„Das ist gespenstisches Verfassungsrecht“ (Verfassungsblog) – zum Thema Sondervermögen und Grundgesetz

Briefing Recht und Politik, Sondervermögen, Infrastruktur, Grundgesetzänderungen, alter und neuer Bundestag, Wahlperiode

Heute müssen wir unbedingt wieder einen Artikel des Verfassungsblogs übernehmen. Erstens geht es um das Thema Nummer eins dieser Tage, die Sondervermögen, welche die künftige deutsche Regierung jetzt schon auf den Weg bringen will, zum anderen haben wir darin zwar einiges an Bestätigung für unsere Ansichten gefunden – aber auch einige überraschende und mit unübersehbarem Humor vorgetragene Aspekte. Wir würden uns freuen, mehr juristisch zentrierte Texte zu lesen, die einen so hohen Unterhaltungswert haben und doch keinerlei wichtige Information vermissen lassen.*

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„Das ist gespenstisches Verfassungsrecht“ / Fünf Fragen an Florian Meinel

Gerade berät der Alt-Bundestag darüber, das Grundgesetz für ein milliardenschweres Finanzpaket zu ändern. Es geht vor allem darum, die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben zu lockern und ein Sondervermögen für Infrastruktur einzurichten. Was steht da eigentlich auf dem Spiel? Dazu haben wir Florian Meinel befragt, Professor für vergleichendes Staatsrecht und politische Wissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.

  1. Seit vergangener Woche befindet sich der Bundestag in einem eiligen Krisenmodus. Es wird bis in die Nacht verhandelt, um in wenigen Tagen politische Weichenstellungen zu ermöglichen, die zuvor jahrelang undenkbar waren. Was passiert da gerade?

Union und SPD versuchen – offenbar erfolgreich – die Grünen von einer Verfassungsänderung zu überzeugen, die die Schuldenbremse für Rüstungsausgaben außer Kraft setzen, einen gewaltigen Nebenhaushalt für Infrastrukturausgaben schaffen und das Neuverschuldungsverbot für die Länder etwas lockern soll. Das Ganze soll bis nächste Woche abgeschlossen sein, da dann langsam die Lichter ausgehen über dem 20. Bundestag. Die Lage ist so finster, dass man sie eigentlich nur noch in Witzen kommentieren kann: Treffen sich zwei Bundestage, sagt der eine … So in der Art. Politisch besteht das Drama natürlich vor allem im totalen Autoritätsverlust eines möglichen Kanzlers, dessen Regierungsprogramm und parteipolitische Taktik den Wahlsieg nur um wenige Tage überlebt haben.

Verfassungsrechtlich bestehen keine starken Argumente gegen das Vorgehen, wie am heutigen Freitag (14.03.2025, Anm. DWB) nun auch das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.  Das Grundgesetz verleiht dem Bundestag seit einer Verfassungsänderung von 1976 seine Kompetenzen ganz ausdrücklich bis zur Konstituierung des neuen. Dazu gehört insbesondere auch die Gesetzgebung, zu der das Grundgesetz auch die Verfassungsänderung zählt. Man kann das für falsch halten, aber so ist die Rechtslage. Alle mir bekannten Gegenargumente sind vom Ergebnis her gedacht. Insbesondere reduziert die Neuwahl nicht die „Legitimation“ des alten Bundestages. Wer einen Bundestag wählt, verleiht ihm eben nach Art. 39 GG die Legitimation zum Handeln auch in diesem Interregnum. Es gibt auch keinen diffusen Wählerwillen, der dem entgegensteht. Der Wählerwille hat rechtlich die Form der Konstituierung des künftigen Parlaments.

  1. Sie haben in Ihrem Textüber die „Fiscal Hamlets“ auf dem Verfassungsblog davon gesprochen, dass die Bundesrepublik zurzeit nichts weniger als die Aufspaltung ihrer Finanzverfassung erlebt. Was meinen Sie damit?

Zum damaligen Zeitpunkt waren noch zwei Sondervermögen für die Rüstung und für Infrastruktur geplant, und es wäre wohl auch so gekommen, hätte nicht die Kommissionspräsidentin mit dem Programm „ReArm Europe“ den Impuls gesetzt, die europäischen Fiskalregeln für Verteidigungsausgaben ab sofort zu suspendieren. Das wird jetzt in der Neufassung der Art. 109 und 115 abgebildet. Das Zwiespältige liegt darin, dass daneben ein verfassungsrechtliches Normalregime mit der Verknüpfung aus parlamentarischem Budgetrecht, Normalhaushalt und Schuldenbremse unbedingt beibehalten werden soll, wie ein Glaubensdogma, das durch Kautelen und Verrenkungen gegen alle Zweifel verteidigt werden muss, indem man solche Nebenstrukturen schafft.

