Über 80-Jährige: Gewisse medizinische Behandlungen nur noch mit Eigenbeteiligung? (Umfrage + Kommentar)

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Liebe Leser:innen, es ist an der Zeit, wieder einmal eine Civey-Umfrage direkt zu besprechen, denn sie behandelt ein Thema, in dem es um die Behandlung von vielen Menschen und letztlich von (fast) uns allen geht, hier schon einmal der Link:

Über 80-Jährige: Gewisse medizinische Behandlungen nur noch mit Eigenbeteiligung?

Begleittext von Civey

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor wachsenden Belastungen. Steigende Kosten, Fachkräftemangel, zunehmende Bürokratie und eine alternde Bevölkerung verschärfen die Lage. In der Folge wird intensiv darüber diskutiert, wie die Finanzierung langfristig gesichert und die Versorgung effizienter gestaltet werden kann. Dabei geht es um heikle Fragen wie Eigenbeteiligung, Leistungsbegrenzungen oder Anreizmodelle – Debatten, die unmittelbar die Grundprinzipien der Solidarität und den gleichberechtigten Zugang zu medizinischer Versorgung berühren.

Der Vorstandsvorsitzende der Sana Kliniken AG, Thomas Lemke, hat nun vorgeschlagen, medizinische Leistungen für Menschen ab 80 Jahren stärker zu begrenzen. Nicht lebensnotwendige Eingriffe wie der Einsatz von künstlichen Hüft- oder Kniegelenken könnten bspw. nur noch mit Eigenbeteiligung erfolgen. Zur Begründung verweist er auf die massiv steigenden Gesundheitskosten und fordert, die Ressourcen gezielter einzusetzen. Lemke spricht von einer „hochproblematischen ethisch-moralischen Diskussion“, die aber unausweichlich sei, wenn das System sozial gerecht und nachhaltig bleiben solle. Darüber hinaus wirbt er für Bonusmodelle, die unnötige Arztbesuche verringern und Bürokratie abbauen könnten. Erst kürzlich hatte auch der CDU-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck für eine moderate Selbstbeteiligung der Versicherten geworben, um sogenannte Bagatellbesuche zu reduzieren.

Die Reaktionen auf den Vorschlag fielen kritisch aus. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, warf ihm vor, alte Menschen „unverhohlen“ zu diskriminieren und forderte Lemkes Rücktritt. Medizinische Leistungen wie künstliche Gelenke stünden allen gesetzlich Versicherten zu, wenn sie notwendig sind – unabhängig von Alter oder Einkommen. Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Simone Borchardt, betonte, das Lebensalter dürfe niemals über den Zugang zu Behandlungen entscheiden. Auch der Medizinethiker Nikolaus Knoepffler warnte vor einer starren Altersgrenze, die „sehr viel sozialen Unfrieden schaffen würde“ und verwies darauf, dass medizinische Entscheidungen stets individuell und am Patientenwohl orientiert getroffen werden müssten.

Kommentar

Die Kritik an dem Vorschlag steht im Begleittext unten, das ist üblich: Aktion und Reaktion. Und wer den Begleittext zu Ende liest, wird vermutlich ein wenig nachdenklicher, falls er nicht vorher schon entrüstet war. Immerhin 62 Prozent lehnen die oben dargestellte Idee strikt ab. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass fast 40 Prozent der Abstimmenden sich diese Idee tatsächlich als realistischen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen vorstellen können.

Wissen Sie, von wem der Vorschlag kommt? Von einem Herrn Lemke, der folgender Firma vorsteht:

Die Sana-Kliniken sind ein kommerzieller Klinikbetreiber. Sie werden als private Klinikgruppe geführt und befinden sich im Eigentum von mehreren privaten Krankenversicherungsunternehmen, deren Ziel eine langfristige Wertsteigerung sowie der wirtschaftliche Erfolg ist. Das Unternehmen betreibt bundesweit zahlreiche Krankenhäuser, teilstationäre und ambulante Einrichtungen und arbeitet nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien. Sana gehört damit eindeutig zum kommerziellen Sektor im deutschen Gesundheitswesen. (KI-Recherche)

Auf Deutsch: Der Herr führt einen Betrieb, aus dem Gewinne für Aktionäre herausgequetscht werden sollen und die niemals so kostengünstig arbeiten können wie ein auf Kostendeckung ausgerichteter öffentlicher Klinikbetreiber. Er ist also auch ein Vertreter der Interessen der klassistischen privaten Krankenversicherungen.

