Die Verrufenen (DE 1925) #Filmfest 915 #DGR

Filmfest 915 – Die große Rezension

Die Verrufenen(Anm.1) ist ein Sozialdrama von Gerhard Lamprecht aus dem Jahr 1925 „nach Erlebnissen“ von Heinrich Zille.(Anm.2) Das Drehbuch verfasste er zusammen mit Luise Heilborn-Körbitz. Es ist einer von drei sogenannten „Milieu“-Filmen des Regisseurs, die man damals, sicher nicht nur aus Respekt vor ihrem Anreger, dem großen Berliner Zeichner und Fotografen, als Zillefilme bezeichnete.[1][2] Es ist der einzige Film, in dem Zille selbst auftrat.[3] / [1]

Ausgerechnet der wichtigste Sprung wird nicht erklärt, wo der Film sonst an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Wie der Ingenieur Robert Kramer von seiner Existenz als Photographen-Assistenz in die Fabrik findet. Dass hingegen nicht erläutert wird, warum er einen Meineid geschworen hat, um „seine Ehre zu retten“, wäre zwar moralhistorisch interessant gewesen, wird aber vermutlich absichtlich im Hintergrund belassen, damit die Menschen genau darüber nicht nachdenken, was nicht zur Botschaft des Films zählt, nämlich Zilles „Milljöh“ wirklich zu porträtieren und das Elend für die Nachwelt festzuhalten. Dass die Nachwelt so aussehen könnte, wie es dann kam, hat sich 1925 wohl Zille nicht  vorstellen können; nicht im Schlechten und nicht im Guten. Rechnet der Film trotzdem zu jenen, die eine Vorahnung zuließen, wie sie dem Weimarer Kino in Bezug auf die Nazizeit spätestens seit Krakauers „Von Caligari zu Hitler“ zugerechnet wird? Darüber und über weitere Aspekte des Films schreiben wir in der Rezension.

Handlung

Der Film spielt in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg und handelt von zwei Männern, die aus der Haft entlassen werden. Während der eine sofort wieder da als kleiner Gauner weitermacht, wo er vor seiner Zeit im Gefängnis aufgehört hat, und auch von seinem Umfeld wieder angenommen wird, muss sich der zweite, weil er von seiner Familie verstoßen wird, eine neue Existenz aufbauen.

Der aus dem Gefängnis entlassene Ingenieur Robert Kramer findet zunächst keinen Halt mehr im bürgerlichen Leben: Seine Verlobte hat ihn verlassen, sein Vater verstößt ihn, weil er „gesessen“ hat. Als Vorbestrafter findet er keine Arbeit, da man ihm überall mit Misstrauen begegnet. Voller Verzweiflung will er seinem Leben ein Ende machen, da rettet ihn das Straßenmädchen Emma und nimmt ihn bei sich auf. Als Emma und ihr Bruder Gustav in einen Raubmord geraten und vor der Polizei fliehen müssen, hilft Robert ihnen. Sein Leben nimmt eine gute Wende: Er findet Arbeit und einen Förderer, bekommt sogar eine leitende Stellung in einer Fabrik in Düsseldorf. Als er nach Berlin zurückkehrt, um Emma wiederzusehen, findet er sie sterbend vor und muss Abschied von ihr nehmen. In der Schwester des Fabrikbesitzers findet er eine neue Liebe.

Rezension

Sehr schade, dass der Film aufgrund des Sprungs an einer wichtigen Stelle nicht als Anleitung dafür herhalten kann, wie man aus einer wirklich prekären Lage wieder ganz nach oben kommt, inklusive der am Ende absehbaren Vermählung mit einer netten Kapitalistin. Anders als in den expressionistischen Filmen der frühen 1920er, die eher inneres Elend nach außen wirken ließen, wird hier das Äußere am Ende in meinen Augen recht zweifelhaft abgebrochen, denn der Film endet eben nicht mit den üblichen Zuständen, sondern mit einem Schicksal, das absoluten Ausnahmecharakter hat. Dass gerade daraus eine Abkehr vom US-Kino hergleitet wird, finde ich durchaus interessant, denn mich hat das Schicksal des Kramer an viele amerikanische Filme erinnert, in denen Menschen es „against all odds“ am Ende nach oben schaffen und es sich auch verdient haben. Inklusive dem Spin, dass ein Fehler in der Vergangenheit nicht zur Zerstörung der Existenz in alle Zukunft hinein führen darf. Auch das Thema des Gefangenen, der zu Beginn freikommt und ganz von vorne anfangen muss, ist uramerikanisch, wenn es so endet wie hier.

