Ein Mensch der Masse / Die Menge (The Crowd, USA 1928) #Filmfest 1258

Filmfest 1258 Cinema

Ein Mensch der Masse (Originaltitel: The Crowd) ist ein US-amerikanisches Filmdrama von King Vidor. Er wurde 1928 als Stummfilm gedreht. Die Premiere des Films fand am 18. Februar 1928 unter dem Originaltitel statt. Im deutschen Fernsehen wurde die Produktion erstmals am 1. April 1983 im deutschen Fernsehen (ZDF) gezeigt. Spätere Ausstrahlungen trugen unter anderem die Titel Die Menge und Ein Mensch in der Masse. 

Wir kennen Regisseur King Vidor durch spätere Werke wie „Man Without A Star“ (1955), einem Western mit Kirk Douglas, durch „Duel in the Sun“ (1946), einem Western, für den fünf oder sechs Regisseure benötigt wurden, auch durch „Hallelujah“ (1929), seinen ersten Tonfilm und den wohl ersten ernsten Film mit einem rein afro-amerikanischen Cast. Wäre „The Crowd“ ein Jahr später entstanden, dann wohl bereits als Tonfilm. Wäre er im selben Jahr entstanden, aber nicht bei MGM, sondern bei den Warner Brothers, möglicherweise ebenfalls. Allerdings verlief die Entwicklung damals so schnell, dass es nicht sicher ist, denn die Premiere des Films fand bereits im März 1928 statt. Dieses Datum spielt noch aus einem anderen Grund eine Rolle. Wir führen das in der Rezension aus.

Handlung (1)

John Sims glaubt schon seit seiner Kindheit, dass er einmal wichtig werden wird. Johns Vater, der alles dafür tut, dass es seinem Sohn gut geht, stirbt schon in dessen Jugend. Mit 21 Jahren ist John einer der vielen Angestellten einer Versicherungsgesellschaft in New York. Sein Freund und Kollege Bert lädt ihn zu einem Doppeldate im Lunapark von Coney Island ein; schon nach einem Abend macht John Mary, einem der beiden Mädchen, einen Heiratsantrag. Sie stimmt zu, sie heiraten und verbringen ihre Flitterwochen an den Niagarafällen.

Die Frischvermählten ziehen in ein bescheidenes Apartment. Zu Heilig Abend kommen Marys schwerhörige Mutter und ihre Brüder Jim und Dick zu Besuch. Die wohlhabenden Schwäger sind John gegenüber feindlich eingestellt. John geht zu Bert, um Alkohol zu besorgen. Dort ist eine Party im Gange, sodass John betrunken nach Hause kommt, lange nachdem die Gäste gegangen sind. Mary verzeiht John. Doch schon bald im neuen Jahr gibt es Streit über den Zustand des Apartments und über Marys Aussehen. Aller Streit ist vergessen, als Mary ihrem Mann erzählt, dass sie ein Kind erwarte. Im Oktober bekommt das Paar einen Sohn. John teilt Mary mit, dass die Geburt seines Sohnes der bislang fehlende Impuls sei, der ihn zu noch härterer Arbeit angetrieben habe. (…)

Rezension

Vidors Film wurde schon bei seiner Veröffentlichung von Publikum und Kritikern gleichermaßen gefeiert. Er gilt heute als einer der großen amerikanischen Stummfilmklassiker und übte insbesondere Einfluss auf spätere Filmströmungen aus, die sich einem größeren Realismus und gesellschaftlichem Bewusstsein im Spielfilm verschrieben. 1989 wurde er als einer der ersten 25 Filme in das National Film Registry aufgenommen.

Der Film der MGM wurde im US-Bundesstaat New York gedreht. Das Studio wollte wegen der Weltwirtschaftskrise ein positives Ende des Films zeigen. Zu diesem Zweck drehte Regisseur Vidor neun verschiedene Fassungen für den Schluss.