Womit wir bei der Entwicklung wären, dass die Kosten im Gesundheitswesen auch deshalb explodieren, weil der Privatisierungswahn den gesamten Gesundheitsbereich erfasst hat, mit Protagonisten wie dem Herrn Lauterbach, übrigens. Der war während Corona selten mit dem Herrn Streeck einer Meinung, aber wenn es darum geht, auch noch die letzte arme Maus, die nicht rechtzeitig im Loch verschwindet, zu finanzialisieren, sind sich diese Herrschaften allesamt einig.

Streeck berät die gegenwärtige Bundesregierung der Finanzmarkt-Apologeten, daher darf man nicht unterschätzen, was hier wieder angerührt im Sinne von rhetorisch vorbereitet wird. Und Civey testet, ob die Bevölkerung schon für eine abermals verfassungswidrige Idee aus regierungsnahen Kreisen bereit ist.

Vermutlich hat jemand aus der Politik mit Herrn Lemke zusammengesessen und gesagt: Mach mal einen typischen marktradikalen Vorschlag, wir schauen dann, wie das ankommt und korrigieren erst mal, aber so mit der Zeit, mit viel rhetorischem Druck, wie bei den vielen anderen Varianten des Sozialbashings, die wir gerade durchziehen … die Leute werden schon blöd genug sein, das irgendwann richtig zu finden. Und es passt so gut zu einer der vielen Diskriminierungsformen, die die neue Regierung geradezu strategisch platziert: In diesem Falle zur Altersdiskriminierung, parallel zum Anschlag auf die zu wenig arbeitenden Rentner. Nur mal so: Wer kein neues Hüftgelenk kriegt, wenn das bisherige nicht mehr mitmacht, wird in der Regel bald im Rollstuhl sitzen. Tot ist man dann nicht gleich, aber das Leben verkürzt sich, weil man sich nicht mehr vernünftig bewegen kann, um sich fit zu halten. Außerdem wird’sschwierig mit der Verwertung für das Kapital, die wir ja vermutlich alle demnächst bis zum Lebensende, auch mit über 80, noch ableisten müssen.

Um es klar zu schreiben: Dieser Vorschlag verstößt eindeutig gegen Art. 1 und 3 des Grundgesetzes und sicherlich gegen viele weitere Regelungen, die nicht ganz so weit oben in der Normenhierarchie platziert sind. Aber was weiß der Chef einer Privatklinik schon von Ethik, wie sie im Grundgesetz implementiert wurde, um den tödlichen Selektionismus der Nazi-Zeit ein für alle Mal zu beenden? Das war die Zeit, in der Menschen als lebenswert oder lebensunwert geschieden wurden. In letztere fielen alle, die für den NS-Staat nicht verwertbar schienen oder aus ideologischen Gründen ganze Bevölkerungsgruppen, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit.

Aber das wird man doch mal sagen dürfen. Wir leben ja in Zeiten, wo das alles zur Meinungsfreiheit gehört. Einige, die auf totale Meinungsfreiheit pochen, sie also über alle anderen Grundrechte stellen, sind übrigens die nützlichen Idioten für Leute wie Streeck und Lemke, deswegen winken wir mal schnell ab, wenn bei ihnen die Köpfe angeblich wegen der hochproblematischen Ethik rauchen. Erkennen heißt nicht befolgen, und bei Ärzten kommt noch hinzu, dass sie mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheitssystems ohnehin gezwungen sind, immer häufiger gegen den hippokratischen Eid zu verstoßen. Das gesamte Zweiklassen-Gesundheitssystem ist im Grunde ein Verstoß dagegen und eine typisch deutsche Idee, die es in vielen anderen europäischen Ländern nicht gibt. Und wer eignet die Sana-Kliniken, denen der Herr Lemke vorsteht?

Richtig, irgendwelche PKVen. Die können die Beiträge ihrer Kunden beinahe nach Belieben erhöhen und schaffen so Platz für diese Kunden, wenn die gesetzlich Versicherten, steht eine OP an, ob lebensnotwendig oder nicht, aus finanziellen Gründen längst passen müssen.

