts bemerkenswert, sondern auch, weil hier wohl eine der ersten Straßenszenen vorliegen dürfte, in die hinein eine Spielhandlung integriert wird, ohne dass alle der Passanten, die man sieht, Statisten wären. Einige machen unnatürliche Bewegungen, was entweder darauf hindeuten könnte, dass sie angeleitet wurden. So zum Beispiel der Mann, der bei 0:18 von rechts auf den Gehsteig kommt, dann verlangsamt, sich etwas nach rechts wendet, dann wieder nach links geht, ohne aber sich etwas angesehen zu haben oder dergleichen und der Mann, der bei 0:34 stoppt, in die Kamera schaut und wieder zurückgeht, anstatt die Straße zu überqueren, wie er es wohl vorhatte. Letzterer dachte wohl, er wäre noch gar nicht im Bild, versucht das mit der Umkehr zu verhindern, ist aber längst abgelichtet. Er hat also keine Ahnung, wie groß der Bildausschnitt ist, den die Kamera filmt, möglich, dass er sich noch nie einen Film angeschaut hat, oder er verschätzt sich in der Ausrichtung des Objektivs.
Im entscheidenden Moment, in dem der Rock der Frau bis auf Kniehöhe durch den Luftstrom aus dem U-Bahn-Schacht angehoben wird, gibt es leider einen Schnitt, die Szene ist nicht ganz durchgefilmt. Möglicherweise ging der Rock zu hoch oder sonst etwas hat nicht genau gepasst, man bemerkt den Versatz mitten in dieser Bewegung. Das ist aber kein Grund, kleinlich zu sein. Ob der Film wirklich das Vorbild für Marylin Monroes Szene aus dem Film „Das verflixte siebte Jahr“ (1955) ist, kann ich nicht sagen, ich weiß auch nicht, ob der Film aus dem Jahr 1901 verfügbar war, aber ein Kenner wie Billy Wilder wusste möglicherweise mindestens, dass es ihn gab. Selbst, oder gerade dann, wenn die Idee unabhängig entstand, ist sie bemerkenswert, denn alle Beinfetischisten von heute wissen nun, dass sich nicht nur Vorfahren in den 1950ern hatten, sondern schon welche in den 1900ern. Es ist ganz klar, dass beide Filme soziologische Abhandlungen über die Frau als Sexualobjekt herausfordern, denn wen hätte es schon interessiert, ob das Hosenbein eines Mannes sich um einige Zentimeter heb, wenn er über den U-Bahnschacht geht? Nun ja, ein wenig Ironie darf schon sein und spätestens mit dem Minirock der 1960er, dachte man damals wohl, ist diese beinahe charmante Version von Sexismus passé, denn die offenliegenden Tatsachen beherrschen das Bild.
Und nun machen Sie mal ein Experiment. Stellen Sie sich eine muslimische Frau vor in einer europäischen Stadt von heute vor, die eine solche Szene spielt, bei der ihr Gewand bis auf Kniehöhe angehoben wird. Dadurch rundet sich der Stoff für kulturelle Einlassungen erst ab. Sie müssen sich allerdings mit der Dissertation beeilen, denn der Filmemacher hat angesichts dieser Provokation, die er abgelichtet, ja sogar eingerichtet hat, möglicherweise mit einer kurzen weiteren Lebensdauer zu rechnen. So hat sich also der antisexistische Feminismus, von an Frauenrechten besonders interessierten Männern aufs Schärfste unterstützt, endlich durchgesetzt und wir können einen Punkt hinter mehr als 120 Jahre Irrungen und Wirrungen des Geschlechterkampfes und somit auch in der Filmgeschichte setzen.
Natürlich nicht, ohne die weitere Entwicklung nach dem Monroe-Auftritt kurz zu erwähnen. 1974 wurde die Szene mit einem roten Kleid in dem französischen Film „Ein Elefant irrt sich gewaltig“ wiederholt, wobei der Luftschacht in einem Parkhaus angesiedelt war, wenn ich mich richtig erinnere, wohingegen ich mich nicht erinnere, schon ein Parkhaus gesehen zu haben, in dem es solche Luftschätze mittendrin gibt, ebenso aber das Weiterzitat von 1985 in „Die Frau in Rot“, das fast eine 1:1-Übernahme aus dem Film von 1974 darstellt. Die Beinkleider waren schon wieder etwas länger als in der Minirockphase, sonst hätten diese Szenen aus den 1970ern und 1980ern keinen Sinn ergeben.
Anhand der beiden vorherigen Absätze können Sie erahnen, wie wichtig es ist, die Filmgeschichte zu kennen, die ja auch Kulturgeschichte darstellt. Man kann daraus fast alles soziologisch herleiten, was es überhaupt soziologisch herzuleiten gibt, denn gewollt oder ungewollt sind Filme nun einmal Dokumente ihrer Zeit und des herrschenden Zeitgeistes. Oder: Über Filme schreiben ersetzt locker ein Studium der Geschichte der Alltagskultur. Einen Blick dafür und ein paar Grundkenntnisse über gesellschaftliche Entwicklungen muss man aber trotzdem haben, sonst funktioniert der politisch-soziologische Ansatz nicht, weil man nicht erkennt, wie bedeutsam manche Filmszenen tatsächlich sind.