Dabei verweist die Wikipedia auf die „Trivia“ zum Film in der Internet Movie Database. Dort steht aber:

King Vidor drehte neun verschiedene Endungen, bevor er sich für die im fertigen Film verwendete entschied, da MGM keine Filme ohne positives Ende veröffentlichen wollte.

Das war sicher typisch MGM, aber was fehlt, ist der Hinweis auf die Weltwirtschaftskrise. Zu Recht, denn die gab es im März 1928 noch nicht, und sie kam so plötzlich, dass kaum jemand sie vorausahnte. Der Börsencrash, der sie einleitete, fand im Oktober 1929 statt. Allerdings steht in den Trivia auch, dass der Film ein Jahr lang zurückgehalten wurde, weil man sich aufgrund seines schweren Themas vor der Publikation scheute.

Das Ende hingegen wirkt tatsächlich ein wenig aufgesetzt. Bruchfreier wäre eine Variante gewesen, in der die immertreue Mary ihren John dann doch verlässt. Das wäre sogar noch möglich gewesen, nachdem die entnervten Brüder, die sie zunächst zum Weggehen überredet hatten, ihr Gepäck wieder zurückgestellt hatten, weil drinnen eine Diskussion lief, von der sie annahmen, was dann auch geschah: Dass Mary dem Mann, der es schwer hat mit sich und dem Leben, weiter zur Seite stehen wird.

Wir gingen in dem Moment auch davon aus, dass es so kommen wird, eine Art negativer Twist, der aber wohl eher der überwiegenden Realität entspricht als das Sich-Aufopfern für John Sims.

Uns hat der Film auch gefordert, vor allem, weil er die Dinge nicht eindeutig klärt. Okay, John ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, die sich als eine New Yorker Versicherungsgesellschaft darstellt und die ihn als Mitarbeiter in einem Riesenraumbüro zeigt, Schreibtisch an Schreibtisch mit vielen anderen. Die Szenen in dem Büro wirken ikonisch, wurden vielfach kopiert, aber es waren nicht die ersten dieser Art, um zu zeigen, wie ein Mensch der Masse erst zum Individuum wird, in dem ein begabter Regisseur und Autor wie King Vidor sein Schicksal heraushebt und einen heute als Meisterwerk geltenden Film daraus macht. Es gibt eine Strandszene, die wir wesentlich überraschender fanden: John mit Mary und Sohn, es wirkt zunächst ganz privat, dann ein Schnitt und man merkt, sie befinden sich wieder einmal in der Masse, man muss sich das Wannseebad in den 1920ern vorstellen,  dann hat man ein Bild vom „Miljöh“.

Einige Jahre nach Drehbeginn hatte der Alkoholismus seinen Tribut von Hauptdarsteller James Murray gefordert , der auf der Straße Leute um Geld anging. Ironischerweise stellte sich heraus, dass einer der Passanten, die er um Geld bat, König Vidor war , der ihm daraufhin eine Rolle im Halb-Nachfolger des Films, „Our Daily Bread“ (1934), anbot. Murray lehnte das Angebot ab, weil er dachte, es sei nur aus Mitleid gemacht worden. Er starb 1936 im Alter von 35 Jahren bei einem Unfall durch Ertrinken schrieb seine Lebensgeschichte als Drehbuch auf,  das er „The Actor“ nannte, es wurde aber nicht realisiert.

Das hat uns doch wieder ziemlich traurig gemacht. Keine Frage, der Darsteller ist ein Stück weit diese Person, die er spielt, denn damals waren gelernte Schauspieler in Hollywood noch eher die Ausnahme, sofern sie nicht vom Theater oder aus dem Vaudeville kamen, und Personen, die sich selbst spielten, waren damit oft gefährlich nah an der Persönlichkeit, die sie im Realleben hatten. Auch wenn ihre Darstellung manchmal etwas mehr vom Theater abgeleitet waren, war es deshalb vielleicht ganz gut für die Entflechtung von Fiktion und Wirklichkeit, dass sich in Hollywood ab den 1940ern junge Talente ansiedelten, die durch harte Schauspielschulen in New York gegangen waren.