Das Gegenmodell wird gleich mitgeliefert, der ewige kleine Mistgauner, der mit dem Ehrlichen interagiert. Glücklicherweise wird nicht bis zum Ende konsequent ausgespielt, dass die Kröte den Helden so traktiert, dass dieser wieder ins Straucheln kommt und den Halt verliert. Auch die Variante ist in pessimistischeren Krimis, wenn alles endgültig schiefgeht, also Films noirs, und Sozialstücken ein bekannter Plot. Daraus kann man auch wirklich wunderbare Kinostücke machen, wenn sie gut gespielt sind. Klischees sind im Film sowieso viel notwendiger, um das Publikum bei der Stange zu halten, als man wahrhaben mag. Inklusive ihrer ironischen Brechung natürlich, aber davon ist „Die Verrufenen“ weit entfernt, einen distanzierten Blick einzunehmen, der gar auf Parodie oder Sarkasmus deuten könnte.

Was wiederum nicht bedeutet, dass der Film keinen Witz hat. Dieser äußert sich aber nicht in dne Bildern, sondern in den Zwischentiteln, und das hat folgenden Effekt. Man sieht Zilles Milieu nicht gezeichnet, sondern real, und die Sprache kontrastiert geradezu mit dem Elend, sie macht es nicht etwa weniger unerträglich. Natürlich habe ich mich gefragt, ob diese wirklich bittere Armut nach dem Ersten Weltkrieg und während der großen Sozialbauprogramme à la Taut in Berlin noch üblich war. Nun ja, vorhanden war. Man mag es sich einfach nicht vorstellen wollen. Also kommen wir doch auf die Frage aus der Einleitung: Lässt sich aus dem Elend und der Verzweiflung der Menschen die kommende NS-Herrschaft zumindest teilweise erklären? Anders als in einigen Filmen, die direkt nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, wird hier kein Delirium des Untergangs von einst bürgerlichen Existenzen zelebriert, die in der neuen Zeit aus dem Rhythmus gekommen sind und sich verlieren, sondern hier werden verfestigte Zustände porträtiert, in denen sehr viele Menschen zu leben scheinen.

Herausgegriffen wird hingegen das Schicksal eines Mannes, der gar nicht aus dem Milieu kommt und ihm auch wieder entweichen kann. Weil er andere Voraussetzungen hat. Weil er weiß, wie man durch harte, ehrliche Arbeit am Ende das ganz große Los zieht. Man merkt bereits, ich mag das Ende nicht besonders, so reizvoll und – sic! – amerikanisch es auch ist. Es ist mir  zu hoch gegriffen. Zu exzeptionell. Hier wird die gesamte soziale Leiter erklommen, anstatt, dass, wie bei den meisten Menschen, irgendwo in der Mitte Halt gemacht und dort verblieben wird. Damit spiegelt der Film zwar die Klassen oder Stände am unteren und oberen Ende, aber er ist gegenüber den Besitzenden so eingestellt, dass man meinen könnte, es werde alles gut, wenn ein Mann wie Kramer es bis dorthin schafft. Dass das den meisten nicht möglich ist, kommentiert er dann ziemlich nüchtern. Nicht mitleidlos, schon wegen der armen Emma, aber ich fand es krass, wie kurz nach der Szene, in der sie stirbt, während er ihre Hand hält, eine Einstellung folgt, in der seine Hände die der hübschen Reichen finden. Es gibt da auch keinen zeitlichen Sprung, wie etwa, dass er noch einmal nach Düsseldorf geht, um seine Erlebnisse zu verarbeiten und sich emotional zu lösen. Notabene, er hat Emma wohl nicht geliebt, während sie sich an ihn gehängt hat und sagte „Das ist Meiner“, als die Ex-Verlobte mit einem Angebot in der gemeinsamen Bude auftauchte, das man ablehnen muss, wenn man ein Ehrenmann ist (trotz Meineids oder deswegen).

Emma hat ihn gerettet, er wollte sich umbringen, das darf man nicht vergessen; auch da ist der Film nicht perfekt: Wie sie ganz plötzlich von der gebenden, dominierenden Figur, die den armen Kerl stützt, wo sie kann, zur Alkoholkranken und zerstörten Frau umporträtiert wird. Bei einem Film von fast zwei Stunden Länge hätte man das etwas weniger abrupt darstellen können. Wenn man so will, der zweite Sprung, der zu hastig oder unprofessionell ausgeführt wird. Es vorher schon anzudeuten und sich dann verstärken zu lassen, dass sie eben nicht so stark ist oder nicht immer, das wäre die kundigere Variante gewesen und ich glaube auch nicht, dass es konzeptionell war, in beiden beschriebenen Fällen, das Entstehen quasi auszulassen und die Veränderung überfallartig zu inszenieren. Vielleicht hätte man dafür, die Dramaturgie zu perfektionieren, doch den einen oder anderen Milieu-Moment opfern müssen. Oder dem Film, wenn er schon so lang ist, noch zehn Extra-Minuten gönnen dürfen. Irgendwie habe ich mich doch schon an die handlungsseitige Perfektion von Filmen der späten Stummfilmära, also von 1929, gewöhnt.

