Filmfest 1331 Cinema – Werkschau Charles Chaplin (20) – Die große Rezension
Mabel’s Married Life (1914) ist eine US-amerikanische Stummfilmkomödie der Keystone Studios mit Charlie Chaplin und Mabel Normand in den Hauptrollen und Co-Autoren sowie unter der Regie von Chaplin. Wie so oft in seinem ersten Filmjahr ist Chaplins Figur bald betrunken. Dem Film folgte 1915 Mabel and Fatty’s Married Life als Nachfolger (aber nicht wirklich eine „Fortsetzung“).
Der nach neuester Zählung 20. Film von Charles Chaplin zeigt ihn wieder mit seiner damaligen Filmpartnerin Mabel Normand. Wie am Titel zu erkennen, wird er auch als Normand-Film ausgewiesen, das heißt, sie ist die nominelle Nummer eins in dem Film. Gehaltstechnisch stimmte das in Chaplins erstem Filmjahr sowieso, denn sie verdiente 175 Dollar pro Woche, Chaplin nur 150. Allerdings war es sein erstes Jahr in Hollywood, während Mabel Normand schon seit 1911 im jungen Filmbusiness war. Was ist an diesem Film bemerkenswert? Einiges, und darüber schreiben wir in der Rezension.
Handlung (1)
Ein großer Mann mit einem Tennisschläger unterhält sich mit seiner Frau in einem Park. Er verlässt sie und wandert davon.
Chaplin, mit Zylinder und Frack (aber Schlabberhosen), sitzt mit seiner Frau Mabel auf einer Parkbank. Während er in eine Bar gegangen ist, um sich um die Bezahlung seiner Getränke zu kümmern, sitzt der große Mann bei Charlies Frau und beginnt zu flirten. Chaplin kehrt zurück und findet sie lachend vor. Doch obwohl er ihn tritt und mit seinem Stock schlägt, lässt sich der Mann nicht beirren, um seine Frau zu werben.
In der Zwischenzeit wird Charlie von der Frau des Mannes empfangen und sie kehren gemeinsam zurück, wo die Frau des großen Mannes ihn zuerst zur Rede stellt, dann aber Mabel. Sie fängt an, sie zu würgen, dann will sie schlagen, trifft aber stattdessen versehentlich Charlie. Das Paar verlässt daraufhin das Haus. Charlie befiehlt Mabel, nach Hause zu gehen, während er in die Bar zurückkehrt, wo ein Mann an der Bar ihn verspottet.
Mabel hält in einem Sportgeschäft an, wo sie einen Boxsack in Form eines Mannes bestellt. Sie will lernen, wie man kämpft. Es wird geliefert, während sie noch im Pyjama ist. Sie hüllt sich in einen Teppich aus Leopardenfell, um die Tür zu öffnen. Sie fängt an, Boxbewegungen auf dem Dummy/Boxsack zu üben. Er ist beschwert, so dass er zurückschwingt und sie umwirft.
Währenddessen taucht der große Mann in der Bar wieder auf und ist eindeutig ein Freund des Spötters und macht sich weiter über Charlie lustig (der inzwischen betrunken ist). Als der Mann Charlies Haare zerzaust, bricht ein Kampf aus. Charlie kehrt dann nach Hause zurück, hält einen Haufen frischer Zwiebeln in der Hand, als wären es Blumen, und versucht herauszufinden, was der Geruch ist. Abgestoßen von dem Geruch wirft er sie weg, die durch eine offene Tür auf Mabel fliegen, die im Bett liegt.
Charlie sieht in seinem betrunkenen Zustand die Attrappe als den großen Mann und bereitet sich auf den Kampf vor. Charlie verlangt, dass die Attrappe geht. Er drückt ihn, der zurückschwingt und dann wieder nach vorne rollt und Charlie trifft. Charlie versucht, ihn zu besänftigen, schlägt aber erneut zu und wird umgestoßen. Mabel beobachtet das Geschehen vom Schlafzimmer aus und amüsiert sich über sein Verhalten. Er schlägt erneut auf den Schnuller ein und wird auf das Bett geworfen, wo er Mabel sieht. In dem Glauben, dass sie ihn betrogen hat, erwürgt Charlie sie und führt sie zum Dummy. Sie versucht, ihn zu besänftigen, während er immer wieder auf den Schnuller einschlägt und von ihm umgestoßen wird. Schließlich offenbart sie ihm, dass es sich nur um eine Attrappe handelt. Währenddessen machen sich Nachbarn Sorgen über den Lärm und stehen vor seiner Wohnungstür. Der Film endet damit, dass Charlie und Mabel sich zu einem Kuss beugen.
