Crimetime 1253 – Titelfoto © MDR, Hardy Spitz
Atlantis ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD, des ORF und SRF. Der Film wurde vom MDR produziert und am 9. November 2003 erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um die Tatort-Folge 546. Für den Kriminalhauptkommissar Bruno Ehrlicher und seinen Kollegen Kain ist es der 12. Fall, in dem sie in Leipzig ermitteln.
Nach „Waidmanns Heil“ nun der zweite Ehrlicher innerhalb einer Woche – kann man das aushalten? Es kommt vor allem daher, weil wir ganz früher, also lange, bevor dieser Text 2016 im Grunde noch für den »ersten Wahlberliner« geschrieben wurde, also sehr viel früher, mal dachten, Ehrlicher ist vermutlich nicht zum Aushalten. Daher haben wir bei der Sichtung alter Tatorte andere Teams vorgezogen. Da soll noch einer sagen, es sei nichts dran, an der permanenten Diskriminierung derer, die wir nicht mehr so nennen dürfen und. Und die Diskriminierung, die auf Charakterzuschreibungen fußt?
Handlung
Die Kommissare Ehrlicher und Kain werden zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen. Auf dem Gelände des Freizeitparks »Atlantis« wurde der Geschäftsführer Stefan Markowski erschlagen. Merkwürdige Grabungen in der Nähe der Achterbahn und Drohbriefe weisen darauf hin, dass der beliebte Park erpresst wurde.
Als die Kommissare dem mutmaßlichen Erpresser, dem eben aus dem Gefängnis entlassenen Peter Radke, dicht auf der Spur sind, wird dieser tot auf einem Parkplatz am nahe gelegenen Badesee gefunden. In seinem Wohnwagen ist eine selbst angefertigte Karte versteckt, auf der die Koordinaten des Freizeitparks, einer Neubausiedlung und eines stillgelegten Tagebaus verzeichnet sind. Sind auf ihr die Verstecke seiner zur Seite geschafften Millionen eingetragen und wollte er diese jetzt ausheben?
Die Kommissare finden heraus, dass Radke hinter einigen Erpressungen steht – und der Erlebnispark war nicht das einzige Erpressungsopfer. An Radkes schmutzigen Geschäften haben offensichtlich einige mitverdient.
Rezension
Bei „Waidmanns Heil“, so befand ich schlussendlich, ist diese Diskriminierung durchaus mit einem Fenster zur Wahrheit ausgestattet, weil man den ehrlichen Bruno in diesem Film schon sehr als Generalspießer dargestellt hat. Und, man soll’s nicht glauben, es geht in „Atlantis“ genauso weiter. Eigentlich ist es umgekehrt, denn „Atlantis“ ist ein Jahr älter. Im Jäger-Tatort konnte Ehrlicher nicht Jagd, nicht Kultur, in „Atlantis“ kann er nicht moderne Ernährung.
Dass dieses Generalangebot an die Bewohner der neuen Bundesländer mit der Figur Ehrlicher ein Bumerang war, zeigt sich heute. Jemanden als Vollspießer herüberzubringen, der aber auch mit jedem Wort, jeder Geste, jeder Attitüde kundtut, früher war alles besser, das zeigt sich jetzt immer mehr als Opportunismus, der jedem ewig Gestrigen irgendwie recht gibt. Es geht um den besseren Staat im Sozialismus, als es all die Angebote noch gar nicht gab, die Ehrlicher jetzt verschmäht. Und wie soll man ganz links und ganz rechts bei diesem übergreifenden Spießertum noch auseinanderhalten? Schauderhaft.
Erste Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes, nun als Premiere bei Crimetime im neuen Wahlberliner: wie erst im Jahr 2024!