Was zunächst die Vertiefung der Spaltung zwischen dem allgemeinen und dem Verteidigungshaushalt betrifft, ist sie wohl unvermeidlich: Die Sicherung der europäischen Verteidigung nach dem faktischen Ende der NATO kann ja nur in einem europäischen Rahmen gelingen, in einer eurogaullistischen Architektur. Das macht die konkrete Rückbindung der Rüstungspolitik an die mitgliedstaatlichen Parlamente zwangsläufig schwierig. Von einer Spaltung würde ich aber vor allem im Hinblick auf das geplante Sondervermögen Infrastruktur sprechen. Ein so gewaltiger Schattenhaushalt schafft unweigerlich eine zweite Finanzverfassung. Denn sie unterliegt nicht in selbem Maße den Regeln des parlamentarischen Budgetrechts und der parlamentarischen Ausgabenbewilligung, nicht den demokratischen Prinzipien der Jährlichkeit und Vollständigkeit des Haushalts. Die Haushaltspolitik würde daher zwangsläufig auf ein taktisches Spiel mit diesen beiden Verfassungsebenen hinauslaufen, vieles davon abhängen, welche Aufgabe regulär und welche irregulär finanziert wird. Das Sondervermögen ist also ein Haushalt hinter dem Haushalt, oder, um im Bild von Shakespeares Drama zu bleiben, ein Stück im Stück. Das Stück, das Prinz Hamlet mit seiner Schauspielertruppe im dritten Akt aufführt, um den Hof indirekt mit einer verdrängten Wahrheit zu konfrontieren.

  1. Auch die Schuldenbremse spielt in dem Stück, das wir gerade sehen, eine wichtige Rolle. Sie haben diese Rolle in Ihrem Text zu den „Fiscal Hamlets“ als gespenstisch charakterisiert. Was macht die Schuldenbremse zu „gespenstischem Verfassungsrecht“?

Gespenstisch sind bekanntlich zunächst ihre Folgen; die marode Infrastruktur oder der dramatische Rückstand beim Erreichen der Klimaziele. Gespenstisch schien mir aber vor allem, dass die Schuldenbremse von ihren Befürwortern in der Regel mit einer seichten privatistischen Fiskalmoral propagiert wird („das müssen unsere Kindeskinder alles zurückzahlen“ usw.), um das Grundproblem zu verschleiern, um das es geht, nämlich die ökonomischen Interessen an der „schwarzen Null“.

Eine geringe Staatsverschuldung will vor allem, wer daran interessiert ist, dass die industrielle Produktion für den Export günstig bleibt. Es ist insbesondere die Exportindustrie, die auf restriktive Fiskalpolitik angewiesen ist, weil es sonst zu Inflation kommt und damit auch die Löhne steigen. Aber nicht wenige sind der Auffassung, dass damit Wirtschaftszweige wie die Autoindustrie auf Kosten des Landes subventioniert werden, die die notwendige Transformation am stärksten verhindern. Die Staatsverschuldung bildet ja – aber hier lehne ich mich als Jurist weit aus dem Fenster – mit anderen Größen wie dem Wirtschaftswachstum, dem Leitzins oder der Lohnentwicklung ein bewegliches System. Man kann über das eine nicht ohne die anderen sprechen, soviel glaube ich verstanden zu haben.

In der Bundesrepublik hatte die Wirtschaftspolitik des Bundes in der Bundesbank und der Tarifpartnerschaft sehr starke Gegengewichte, die so etwas wie einen faktischen Zwang zu restriktiver Fiskalpolitik produzierten. Der anfängliche deutsche Glaube, dass die EZB so etwas sein würde wie eine zweite Bundesbank, hat sich nicht bewahrheitet. So betrachtet, ist die Schuldenbremse gespenstisch, weil sie auf diese Enttäuschung reagierte, indem sie zu konstitutionalisieren versuchte, was es nicht mehr gab, indem sie einen industriepolitischen Nationalismus in den Binnenmarkt eingeschrieben hat, der – wohlgemerkt! – ja seine eigenen Fiskalregeln hat. Die Schuldenbremse ist also die Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik in einem Verfassungsartikel – und ein wesentlicher Grund für unsere Schwierigkeiten beim Abschied vom Status quo.

  1. Die Schuldenbremse wird absehbar nur reformiert, nicht abgeschafft, und mit dem immensen Sondervermögen ein Schattenhaushalt eingerichtet. Welche demokratischen Kosten hat dieses Vorgehen, etwa im Hinblick auf das parlamentarische Budgetrecht?