Gegenwärtig wird fast jeden Tag eine neue Sau von einem Vorschlag durchs Dorf getrieben, die den Sozialstaat wegtrampeln will. Das ist kein Zufall, das ist auch nicht durch Probleme mit dem Staatshaushalt zu rechtfertigen, die man sich mangels Steuergerechtigkeit seitens der Politik selbst macht, das ist ein abgestimmter Chor, der nach einem anderen, ganz und gar rechtsgewendeten Land schreit. Dieser Chor folgt übrigens dem Muster, das ultrarechte US-Strategen entwickelt haben: Die Menschen so lange mit Shit fluten, bis sie erschöpft sind und sich nicht mehr wehren. Das Muster, das die Trump-Regierung bis zum Exzess anwendet.

Wer sich, und sei es nur bei Umfragen, darauf einlässt, das, was oben beschrieben wird, normal oder gar begrüßenswert zu finden, der gehört entweder zu den wenigen, die so privilegiert sind, dass sie tatsächlich alles, was da kommen mag, privat zahlen können und sich freuen, wenn andere nicht mehr krauchen können, welche sich nicht so schlau ganz oben im System festgesetzt haben (zum Beispiel durch Erbschaft).

Oder sie sind einfach nur dumm und votieren gegen ihre eigenen Interessen. Denn krank werden kann jeder, und möchten Sie dann, dass Ihre Genesung davon abhängt, ob Sie gerade so viel berappen können, dass Sie überhaupt behandelt werden? Lassen Sie sich nicht täuschen von Begriffen wie „moderat“. Die Fallpauschalen für Hüft-OPs liegen bei 13.000 bis 14.000 Euro, wenn es etwas komplizierter wird, der Einstiegspreis bei etwa 6.000 bis 11.000 Euro. „Moderat“ dürfen Sie da schnell ein paar tausend Euro selbst beisteuern, wenn Sie noch ein bisschen laufen wollen in Ihrem Leben. Natürlich gehören Sie ohnehin für diese Libertären, mit denen wir es  hier zu tun haben, zu den Schädlingen der Gesellschaft, einfach, weil Sie es gewagt haben, so alt zu werden und ab und zu nach einem langen, selbstbestimmten Leben nun eine Hilfeleistung von einem Staat zu beanspruchen, der sich gerne seiner Pflichten gegenüber jenen entledigen und all jene im Stich lassen möchte, die sich jahrzehntelang brav staatstragend verhalten haben.

Kürzlich mussten wir eine neue Brille erwerben, weil unsere Sehkraft sich verändert hatte. Wissen die Älteren unter Ihnen noch, dass mindestens die Gläser einmal eine vollständige Krankenkassenleistung waren? Vollkommen zu Recht, denn es geht um die Gesundheit und sogar um die Leistungsfähigkeit, also um einen Vorteil für das Kapital. Mittlerweile dürfen wir alle (oder fast alle) tief, tief in die Tasche greifen, denn Brillengläser zählen zu den absoluten Gewinnbringern der Gesundheitsindustrie. Die Krankenkassen zahlen nur noch bei Voraussetzungen, die kaum jemand erfüllt, die Arbeitgeber, dann, wenn die bestimmte Form von Brille speziell für die Arbeit notwendig ist. Die Alltags-Gleitsichtgläser hingegen, die viele Menschen ab ihren 50ern oder 60ern benötigen, dürfen sie schön selbst zahlen, wenn sie nicht gegen Bäume rennen oder nicht zum Lesen jedes Mal die Brille wechseln wollen.

Das wollen wir nun nicht vertiefen, es geht ja heute um Hüftgelenke. Lesen Sie aber bitte die Hüftgelenke, die wirklich ein fieses Beispiel sind, weil man sich sofort Menschen vorstellt, die ohne ein funktionierendes Hüftgelenk nicht mehr die Treppe hoch und runter kommen, als pars pro toto. Alles Mögliche, bis hin zu lebenserhaltenden Krebsbehandlungen, lässt sich prinzipiell unter: Muss das noch sein, bei so alten Leuten? subsumieren. Wir sind schon gespannt, wann angesichts der rasant steigenden Kosten für die Altenpflege darüber öffentlich nachgedacht wird, ob man die Leute, wenn sie dadurch nach kurzer Zeit ihre Rücklagen aufgebraucht haben, nicht einfach verrotten lassen könnte. Passenderweise gibt es schon erste Vorschläge, auch die Pflegeversicherung zu beschädigen.

Eine Gesellschaft in einem angeblich reichen Land, in der über Gesundheit so nachgedacht wird, ist wirklich krank, und daran hat sie in ihrer Eigenschaft als Ansammlung von Wahlberechtigten einen hundertprozentigen Eigenanteil.

TH


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