Rezension
Schon die für Chaplin-Filme dieser speziellen Monate im Sommer 1914 lange Handlungsbeschreibung deutet darauf hin, dass diesem Film eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen ist. Aus historischen Gründen trifft das auf alle Chaplin-Filme zu, aber warum hat man diesen One-Reeler ausführlicher beschrieben – zumindest in der englischsprachigen Wikipedia – als die Two-Reeler, die er inzwischen gemacht hatte? In der deutschen Wikipedia gibt es wieder einmal gar keinen Artikel, und das ist angesichts von 22 Sprachen, in denen man sich dem Film aktuell widmet, schon verwunderlich. Offenbar hat man sich hierzulande auf die ersten Werke des Komikergenies beschränkt und es dann erst einmal gut sein lassen.
Wie auch immer, “Mabel’s Married Life“ hätte unbedingt einen deutschsprachigen Eintrag verdient, denn er stellt einen Fortschritt gegenüber allen bisherigen Chaplin-Filmen dar. In der IMDb-Bewertung zeigt sich das nicht ganz, er bekommt dort 5,6/10 gegenüber z. B. 5,7/10 für „Caught in a Cabaret“. Letzterer hat zwar eine umfangreicher Handlung, aber „Mabel’s Married Life“ zeigt zum ersten Mal, seit Chaplin ins Filmgeschäft eingestiegen ist, nicht nur eine komplett durchdachte, geradezu zwingende Handlung, sondern auch den bisher am besten ausgespielten Gag, den „Dummy-Gag“ oder „Boxpuppen-Gag“ oder wie man ihn nennen möchte.
Und nun zum Grund dafür, dass der Film ausgefeilter wirkt als alle anderen, die Chaplin bis dahin gemacht hatte: Er hat hier Regie geführt, und zwar erstmals alleine. Das kommt der Komik unbedingt zugute und ich verstehe nicht ganz, dass das z. B. von den IMDb-Nutzer:innen nicht hinreichend gewürdigt wird. Jeder einzelne Moment sitzt (beinahe), das Timing ist besser als bei allen 19 Chaplin-Filmen zuvor. Auch der Schlagabtausch an dem üblichen See, in den dieses Mal zur Abwechslung niemand hineinfällt, ist gelungen, nicht nur die Puppenszene im Wohnzimmer. Das Gleiche gilt für die Barszene. Es ist nicht die erste, in der Chaplin zu sehen ist und er lässt seinen Tramp wieder ganz hübsch bechern, aber der Tramp ist in diesen frühen Filmen noch keine romantische Projektionsfläche, sondern etwas rüde und manchmal auch ein Proletarier. So, wie hier, wo Chaplin etwas macht, was ich bisher noch nicht so gesehen habe: Er spielt mit dem Olfaktorischen. Er gibt seinem betrunkenen Tramp dezidiert einen schlechten Atem und lässt ihn dann auch noch Zwiebeln essen. Um das alles gut unterzubringen, muss er mehr Zeit für die einzelnen Szenenelemente bekommen, und die gibt er sich selbst. Ich könnte mir vorstellen, dass der Dreh etwas länger gedauert hat als üblich, weil Chaplin vermutlich nicht immer das erste Take für die geschnittene Version verwendet hat.