Ich gebe zu, dass ich das früher witziger fand als jetzt, wo sich zeigt, dass viele Menschen in den neuen Bundeslnädern gerade da, wo Ehrlicher und Kain sich ausbreiten durften, in Sachsen, wirklich so rudimentär und rückständig sind wie diese Figuren. Obwohl es dem Bundesland wirtschaftlich so gut geht wie mit Abstand keinem anderen im 1990er-Beitrittsgebiet, tun Ehrlicher und andere, als würde man ihnen die Volksseele rauben und morgen wäre alles vernichtet, was gut und teuer ist. Wenngleich das Meiste, was heute noch funktioniert, erst nach der Wende gebaut oder saniert wurde, nur, weil hier und da ein paar Flüchtlinge im Straßenbild auftauchen. Das ist genau der Geist, der generell alles Neue und jede Entwicklung oder Veränderung schon deshalb ablehnt, weil es dies und jenes im grauen DDR-Alltag noch nicht gab.
Anmerkung anlässlich der Publikation im Jahr 2024: Was sollen wir schreiben? Wir müssen nichts korrigieren, bis auf die Tatsache, dass Brandenburg nun Sachsen als das am meisten prosperierende der neuen Bundesländer abgelöst hat.
Deswegen wurde auch vor allem in den frühen Filmen des Duos, die in Dresden spielten, der Kapitalismus nur von seiner schwärzesten Seite gezeigt, und das zu einer Zeit, in welcher seine besonders schwarzen Seiten noch lange nicht so sichtbar waren wie heute. Ich glaube nicht, dass man da einen prophetischen Ansatz entdecken kann, man hat einfach nur die Larmoyanz auf den Bildschirm gebracht, die heute noch im Osten eine beherrschende Charaktereigenschaft darstellt. Und die leider generationenübergreifend ansteckend wirkt, sonst wären unter den Rechtsauslegern nicht so viele jüngere Leute.
Anmerkung 3: Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sowie in Brandenburg im September 2024 hat in der Tat die AfD bei jungen Wählern den mit Abstand stärksten Zuspruch aller Parteien gefunden.
Der Aspekt, dass man die Menschen mit Figuren wie Ehrlicher auf eine Weise gepflegt hat, die das sich selbst hinterfragen nicht gerade fördert, war vor ein paar Jahren noch nicht so gravierend sichtbar wie heute, und ich muss aufpassen, dass sich das nicht auf die Bewertungen der Tatorte auswirkt. Sollte ich nicht tun, sonnst müsste ich alle Ehrlicher -Tatorte unter diesem Aspekt noch einmal sichten und die Punktezahlen mehr oder weniger stark nach unten revidieren.
Die Punktzahl belassen wir im Rahmen der Publikation, wie 2016 am Ende des Entwurfs angegeben.
Nun aber zum Fall. Auch hier: Kapitalismus baut Müll. Und wie. Allerdings: Die Schurken sind keine zugereisten Westler, diesen Standard der frühen Dresden-Jahre von Kain und Ehrlicher hat man in den 2000ern schon als etwas abgeschmackt empfunden. Das ganze Altgift stammt ja immerhin aus DDR-Industrieanlagen, von denen in diesem Tatort Gott sei Dank auch nicht behauptet hätte, die seien ja nur abgewickelt worden, weil die schurkische Treuhand es so wollte. Bei allem, was die Treuhand falsch gemacht hat, für den üblen, sozusagen weit ins Land hinein stinkenden Zustand des überwiegenden Teils der DDR-Industrie war sie nicht verantwortlich. Würde man manchen Westbetrieb des primären oder sekundären Sektors so abwickeln, dass alle Bodenlasten zu entsorgen sind, käme vermutlich nichts viel anderes heraus, aber da geht es nicht so Schlag auf Schlag wie nach der Wende im Beitrittsgebiet. Nicht so, dass man ein derart Riesengeschäft auf kleinem Raum daraus machen könnte, wie hier der Unternehmer Radke, der die Leute dafür erpresst, dass er sie behumpst hat.
Und damit sind wir bei den positiven Aspekten dieses Films. Das wirkt alles verdammt authentisch, was wir sehen. Nicht in allen Details der Ausführung, da wird wieder einmal überkonstruiert, auf den Fez mit den Karten und dem GPS und andere Gimmicks will ich daher nicht eingehen. Doch es handelt sich um einen echten Umweltkrimi. Es ist nicht der erste in der Tatortreihe, auch nicht der letzte, aber doch bemerkenswert, weil bei solchen Fällen dicht an einer möglichen Realität entlangearbeitet wird. Oder sollte.
