„Es sieht eher nach einem gesteuerten Übergang als nach einer Revolution aus.“ (Verfassungsblog + Kurzkommentar)

Briefing Geopolitik Gesellschaft, Syrien, Revolution, Übergangsregierung, Assad-Regime, Rechtsstaat, Föderalismus, Menschenrechte

Gestern hatten wir die Lage in Syrien insofern statistisch betrachtet, als wir die Zahl der Geflüchteten in verschiedenen Ländern grafisch wiedergegeben haben (Die Lage in Syrien und die Diskussion über Geflüchtete (Statista + Zusatzinfos + Kommentar).

Heute nehmen wir einen ganz anderen Ansatz und freuen uns, wieder einmal einen Artikel des Verfassungsblogs vorstellen zu können, der entsprechend lizensiert ist. Keine Megaphon-Diplomatie, heißt es darin, sondern die Möglichkeit, einer neuen, inklusiven Staatlichkeit für das geschundene Land. Ein kurzer Kommentar folgt im Anschluss.

Unsere bisherigen Übernahmen + Kommentare vom Verfassungsblog mit internationalem Bezug haben wir unten aufgelistet.[1]

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„Es sieht eher nach einem gesteuerten Übergang als nach einer Revolution aus.“

Fünf Fragen an Michael Meyer-Resende / von Maxim Bönnemann

Syrien steht nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad vor massiven politischen Umbrüchen. Wie könnte ein Post-Assad-Staat aussehen? Was haben Fragen der Übergangsjustiz mit dem Aufbau eines funktionierenden Staates zu tun? Und welche Rolle werden internationale Akteure im politischen Transformationsprozess in den kommenden Monaten spielen? Wir sprachen mit Michael Meyer-Resende, Geschäftsführer von „Democracy Reporting International“ (DRI), einer internationalen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Berlin, die Verfassungsreformen im Nahen Osten und Nordafrika umfassend unterstützt hat.

  1. Nach dem Sturz des Assad-Regimes richtet sich die weltweite Aufmerksamkeit nun auf die politische Zukunft des Landes. In der Vergangenheit haben internationale Rechtsberater nach großen staatlichen Umwälzungen oft schnell große Konzepte wie Föderalismus oder präsidiale/parlamentarische Demokratie vorgeschlagen. Ist das im Falle Syriens eine gute Idee?

Zunächst einmal hoffe ich, dass solche Fragen ins Spiel kommen und dass das Land nicht in einen neuen Bürgerkrieg versinkt. Das bleibt ungewiss. Ich bin kein Zyniker, der sagt: „Das wird nie funktionieren.“ Der Irak zum Beispiel hat sich in den letzten Jahren trotz vieler gegenteiliger Erwartungen etwas stabilisiert. Aber das ist in Syrien natürlich keine Selbstverständlichkeit.

Jeder, der einen friedlichen Prozess unterstützen will, muss verstehen, dass die Aushandlung politischer Lösungen ein äußerst sensibler Prozess ist. Es sollte unterstützt werden, aber auf eine vorsichtige und respektvolle Weise. Die Syrer müssen selbst beraten und Entscheidungen treffen. Internationale Organisationen und NGOs können dazu beitragen, dass sie gute Vergleichsinformationen erhalten. Dazu gehören oft auch Syrer, die sich in internationalen Organisationen und NGOs mit diesen Themen beschäftigen.

Leider sind ausländische Beobachter jedoch oft schnell dabei, vereinfachende Lösungen vorzuschlagen. Syrien ist ein relativ großes und höchst heterogenes Land, das eine Machtkonzentration fürchtet? Dann muss der Föderalismus die ideale Lösung sein! Solche Beiträge sind kontraproduktiv. Bezeichnungen wie Föderalismus rufen oft andere Assoziationen hervor, als wir uns vorstellen können. So hat der Föderalismus oft den Ruf, ein Vorläufer des Staatszerfalls zu sein, was die Befürchtung einer Abspaltung der Bundesstaaten weckt. Ein Begriff wie Föderalismus kann die Verhandlungen sofort verhärten.