Da er Regie geführt hat, ist er auch mehr zu sehen als Mabel Normand. Gleichwohl kommt auch sie gut zur Geltung. Sie kann im Actionfach vor allem anhand der Boxpuppe mehr zeigen als in allen anderen Filmen, in denen ich sie bisher studieren konnte. Jetzt merkt man wirklich, warum sie und Chaplin als Filmpaar gut funktioniert haben. Sie hat hier mimisch und die Gestik betreffend mehr drauf als in den Filmen, in denen ihr Lebenspartner Mack Sennett oder auch sie selbst Regie geführt haben. Im Regiefach blitzt in „Mabel’s Married Life“ schon Chaplins Genie durch, und zwar deutlich. Deswegen wird er von mir die höchste Bewertung aller bisher gesichteten Filme aus der Keystone-Ära bekommen. Ich gehe dabei chronologisch vor, laut IMDb müsste demnächst noch ein Sprung kommen, auf Filme, die mehr als 6/10 erhalten. Bei mir wird das dieses Mal schon der Fall sein.
Die Handlungsbeschreibung der Wikipedia muss ich stellenweise etwas ergänzen oder korrigieren (wir ändern daran nie etwas, wenn wir sie übernehmen, obwohl das zulässig wäre). Chaplin ist nicht im Frack unterwegs, sondern trägt, bis auf den Zylinder anstelle der Melone, das komplette Tramp-Kostüm mit der viel zu großen Hose, die auch in der Barsequenz eine Rolle spielt, der zu kleinen Jacke, den zu großen, hier zudem beschädigten Schuhen. Kontrastierend bewohnt der Tramp hier zusammen mit Mabel Normand eine mittelständische Wohnung, die ihn klassifiziert, was in vielen anderen Filmen dieser Ära nicht der Fall ist; in einigen Streifen hat der Tramp anscheinend gar kein Zuhause, was bei einer solchen Figur nicht unlogisch ist.
Die Zwiebel betreffend, weiß der Tramp vermutlich sehr wohl, worum es sich handelt, aber er ist betrunken und ein wenig garstig und vielleicht will er den Alkoholgeruch mit Zwiebeln dämpfen oder seine Frau Mabel ärgern, was auch immer. Dies ist nicht der beste Teil des Films, aber doch lustig.
Anlässlich der Veröffentlichung der Rezension im Juni 2025 möchte ich festhalten: Der Zwiebelgag in „The Hayseed“ (1919) mit Fatty Arbuckle und Buster Keaton war also nicht der erste, wobei Chaplin sich seinerseits von den beiden ja auch Gags abgeschaut und sie weiter ausgeformt hat (u. a. den weltberühmten Brötchentanz aus „The Gold Rush“ (1925)).
Richtig lachen konnte ich bei der Puppenszene im Wohnzimmer, eingestimmt durch die schon zuvor recht gut ausgeführten, wenn auch nicht sehr innovativen Schlagabtausche. Der Puppengag ist zumindest im Chaplin-Werk aber eine echte Novität und eine richtige Idee, ein wenig, wie wenn Fred Astaire mit einem Kleiderständer tanzt, eine Initalzündung bei der Verwendung eines Requisits. Es ist vollkommen in Ordnung, dass Chaplin auf die Ausführung dieser Szene etwa zwei Minuten verwendet, was für damalige Verhältnisse und speziell für die turbulenten Keystone-Filme viel ist.
Damit ist „Mabel’s Married Life“ auch ein recht langsamer Film, im Verhältnis zu den bisherigen Chaplin-Streifen, und gleichzeitig ein Hinweis darauf, wie in Zukunft Slapstick gestaltet werden würde: Ein Moment oder ein Gegenstand werden wirklich ausgereizt und dabei kommt es sogar zu etwas, was gar nicht so chaplin-typisch ist, sondern was Stan Laurel und Oliver Hardy zur Perfektion entwickelt haben: einem Slow-Burn. Die Action mit der Puppe steigert sich im Verlauf des Sketches, umfasst erst Mabel, dann Charlie, dann beide und am Schluss noch ein paar Leute aus der Nachbarschaft. Das Gespür für Situationskomik und wie man sie steigert, kann man gar nicht hoch genug einschätzen, denn es ist auch in späteren, größeren Chaplin-Filmen teilweise weniger ausgeprägt.