Aber was hat uns am meisten getriggert? Davon sind wir etwas abgekommen. Wir haben festgestellt, dass John zu durchschnittlich ist, um, auch in seiner Firma, die große Karriere hinlegen zu können, denn Beziehungen hat er nicht, die ihn hätten nach oben hieven können. Fast nicht. Denn sein Freund aus den Anfangstagen bei der Versicherung, Eddie, wird Bürovorsteher und hätte Johnny fördern können, wenn dieser dafür geeignet gewesen wäre. Aber dass Johnny abrutscht, passiert erst in einem Moment, der direkt auf einen glücklichen folgt:  Er gewinnt die damals respektable Summe von 500 Dollar für einen Werbe-Claim, etwa die Hälfte eines damaligen durchschnittlichen Jahresgehalts also. Und kurz darauf wird seine kleine Tochter überfahren und er ist auch noch daran beteiligt, weil er sie ruft und sie unachtsam über die Straße rennt.

Danach kann er sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren, weil die Bilder ihrer letzten Sekunden ihn verfolgen. Und geht selbst, bevor er gefeuert werden kann. Hilfe sucht er nicht.

Auf der einen Seite erkennt man von Beginn an, worauf der Film  hinaus will: Dass der prätentiöse Vater dem Jungen Flöhe ins Ohr gesetzt hat und dieser dann immer an einer gewissen Diskrepanz zwischen Ansprüchen und Fähigkeiten leidet. Überdeckt wird das bis zu einem gewissen Grad durch sein gutes Aussehen und seine überaus freundliche Natur, er ist ein Sonnyboy – aber auch nicht immer. Der Alltag, das ewige Einerlei zehrt sehr an ihm, weil er immer im Kopf hat, er sei für Höheres bestimmt. In einer Streitszene mit der armen Mary, die es aushalten muss, wird sein innerer Widerspruch examplarisch abgehandelt und sie ist eine der realistischsten des gesamten Films. Oh, diese Tage, an denen die Fliege an der Wand zu einem Drama wird! Und nicht nur das, er bespritzt sich zum Beispiel mit Milch und gibt seiner Frau die Schuld.

Und doch – er bleibt in der Spur, jahrelang, bis eben zu diesem Unfall seiner Tochter. Es wirkt sogar, als habe er sich damit abgefunden, ein ganz normaler Familienvater zu sein, einer von Millionen in New York, für den eine Acht-Dollar-Gehaltserhöhung (vermutlich aufs Monatsgehalt bezogen) das Hauptereignis der Saison darstellt. Das ist allerdings bei den meisten Menschen so oder war es, bis alle zu Exzeptionalisten erzogen wurden. Ganz so wie John Sims, nur, dass dies mittlerweile ein Massenphänomen darstellt. Das eigentliche Massending ist mittlerweile, dass niemand sich mehr als das sehen mag, was er ist: Ein Mensch, der in der Masse mitlaufen muss.

Aber niemand ist einem anderen exakt gleich und in der Nische findet sich vieles, was das Individuum auszeichnet, wie zum Beispiel, dass John Zither spielen und wohl auch ein wenig singen kann, dass seine Kinder ihn lieben und dass seine Frau tapfer bleibt, obwohl er ihr nicht die Sterne vom  Himmel holen kann. Auch sie hat sich gewandelt und die Jugendträume geopfert.

Das klingt alles furchtbar und heute haben Menschen doch etwas mehr Möglichkeiten, „sich selbst zu verwirklichen“, als das in den 1920ern der Fall war. Aber wird es so bleiben? Denken wir an die folgende Wirtschaftskrise. Da ging es nicht mehr ums unauffällige Mitschwimmen, sondern darum, nicht unterzugehen. Darsteller James Murray ist das aber dann, geradezu sinnbildlich, im Jahr 1936 passiert.