Kurz gesagt, die Syrer müssen darüber verhandeln, welche Art von Staat sie haben wollen. Welche Befugnisse sollten auf welcher Ebene und in welcher Institution übertragen werden? Es ist nicht wichtig, wie die Lösungen, die sie finden, etikettiert werden könnten. Entscheidend ist, dass alle relevanten Fraktionen einbezogen werden und dass es tragfähige, funktionierende Kompromisse gibt, die auf breiter Basis stehen.

  1. Syrien hat seit 2012 eine neue Verfassung, deren Inhalt und Entwurfsprozess jedoch von Oppositionsgruppen scharf kritisiert wurden. Spielt diese Verfassung eine Rolle für die politische Zukunft des Landes, oder geht es jetzt darum, schnell einen neuen Verfassungsprozess in Gang zu setzen?

2012 entwarf Assad im Kontext des Aufstandes eine neue Verfassung. Es sollte als Zugeständnis an das Volk erscheinen, aber es baute seine Macht weiter aus. Das Referendum über die Verfassung wurde weitgehend boykottiert.

Die syrische Opposition fordert die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Interessanterweise erweckt die neue Regierung von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) derzeit eher den Eindruck eines gesteuerten Übergangs als einer Revolution. Kürzlich kündigte sie an, die Verfassung und das Parlament für drei Monate „auszusetzen“, wobei ein Ausschuss prüfen soll, wie die Verfassung angepasst werden kann.

Ich glaube, wir stehen an einem Scheideweg: Entweder passt die neue Regierung die Verfassung exekutiv an (und versucht möglicherweise, sie durch ein Referendum schnell zu legitimieren), oder sie nutzt die drei Monate, um einen differenzierteren Reformprozess zu skizzieren, der alle relevanten Gruppen einbezieht und den Entwurf einer neuen Verfassung einschließt.

  1. Sie haben erwähnt, dass wir eher einen gesteuerten Übergang als eine Revolution beobachten. Welche Rolle spielt die institutionelle, zum Teil auch die personelle Kontinuität bei Übergängen wie in Syrien?

In Syrien droht die irakische Katastrophe nach der US-Invasion. Die Entscheidung der Bush-Regierung, die staatlichen Institutionen aufzulösen, löste den Zusammenbruch des Staates aus. In der Zone Idlib sicherte sich HTS die Unterstützung vor allem dadurch, dass sie sicherstellte, dass die Zone administrativ und wirtschaftlich in einem vernünftigen Maß funktionierte. Dort hat es eine Art „Output-Legitimität“ erreicht.

Es ist möglich, dass HTS das Thema Kontinuität pragmatisch betrachtet und sich an die erwähnte „exekutive Lösung“ anlehnt. Auf der anderen Seite hat sie auch angekündigt, dass „alle, die Verbrechen gegen das syrische Volk begangen haben, nach dem Gesetz verfolgt werden“.

Was das bedeutet, bleibt unklar. Bei einer weiten Auslegung könnten viele Soldaten und Beamte des Assad-Regimes strafrechtlich verfolgt werden. Bei enger Auslegung könnten nur hochrangige Personen ins Visier genommen werden.

  1. Gibt es in dem eng ausgelegten Fall nicht ein Spannungsverhältnis zu Fragen der Übergangsjustiz, d. h. der Auseinandersetzung mit den Ungerechtigkeiten und Gräueltaten, die während der Diktatur begangen wurden?

Ja, diese Spannung ist sehr stark und besteht immer dann, wenn Diktaturen fallen. Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit des Staates aufrechtzuerhalten; Die Verfolgung vieler Soldaten und Beamter könnte diese Funktionalität schwächen. Die Zerstörungen in Syrien sind immens – die Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben. Wenn es jemals einen funktionierenden und pragmatischen Staat brauchte, dann ist es jetzt.

Auf der anderen Seite gehörte das Assad-Regime zu den brutalsten Regierungen, die es gab. Inzwischen wird ausführlich über das Saidnaja-Gefängnis berichtet, das für die Syrer lange Zeit ein Albtraum war. Dieses Schlachthaus ist nur die Spitze des Eisbergs eines abscheulichen Regimes.