Motion Picture News gave it a favorable review, noting that „All will be aching from laughter when it is over.“[1]
The Moving Picture World also gave the film a positive review, writing that „Charles Chapman [sic] and Mabel Normand are at their best, and everyone knows what that means; better than most feature offerings from an exhibition viewpoint“.[2]
A reviewer from Bioscope wrote, „The mix-up between Mabel, Charles and the dummy is extremely funny, and in the restaurant Mr. Chaplin gives a very excellent study in inebriation. This is certainly one of the best of the Keystone comedies.“
Auch die zeitgenössischen Kritiker haben bemerkt, dass etwas im Gange ist, ohne es genauer zu identifizieren. Zumindest nicht in den gezeigten Ausschnitten der Kritiken. Nach zuvor 19 Chaplin-Filmen war zuletzt zu bemerken, dass nicht mehr alles mit maximaler Euphorie aufgenommen wird, nur weil Chaplin oder sein Tramp auf der Leinwand zu sehen sind. Ein Klassiker des Gewöhnungseffekts und auch des typisch amerikanischen Wunsches nach permanenter Steigerung. Hier gibt es die Steigerung, und zwar auf qualitativer Ebene. Sicher kann man, objektiv und aus heutiger Sicht betrachtet, noch mehr aus dem Boxpuppen-Doppelgänger-Gag herausholen, auch die Bewegungstechnik verfeinern, die Normand und Chaplin zeigen, aber für die Zeit der Entstehung und die Bedingungen des Keystone-Studios, wo vor allem auf Chaos und Geschwindigkeit gesetzt wurde, ist „Mabel’s Married Life“ geradezu eine Etüde in elaborierterer Komik.
Was [auf Mabels zunächst alleinige Auseinandersetzung mit der Puppe] folgt, ist wahrscheinlich der erste Vorgeschmack auf den „großen Chaplin“, die wunderbare Pantomime, die nur Chaplin machen konnte – die wunderbare Arroganz, mit der er dem Dummy gegenübertritt, und das völlige Erstaunen, das er registriert, wenn der abprallende Dummy ihn immer und immer wieder in die Luft schleudert.
Ich freue mich, dass ich unter den heutigen Kritikern Gefährten finde, bezüglich meiner Ansicht, dass Chaplin hier mehr zeigt als bisher. Die Puppe, das steht auch in dieser Kritik, war schon in „The Knockout“ zu sehen, wo sich in einem engen Hof einige Männer, die sich auf einen Kampf vorbereiten, an ihr versuchen. Ein so wertvolles Requisit musste mehrfach verwendet werden und gibt der Handlung noch einmal einen Dreh. Chaplin kannte das Objekt schon und dachte sich wohl, damit kann man viel mehr anfangen, als in dem typisch keystone-mäßigen „The Knockout“ möglich war, der in etwa die reichhaltigste Action-Abfolge aller bis zu dem Zeitpunkt entstandenen Chaplin-Filme hat.
Das sieht zwar aus wie der kleine Landstreicher, aber man merkt, dass Chaplin die Figur definitiv noch nicht perfektioniert hat. Der größte Unterschied ist, dass er immer noch nicht gelernt hat, die Figur sympathisch zu machen.
Und man sollte hier Mitleid mit ihm haben, schließlich flirtet ein Tyrann mit seiner Frau und es gibt scheinbar nichts, was er dagegen tun kann. Das Problem ist, dass er in der Szene zuvor nicht gezeigt wird, dass er und seine Frau so gierig ist, dass er nicht einmal seine Banane mit seiner Frau teilt. Und später betrinkt er sich mit seinen Problemen. Obwohl er die Partei ist, der Unrecht getan wurde, ist er einfach nicht so sympathisch.[1]
Er hat doch die Banane geteilt? Zumindest einmal hat er Mabel abbeißen lassen. Ich mochte diesen Part nicht sehr, weil ich es generell im Film nicht mag, wenn Menschen aus demselben Glas trinken oder an denselben Lebensmitteln herumknabbern. Nun ja, auch von diesem Film sind mehrere Versionen unterschiedlicher Länge einsehbar, wer weiß, was man in der Lobster-Ausgabe von 2010 noch an Schnipseln gefunden hat (sie hat etwa zwei Spielminuten mehr als eine weitere Variante, die ich aber nicht gesichtet habe, ich kenne also die Unterschiede nicht).