Das Spezifikum des Films ist auch weniger das Thema an sich, sondern die Tatsache, dass die giftigen Geschäfte der Männer von der Stadt und vom freien Unternehmertum dieses Mal wirklich das Mordmotiv tragen und sich nicht alles wieder am Ende als Beziehungstat darstellt. Dieses Mal ist das Business nicht nur eine Kulisse für die üblichen Eifersüchteleien, Habgiersachen, Rachegelüste. Das mach den Film stellenweise gruselig. Wie da in den Vorgärten der Neusiedlung alte Sachen ausgebuddelt werden, wie im riesigen ehemaligen Tagebau die schlammigen Fässer auf die Baggerschaufeln kommen – alles recht plakativ, aber man spürt, da ist etwas, das man sich leider vorstellen kann. Es ist nicht aus der Luft gegriffen oder ganz weit hergeholt.
Außerdem muss ich herausheben, dass der Film gut gespielt ist. Zur Anlage der Figur Ehrlicher habe ich mich geäußert, aber noch nicht dazu, ob sie authentisch wirkt. Leider, das tut sie. Im Duo mit Kain und als Trio mit Walter stimmt die Psychologie, im Verhältnis zu Friederike frage ich mich sowieso immer, was die Frau an dem ständigen Nörgler und Miesmacher findet, aber das ist ihre Sache und Filmfiguren sind manchmal exzentrischer, oft aber duldsamer als Menschen im realen Leben, denn schließlich müssen sie alles aushalten, was der Drehbuchautor oder die Drehbuchautorin von ihnen fordert, ohne Einspruch erheben, einen Anwalt, ein Gericht oder gar die Gewerkschaft dagegen in Stellung bringen zu können.
Obwohl die Handlung als solche, wie bei den Dresden-Leipzig-Tatorten bis ins Fernseh-Holozän hinein üblich, nicht gerade im Sauseschritt dahineilt, wirkt der Film nicht träge und auch nicht dröge. Das ist in diesem Fall trotzdem bemerkenswert, weil Hajo Gies den Film inszeniert hatte, der in den 1980ern als Regisseur einiger für die Verhältnisse der Zeit rasanter Schimanski-Tatorte hervorgetreten ist.
Die Spiellust der Darsteller ist groß und viele Momente wirken sehr natürlich und auch witzig. Da es nicht um Kindesmord oder Sexualdelikte geht, kann man das auch machen, alles mehr oder weniger bewitzeln. Ein Umweltskandal ist eben doch etwas abstrakter und man bedauert Erben, die in einen solchen hineingezogen werden und finanziell baden gehen, weniger als Eltern, die durch einen Unhold im Wald ein Kind verlieren und emotional auf dem Zahnfleisch gehen. Der heitere Grundton des Films, durch die leicht überzogene Nebenhandlung mit den Malern verstärkt, ist okay, und absurd ist das Business sowieso. Man sieht das schon daran, dass der Chef der Leipziger Abfallbeseitigung angezogen ist wie ein italienischer Mafioso in einem Film, in dem die Mafia-Klischees zum Kolorit und zum Witz beitragen.
Finale
Filmisch und als Krimi finde ich „Atlantis“ gelungen, dass mir gewisse andere Aspekte so nachdrücklich auf den Zeiger gingen, liegt auch daran, dass ich eben vor ein paar Tagen schon einen Leipzig-Tatort angeschaut habe, in dem sie genauso extrem ausgespielt werden. Der Atlantis-Park heißt in Wirklichkeit übrigens Belantis und sein Entstehen hat man hier wunderbar genutzt, um einen gar nicht unbeachtlichen Krimi daran aufzuhängen.
7,5/10
© 2016 Der Wahlberliner, Alexander Platz
| Regie | Hajo Gies |
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| Drehbuch | |
| Produktion | MDR |
| Musik | Günther Illi |
| Kamera | Achim Poulheim |
| Schnitt | Gabriele Hagen |
| Premiere | 9. Nov. 2003 auf Das Erste |
| Besetzung | |
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