Als Außenstehende ist es schwer, hier Ratschläge zu geben. Wer sind wir, wenn wir den Syrern, deren Familien und Freunde gefoltert und ermordet wurden, sagen, dass sie auf Gerechtigkeit verzichten sollen? Nur die Syrer können das untereinander aushandeln. Wie weit wollen sie mit der Strafverfolgung gehen? Sollten sie das Thema über nicht-kriminelle Institutionen wie Wahrheitskommissionen angehen?

Die Moral steht jedoch nicht nur auf der Seite der Gerechtigkeit. Die Funktionsfähigkeit des Staates und seine Fähigkeit, Probleme zu lösen, tragen auch eine moralische Dimension in sich.

  1. Lassen Sie uns kurz auf das Völkerrecht und die geopolitischen Interessen in der Region eingehen. Einige Staaten haben vorgeschlagen, den politischen Übergangsprozess auf die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats zu stützen, in der erste Elemente für einen politischen Prozess nach dem Bürgerkrieg skizziert wurden. Worum geht es in dieser Resolution, und könnte sie eine Rolle beim Machtwechsel in Syrien spielen?

Seit das Assad-Regime die Proteste gewaltsam unterdrückte und die Situation zu einem Bürgerkrieg eskalierte, haben die Vereinten Nationen und viele Staaten intensive Friedensbemühungen unternommen. Ich habe selten solch nachhaltige Bemühungen gesehen, darunter zahlreiche Studien und Vorschläge, wie ein neuer syrischer Staat aussehen könnte, von denen viele von syrischen Experten entwickelt wurden. Das könnte nun von Vorteil sein, wenn sich die HTS-Regierung ihnen gegenüber öffnet.

Bis 2016 gab es Hoffnung auf eine Einigung zwischen dem Regime und der Opposition. Die UN-Resolution 2254 bildete den rechtlichen Rahmen für diese Gespräche. Im Kern ist die Resolution jedoch überholt, da sie nicht mehr mit den aktuellen Gegebenheiten übereinstimmt. Sie sollte den Frieden zwischen dem Regime und der Opposition vermitteln. Das Regime existiert nicht mehr als organisierte Kraft, so dass dieser Teil der Resolution irrelevant ist. Nichtsdestotrotz behält die Resolution eine gewisse Relevanz, da sie wichtige Säulen für einen möglichen Prozess festlegt. Dies spiegelt sich in der gestrigen Erklärung der G7 wider, in der im Geiste der UN-Resolution 2254 die volle Unterstützung für einen „inklusiven politischen Übergangsprozess unter syrischer Führung und in syrischer Eigenverantwortung“ zugesagt wurde.

Ausländische Akteure müssen sensibel handeln, sollten aber auch ihre Positionen und Interessen artikulieren. Nehmen wir Deutschland als Beispiel: Deutschland hat bedürftige Syrer immens unterstützt (und auch davon profitiert, wenn man Themen wie die Abwanderung von Fachkräften und die Bewältigung des Arbeitskräftemangels berücksichtigt). Die deutsche Justiz hat den ersten Fall im Zusammenhang mit staatlicher Folter in Syrien entschieden (den „Fall Koblenz“). Über eine Million Menschen in Deutschland sind entweder Syrer oder syrischer Abstammung.

Die Situation in Syrien betrifft uns unmittelbar. Deshalb hat Deutschland das Recht, von der neuen Regierung etwas zu verlangen – vor allem einen inklusiven Prozess. Die Bundesregierung sollte darauf bestehen und ihre Unterstützung für den Wiederaufbau davon abhängig machen.

Es ist positiv, wenn die neue Regierung die Probleme schnell lösen will, aber sie muss auch Zeit und Energie darauf verwenden, alle großen syrischen Gruppen in den Reformprozess einzubeziehen. Diese Art der „Input-Legitimität“ ist entscheidend für die langfristige Stabilität, insbesondere im Hinblick auf sensible Themen wie Staatsstruktur und individuelle Rechte.

Was jetzt gebraucht wird, ist keine Megaphon-Diplomatie, sondern der Dialog mit der Regierung und allen anderen Gruppen.