Die englischsprachige Wikipedia, also die Heimatversion des vorliegenden US-Films hat sich natürlich mit der Szene am ausführlichsten befasst (nach uns am ausführlichsten) und dort lesen Sie folgendes, ohne die Webseite wechseln zu müssen:
Hintergrund und Analyse[2]
Im Jahr 2001 verglichen Rosemary Hanes und Brian Taves die Sequenz mit dem ikonischen Bild von Marilyn Monroe in einem weißen Kleid in dem Film The Seven Year Itch von 1955 und schrieben: „Mit The Seven Year Itch (1955) ging das Bild von Marilyn Monroes Oberschenkeln, die unter ihrem wallenden Rock freiliegen, in die amerikanische Popkultur ein. Die Film- und Rundfunksammlungen der Bibliothek bieten die Möglichkeit, nicht nur zu dokumentieren, wie sich die Rolle der Frau und ihre Darstellungen in den letzten hundert Jahren verändert haben, sondern auch, wie vieles gleich geblieben ist.“ [2]
Tom Gunning stellt die beiden Ereignisse als narrative Mittel gegenüber, indem er schreibt: „Der Akt der Zurschaustellung [in What Happened…] ist hier sowohl Höhepunkt als auch Auflösung und führt nicht zu einer Reihe von Zwischenfällen oder der Schaffung von Charakteren mit erkennbaren Zügen. Während das ähnliche Heben des Rocks von Marilyn Monroe in The Seven Year Itch auch für einen Moment des Spektakels sorgt, schafft es gleichzeitig Charakterzüge, die spätere erzählerische Handlungen erklären.“ [3][4]
Finale
Sie haben also oben noch ein paar weiterführende Informationen über die Art der Handlung in diesem Film bekommen. Ganz klar, der Plot ist rudimentär. Später wäre man mit der Kamera dem Paar gefolgt, hätte es dabei porträtiert, wie es sich unterhält und die Szene wäre dann der Twist, die Überraschung, die Wendung gewesen, ein entscheidender Moment in der Beziehung der beiden vielleicht. So aber bleibt immerhin die Überraschung, und die ist im Grunde ausgezeichnet gemacht, denn es passiert erst einmal gar nichts Besonderes, wenn man von den oben beschriebenen Reaktionen zweier Männer auf die Kamera absieht, die Spannung steigt also, weil der Titel ja verkündet, dass doch etwas passiert.
Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Zuschauer gedacht haben, jetzt wird ein Unfall mit einem Pferdewagen gefilmt oder mit der herannahenden Straßenbahn, deren Weg einige Passanten recht mutig queren. Aber stellen Sie sich vor, dieser Unfall hätte ja gestellt werden müssen, und das wäre gefährlich geworden. Öde hingegen wäre es gewesen, sich irgendwo hinzustellen und so lange Zelluloid zu verbrauchen, bis tatsächlich per Zufall ein Unfall passiert. Selbst heute gibt es solche Bilder eher selten, Handygaffer-Dokumentationen setzen meist erst danach ein, und das ist wirklich öde. Es entspringt aber einer ähnlichen voyeuristischen Tendenz, die auch das Schauspiel sich entblößender Frauenbeine als so wichtig erachtet, dass es für die Nachwelt festgehalten werden sollte.
Der Film stammt (auch) von dem Mann, den wir bald noch besonders hervorheben werden und der in dem Film über den Skandal auf der 23. Straße von New York City schon sein Gespür für Dramaturgie beweist: Edwin S. Porter, der nicht zufällig zwei Jahre später den ersten echten Western drehen wird. Unter anderem mit Filmen wie den über den Zwischenfall in New York sammelte er viel Erfahrung, dies wiederum nicht einfach so, sondern als Studiochef und Chefregisseur bei Edison, die damals auch im ganz jungen Filmgeschäft der USA führend waren. Er hatte also wenig später die Kenntnisse und durch den Anschluss an einen florierenden Konzern generell die Mittel, um das Kino rasch weiterentwickeln zu können.
Die IMDb-Nutzer:innen sind offenbar von diesem Film, siehe oben, Punkt hinter die Entwicklung, heute etwas peinlich berührt und geben ihm nur 5,8/10. Wie bei den bisherigen Werken seit dem Tag, als der Film laufen lernte (das war 1901 schon zwölf Jahre her, wenn man „Monkeyshines“ tatsächlich als die ersten Filmaufnahmen betrachtet, die in den USA gefertigt wurden, ebenfalls bei Edison), also wie bei allen diesen historischen „Firsts“, bei denen irgendetwas erstmals so dargestellt wurde oder eine neue Technik eingesetzt wurde, gehen wir höher, weil wir die historische Bedeutung solcher frühen Filme über die konkrete Ausführung und, in diesem Fall besonders wichtig, auch über den Gegenstand an sich stellen. Wir bleiben aber brav unter der 70, weil wir natürlich nicht den Eindruck erwecken wollen, dieses frühe Werk von weiblicher Exposition als subversives Anti-Antisexismus-Prachtstück sozusagen chronologisch rückwärts hypen zu wollen.
Es gibt aber auch einen gesellschaftlichen Fortschritt, denn beide Hauptdarsteller sind klar identifiziert worden, das war bei den bisher besprochenen ganz frühen Filmen nicht immer der Fall, sofern sie keine Berühmtheiten waren, wie Annabelle More in „Annabelle Serpentine Dances“ oder die beiden Boxer Corbett und Fitzsimmons oder Mitarbeiter der Edison-Studios, wie William K. L. Dickson.
69/100
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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[1] What Happened on Twenty-third Street, New York City – Wikipedia
[2] Was in der dreiundzwanzigsten Straße in New York City geschah – Wikipedia
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