Ansonsten nimmt mir die obige Kritik Arbeit ab, denn ich schaue bekanntlich bei jedem Chaplin-Film, wann der Tramp endlich seine romantischen Züge bekommt. In „Mabel’s Married Life“ ist es nicht der Fall. Dass Chaplin noch nicht so weit war, liegt wohl daran, dass es keine Vorbilder gab und man damals wohl der Auffassung war, Komik und Drama und Romantik passen nicht in einem einzigen Film zusammen. In der Tat hat kein weiterer Filmkomiker diese Verbindung so hinbekommen wie Chaplin. Bei den großen Komödien späterer Zeit gab es immer Akzentuierungen, die klar in eine bestimmte Richtung liefen, gut zu sehen in Billy Wilders in aufeinanderfolgenden Jahren gedrehten Werken „Manche mögen’s heiß“ mit Anklängen an die Stummfilm-Slapstick-Komödien und vor allem burlesk, selbst in Szenen, die grundsätzlich eher romantisch sein sollten, im Jahr darauf in „Das Appartement“, in dem die Komik eine bittersüße und sozialkritische Story kristallklar und sogar berührend wirken lässt.
Gar Drama und tragisches Ende in einer Komödie, das war meisterlich und wäre es heute noch. Charles Chaplin war einer der wenigen, der es gewagt hat, besonders in „The Circus“, der ein wirklich traurigschöner Film ist und der gerne ein bisschen unterschätzt wird, neben den anderen großen Chaplinaden ab 1921 (The Kid, The Gold Rush) und danach (City Lights, Modern Times).
Nein, so weit war Chaplin 1914 einfach noch nicht. Aber auch heute stelle ich wieder die Frage, ob er damit im Kopf schon unterwegs war, den Tramp vielschichtiger zu machen. Denn er war ja ein romantischer Typ, auch ein etwas altmodischer Typ, ungeachtet seiner Liebschaften mit sehr jungen Frauen; es lag ihm, wie die späteren Filme zeigen, im Blut, Komik und Sentimentalität zu verknüpfen. Ein anderer Rezensent der oben zitierten Publikation hat wieder ein paar sozialhistorische Anmerkungen für uns parat, zum Beispiel, dass Bars damals nur für Männer waren, Frauen allenfalls einen Seiteneingang hatten und separat saßen. Damit waren Bars noch nicht die Begegnungsstätten für spannungsgeladene Flirts, die sie in späteren Filmen werden sollten, heißt es weiter. Was wäre der Film noir ohne Bars und Clubs, in denen Frauen und Männer elektrisiert werden und wo sich Männer um Frauen prügeln?, möchte ich ergänzen. Aber das ist schon eine andere Zeit, in der Chaplin wie ein Fremdkörper wirkte, ein Anachronismus, könnte man beinahe sagen – zumindest bis zu „Monsieur Verdoux“ (1947), der zu den außergewöhnlichsten Films noir zählt. 1914 jedoch war er ein aufstrebender Komödienstar und man sieht in „Mabel’s Married Life“ auch besser als in allen bisherigen 19 von mir gesichteten Frühwerken, warum.
Finale
Deswegen fokussiere ich noch einmal die Pantomime, die hier sichtbar wird. Ich mag es nicht besonders, wenn Mabel Normand zu Charles Chaplin in Vergleich gesetzt wird, obwohl es sich hier besonders bei der Boxpuppen-Szene anbietet. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die pantomimisch so stark ist wie einige männliche Schauspieler, schließlich war die Pantomime eine eigene (männliche) Kunstform. Das wirkt ein wenig seltsam, weil Frauen mehr verschiedene Gesichtsausdrücke können als die meisten Männer. Wenn Männer es aber so gut drauf haben wie Chaplin, dann gehen sie wohl ein Stück weiter und versuchen, eine ganz eigentümliche Präzision in diese Ausdrücke zu bringen. Es gibt tolle weibliche Komödianten oder, heute, Comedians, aber diese manchmal abrupten Wechsel und dann das extreme Halten von Grimassen zur Pointierung, das kenne ich eigentlich nur von männlichen Komikern. Natürlich auch von Stan Laurel oder dem unbewegten Buster Keaton, wo das Nicht-Grimassieren der eigentliche Clou ist; das genaue Gegenteil später bei Jerry Lewis. Ich glaube auch, dass Frauen glauben, es wirkt einfach unweiblich, so clownesk zu sein, sie setzen daher auf Schlagfertigkeit und manchmal, wie Normand es hier schon tut, auf Slapstick, wenn sie nicht gerade durch eine Erkrankung ein Gesicht haben, das wie eine Grimasse wirkt, eine solche große Ausnahme unter den weiblichen Comedians war Helga Feddersen.