Finale

Das „Schwere“ an dem Film ist eigentlich nicht das Schicksal von John Sims und seiner Frau Mary oder, dass der amerikanische Traum darin angezweifelt wird. Das sieht man in US-Filmen nicht so selten, wie man denken sollte. Zumindest gilt das für Werke aus einer  Zeit, in der sozialer Realismus erlaubt war, und die heutige Armut wirkt dort nicht so existenziell, weil die meisten doch immer noch so eine Bretterbude haben und sich mit Billigkonsum betäuben und dabei verfetten können. John Sims hat sich wohnungsseitig am Ende übrigens auch verbessert, erstaunlicherweise: Es ist nicht mehr die enge Stadtwohnung an der Hochbahn, sondern ein vermutlich gemietetes Haus etwas weiter draußen.

Nein, es ist der Spiegel, den der Film vielen Menschen vorhält. Wir wollen nicht wissen, wie viele Kinogänger sich damals ganz persönlich entzaubert und vielleicht auch angegriffen gefühlt haben von John Sims, der doch eigentlich ein sehr netter Kerl ist – und es doch zu nichts bringt. Eine andere Wahrheit liegt auf der Hand: Wären Millionen solcher Arbeiter nicht Rädchen im Getriebe, sondern gäbe man ihnen mehr Würde, kämen ihre guten Eigenschaften mehr zum Tragen und würden mehr geschätzt. Sims zeigt auch nirgends Ansätze dazu, ein Arschloch zu sein, und das ist unbedingt nötig, wenn man sich wirklich aus der Masse heraus nach oben boxen will, ohne in irgendeinem Bereich ein Ausnahmetalent zu sein.

Visuell ist der Film stellenweise eindrucksvoll, vor allem, wo er den Menschen in der Masse illustrieren will. Die Schlussszene ist im Grunde mitten im mittelmäßigen Happy-End noch einmal sehr deutlich: Man sieht die kleine Familie und wie sich John mit einem Mann neben ihm unterhält, gut gelaunt, ihm die Hand schüttelt, man lacht über einen komischen Film – und dann fährt die Kamera immer weiter zurück und man sieht, wie Unzählige andere das Gleiche tun: Die Masse wirkt beim gemeinsamen Lachen geradezu bedrohlich. Man hätte jeden Kinosaal der Welt zeigen können, in dem sich so etwas abspielt, aber man muss es nicht so tun, dass es wirkt, als enttarne der Übergang in die Totale noch einmal die Illusion, etwas Besonderes zu sein.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung im Jahr 2025: Wir zeigen die Rezension nun im Rahmen der dritten US-Filmchronologie (Ein Jahr, ein Film, von Beginn an) und mit ihm von 1889 bis 1928 den Film mit der bisher höchsten Bewertung. Die IMDb-Nutzer:innen vergeben 8,1/10, was möglicherweise ausreichen würde, um ihn in deren berühmter Top-250-of-all-Time-Liste abzubilden. Es ist schon recht lange her, dass wir einen Film, der einmal Mitglied dieser Liste war oder es immer noch ist, rezensiert haben, es hätte gut gepasst. Aber die Crux ist die Zahl der Bewertungen, sie liegt mit gegenwärtig (Anfang 2025) unter 10.000 zu niedrig, um eine Aufnahme in die Liste  zu ermöglichen. Auf jeden Fall gilt dieser Film als einer der großen amerikanischen Klassiker der Stummfilmzeit.

87/100

2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2020)

(1), kursiv, tabellarisch. Wikipedia

Regie King Vidor
Drehbuch King Vidor,
John V. A. Weaver,
Joseph Farnham (Zwischentitel)
Produktion Irving Thalberg
Kamera Henry Sharp
Schnitt Hugh Wynn
Besetzung

 

 

 


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