Nun, bei der Einrichtung des Sondervermögens besteht das parlamentarische Budgetrecht schon noch, nur dann hört es nach dem Willen von Art. 110 GG eben sozusagen auf. Muss es aber nicht. Im geplanten Art. 143h GG ist vorgesehen, dass ein Bundesgesetz das Nähere regelt. Dem Bundestag wäre es unbenommen, diesen Vorbehalt dazu zu nutzen, sich dieselben Gestaltungsrechte auch gegenüber dem Sondervermögen zu geben und selbst dessen Haushalt festzustellen. Nur wäre dann natürlich die Frage, wozu das ganze Instrument noch gut sein soll.

 Die Koalitionsparteien scheinen sich von ihm derzeit ja vor allem Beinfreiheit zu versprechen. Insofern lägen die größten demokratischen Kosten vielleicht darin, dass es keine klare Verpflichtung des Sondervermögens auf klimapolitische und soziale Transformationsaufgaben gibt und die Zweckbindung für Infrastruktur völlig nichtssagend ist. Infrastruktur ist ja eines dieser wunderbaren Zauberwörter der modernen Gesellschaft. Klingt nach geräuschlos funktionierender Technik und guter Versorgung, das wollen alle, es bedeutet aber gar nichts. Da alles mit allem zusammenhängt, ist alles und jedes irgendwie Infrastruktur. Für die Lehrkräfte, die zur Arbeit pendeln, sind die Schienen Infrastruktur, für die Schienennetzbetreiber umgekehrt die Schulen, die ihren Personalnachwuchs ausbilden. Wir werden also voraussichtlich erleben, dass jedes beliebige Interesse sich demnächst als Infrastrukturinteresse neu erfindet.

Noch ein Satz zu den demokratischen Kosten: Wir treffen gerade die Entscheidung, in einer Situation großer politischer Gefahr die Gegenmaßnahmen ausschließlich aus Krediten zu finanzieren und nicht zumindest auch durch Steuererhöhungen für diejenigen, die am meisten davon profitiert haben, dass alles so war, wie es war. Auch das sind demokratische Kosten.

  1. Das Bundesverfassungsgericht hat soeben entschieden, dass das schnelle Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungsänderung verfassungsrechtlich zulässig ist. Gute Entscheidung?

Die Enttäuschung derer, die sich übertölpelt fühlen, ist natürlich verständlich. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mag als politische Zurückhaltung in einer dramatischen Situation verstanden werden; in einer Situation wohlgemerkt, in der es in kurzer Zeit gelingen muss, sich von vermeintlichen transatlantischen Gewissheiten zu befreien und gefährliche politische Kräfte innen und außen einzuhegen. In einer solchen Lage ist politisches Handeln eben manchmal nur in äußerster zeitlicher Verdichtung möglich. Aber ich denke, die Entscheidung hat alle verfassungsrechtlichen Argumente auf ihrer Seite. Statt des Antrags zum Gericht hätten die Abgeordneten ja auch versuchen können, die Drittelmehrheit für die frühere Versammlung des Bundestages nach Art. 39 Abs. 3 GG zusammenzubekommen. Alle Technizitäten, die dem angeblich entgegenstehen (wie etwa die Feststellung des Wahlergebnisses durch eine Behörde), sind ja nur einfaches Recht, das kann das Selbstversammlungsrecht kaum einschränken.

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Die eigenen Textteile finden Sie dieses Mal im Politicker, der im Laufe des Tages erscheinen wird und in dem wir diesen Beitrag verlinken und kommentieren werden. Im letzten Absatz müsste es u. E. rein sprachlich gesehen Drittelminderheit heißen, aber sicher sind wir nicht, denn faktisch geht es ja um eine Minderheit, die ein erforderliches Quorum im Sinne einer dafür ausreichenden Mehrheit für eine Forderung bildet, der Art. 39 GG lautet wie folgt:

1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.

(2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.

(3) Der Bundestag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen.

Er enthält übrigens auch die Legitimation des „alten“ Bundestages, bis zu seiner Ablösung durch den neuen Bundestag weiter tätig sein zu dürfen. Dass es also verfassungsrechtlich zulässig ist, was derzeit auf den Weg gebracht wird, auch wenn es erhebliche Ausmaße hat, deren Folgen weit in die Zukunft reichen, stimmt – und das BVerfG hat es gerade bestätigt.

*Uns ist natürlich klar, dass Menschenrechtsfragen und Themen wie Krieg und Frieden einen solchen Duktus verbieten, aber es gibt viele andere Gegenstände und andere juristische Publikationen, die nicht an die sprachlichen Vorgaben der Fachliteratur und der Gerichtsentscheidungen gebunden sind.


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