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Kurzkommentar

Wie sie gelesen haben, ist der Artikel nicht geopolitisch ausgerichtet, sondern befasst sich nur mit der vagen Möglichkeit, in Syrien eine Form von Rechtsstaatlichkeit zu etablieren, wie sie im Nahen Osten sehr selten ist. Der Irak wird als Beispiel dafür genannt, dass es funktioniere kann. Dies ist eine sehr optimistische Betrachtungsweise, die wohl vor allem darauf fußt, dass der Irak nicht mehr ein so sehr „failed State“ ist wie nach der US-Invasion mit ihren furchtbaren Folgen:

Fragile States Index

91,4 von 120

27 von 179

Stabilität des Landes: Alarm
0 = sehr nachhaltig / 120 = sehr alarmierend
Rang: 1 = fragilstes Land / 179 = stabilstes Land

2023[75]

Demokratieindex

2,88 von 10

128 von 167

Autoritäres Regime
0 = autoritäres Regime / 10 = vollständige Demokratie

2023[76]

Freedom in the World Index

30 von 100

Freiheitsstatus: unfrei
0 = unfrei / 100 = frei

2024[77]

Rangliste der Pressefreiheit

25,5 von 100

169 von 180

Sehr ernste Lage für die Pressefreiheit
100 = gute Lage / 0 = sehr ernste Lage

2024[78]

Korruptionswahrnehmungsindex (CPI)

23 von 100

154 von 180

0 = sehr korrupt / 100 = sehr sauber

2023[79

Quelle: Wikipedia (Irak – Wikipedia)

Den Syrien in der Nähe der irakischen Werte zu verorten, trauen wir der aktuellen Regierung, die sich als Übergangsregierung beschreibt, ohne Weiteres zu. Aber wir sind skeptisch, wenn es darum geht, Syrien zu einer Demokratie zu machen. Vielleicht sollten wir dabei, wie beim Föderalismus, keine hiesigen Maßstäbe anlegen. Wir haben gelernt, dass weite Teile der Welt anders funktionieren, dass Menschenrechte dort eine untergeordnete Rolle spielen. 

Wir sind skeptisch, ob ehemalige IS-Kämpfer tatsächlich in der Lage und willens sind, einen fairen Prozess einzuleiten, der das Land endlich frei von Repressionen werden lässt. Bis auf Weiteres halten wir die dezente Rhetorik der neuen Machthaber eher für insofern pragmatisch, als diese erst einmal für Ruhe sorgen und die vielen Player nicht zu sehr auf den Plan rufen wollen, die in Syrien ihre Hände im Spiel haben. Das Land ist ein klassiches Beispie dafür, wie Menschen leiden, wenn sie Opfer von Stellvertreterkriegen auf ihrem Territorium sind.

Was Deutschland angeht: Ein wirklich guter Tipp, dessen Praktikabilität sich erwiesen hat, ist es, mit den Regimen zu kooperieren, die es nun einmal gibt, und dafür in Einzelfällen etwas zu erreichen, wenn es um Menschenrechte geht. So, wie es lange Zeit im Nachkriegsdeutschland Tradition war – bevor man begann, höchst zweischneidige und von verschiedenen Maßstäben für verschiedene Länder geprägte, mithin ethisch hohl wirkende  „Wertepolitik“ zu machen, die das Verhältnis zu vielen Staaten verschlechtert, vor Ort keinem einzigen Menschen hilft, und meist aufgrund wirtschaftlicher Interessen obsolet ist. Eher verschlechter man die Möglichkeiten, Menschenrechte wirksam zu propagieren und in Einzelfällen sogar zu helfen, wenn autoritäre Machthaber sich gemaßregelt fühlen.

Außerdem verschlechtert sich die Lage auch in Deutschland, der überbordende Populismus ist dafür ein Vehikel. Insofern nicht überraschend, dass man Syrien plötzlich als sicheres Land deklarieren und von dort keine Geflüchteten mehr aufnehmen, hier lebende Syrer gerne „rückführen“ möchte. Angesichts der unübersichtlichen Lage in dem Land sind solche Ansätze einzig darauf gerichtet, den Diskurs immer weiter nach rechts zu verschieben, ohne Rücksicht auf Betroffene, ohne zu warten, wie die Lage sich tatsächlich gestalten wird, mithin ohne die Chance auf sinnvolle Entscheidung im Einzelfall.

TH

 


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