Wegen dieses Unterschieds waren die besten Screwball-Komödiendarsteller weiblich, wie Katherine Hepburn, Myrna Loy oder Carole Lombard. Aber der Slapstick und die Pantomime waren und blieben ein männliches Ressort und der beste Pantomime im Film war zweifelsohne Charles Chaplin. Viele kamen vom Vaudeville und kannten sich aus, einige davon veredelten sich immer mehr, wie Cary Grant, der bezeichnenderweise eine ähnliche Künstlergenese hatte wie Chaplin, wenn auch etwas später, aber in seinen frühen Filmen auch sehr Mimik-orientiert ist, herausragendes Beispiel: „Leoparden küsst man nicht“ (1938), bezeichnenderweise mit der seit diesem Film als Komödiantin etablierten Katharine Hepburn.
Leider musste also Mabel Normand mehr als einmal auf einem Feld gegen Chaplin antreten und überhaupt in einer Männer-Domäne, wo es für Frauen nicht nur aus den üblichen Benachteiligungsgründen, sondern auch wegen tatsächlicher geschlechtsspezifischer Unterschiede im Ausdruck nicht so einfach war und bis heute wohl ist. Trotzdem hatte sie es geschafft, seinerzeit einer der größten weiblichen Stars zu sein, genau auf diesem Feld. Das gab es in den 1920ern nicht mehr, mit Normands Abstieg ging auch die Zeit zu Ende, in der Frauen mit Männern im Fach Slapstick-Komödie mithalten konnten. Bezeichnenderweise waren Chaplins spätere Filmpartnerinnen nicht für den Slapstick zuständig, sondern als seine Spiegel im romantischen Fach ausgeformt. Am meisten konnte noch Paulette Goddard sich eigenständig in einem Chaplin-Film bewegen, die beiden haben nur „Moderne Zeiten“ und „Der große Diktator“ zusammen gemacht. Die nächste große Frauenrolle, die der jungen Claire Bloom als „Terry“ in „Rampenlicht“ war ganz anders angelegt und spiegelt mehr als vielleicht alle anderen Frauenrollen in dessen Filmen Chaplins melodramatische Seite.
In der Endbetrachtung ist es jedoch richtig: Das größere Können in der plötzlich nun wichtig werdenden Pantomime hat eindeutig Charles Chaplin, das lässt sich anhand der Boxpuppen-Szene gut nachverfolgen. Die hat er auch für sich geschrieben oder improvisiert, nicht für Mabel Normand. Dass er dabei am besten wegkommen würde, war ihm ganz sicher auch bewusst, so gut, wie er sich von Beginn an in Szene zu setzen verstand. Aber es ist einer der besten, wenn nicht der beste Sketch, den Chaplin bis dahin gefilmt hatte. Deswegen, und weil der Film eine Verbesserung zeigt, die bisher höchste Bewertung von 20 Chaplin-Filmen (von denen einer nur eine Dummy-Kritik bekam, weil er als verschollen gilt, kleiner Gruß hin zum Rivalen-Dummy, der Boxpuppe).
67/100
2025 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2024)
| Regie | Charlie Chaplin |
|---|---|
| Drehbuch | Charlie Chaplin Mabel Normand |
| Produzent | Mack Sennett |
| Hauptrollen | Charlie Chaplin Mabel Normand |
- Charlie Chaplin – Mabel’s Husband
- Mabel Normand – Mabel
- Mack Swain – Wellington
- Eva Nelson – Wellington’s wife
- Hank Mann – Tough in bar
- Charles Murray – Man in bar
- Harry McCoy – Man in bar
- Wallace MacDonald – Delivery boy
- Al St. John – Delivery boy
- Grover Ligon – Bartender
- Alice Davenport – Concerned neighbour
[1] Mabels Eheleben (1914) Darsteller: Charles Chaplin, Mabel Normand, Mack Swain – Three Movie Buffs Review
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