Was man bei Filmen aus den 1920ern, insbesondere bei deutschen, immer berücksichtigen muss: Sind sie noch so erhalten, wie sie damals gezeigt wurden? Bei vielen ist das nicht der Fall, vor allem fehlen die Originalnegative und es muss aus verschiedenen Verleihkopien anhand des Drehbuchs, falls dieses erhalten ist oder aus anderen Dokumenten eine möglichst originalgetreue Fassung erstellt werden. Leider kenn ich bei „Die Verrufenen“ die Restaurationsgeschichte nicht, aber die gesehenen 113 Minuten entsprechen der Angabe in der Wikipedia, zumindest fehlt also nichts auf der „letzten Ebene“, der heutigen Präsentation auf welcher Plattform auch immer. Aber ob der Film ursprünglich nicht doch noch etwas länger war, kann ich nicht sagen. Dass er in acht Akten gedreht wurde, ist aber sicher, und das bedeutet, er kann nicht länger als zwei Stunden gewesen sein, denn ein Akt entspricht einer Filmrolle von etwa 15 Minuten.

Dass man für die Hure Emma Aud Egede-Nissen ausgewählt hat, lag quasi auf der Hand, hatte sie sich doch von einer Komödiendarstellerin zu einem Vamp entwickelt und war damit eine der großen Figuren in Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“, wo sie aber eine Femme fatale mit gutem Kern darstellt, die auch ein böses Ende nimmt – vier Jahre später ist es sozial schon recht weit abwärts gegangen.

Ein Hauptwerk des Milieu-Films, eines von Heinrich Zille inspirierten Genres, das von 1925 bis 1929 blühte und seinen Höhepunkt in „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ fand. Der Film des 28-Jährigen Gerhard Lamprecht ist weit besser, als die Handlung vermuten lässt, weil der Regisseur der Milieumalerei immer den Vorrang gibt vor dem Abspulen des Melodrams: Hier werden Zilles Zeichnungen von verkommenen Mädchen und Drehorgelspielerinnen in häuslichen Hinterhöfen, unterernährten Kindern, Arbeitslosen und unbeschreiblichen Gestalten, die in den Tag hinein leben, wirklich zu Film. „Wir haben ja schon manchen Film gesehen, der das Berliner Leben schildert, aber keinen, der es mit so hohem Ernst und mit solch tief erschütternder Eindringlichkeit tut. Das erste Bild zeigt uns Heinrich Zille. Alles ist schlicht und echt, und bei aller Tragik immer wieder echter Berliner Humor und Mutterwitz. Gerhard Lamprecht, der junge Regisseur, der schon in mehreren Filmen, so den „Buddenbrooks“, Zeugnis seiner großen Filmregiebegabung ablegte, inszenierte den Film, dass man nur sagen kann „Hut ab!“ Es ist nicht möglich, hier die Fülle der prachtvoll erzählten Einzelheiten aufzuzählen. Aber die Bilder aus dem Asyl der Obdachlosen, der Wäschekellerei, den düsteren Höfen der Armeleute-Quartiere, all das ist nicht nur mit Regie Kunst, sondern mit echter Menschlichkeit filmgemäß umgesetzt. (Der kinematograph, 1925). Ein Jahr später drehte Lamprecht im gleichen Stil mit demselben Team „Die Unehelichen“.[2]

Allein, Heinrich Zille selbst zu sehen, wie er eingangs eine Gruppe von Kleingangstern mit Schiebermützen in seinem schlichten, treffenden Stil zeichnet und diese in der ersten Spielszene dann lebendig werden, ist den Film wert. Über seinen Wert wurde aber auch gestritten:

‘“Die Verrufenen“ (1925) nach Heinrich Zille […] oder „Die Unehelichen“ (1926) waren solide Milieubeschreibungen, waren auch erfolgreiche Kinounterhaltung im positiven Sinn des Wortes. Nahezu zwangsläufig stieß er [ Lamprecht ] auf teilweise vehemente Ablehnung einer ideologisch gebundenen[16] Kritik. Die linke Filmkritik sollte später – 1929 bei der Aufführung von Jutzis „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ – mehrfach auf Lamprechts Arbeiten kritisch Bezug nehmen und sie als Beiträge einer bürgerlichen Verkitschung des Elends von Millionen denunzieren.’[17] / [3]

„Die Unehelichen“ habe ich leider nicht im Netz abrufbar gefunden, aber aus der Wiki-Beschreibung zu diesem Film stammt der obige Text. Vielleicht bin ich auch ein linker Filmideologie, aber an dieser Stelle muss ebenjener Ideologe klartstellen: Ich habe diese Bemerkung erst gelesen an der Stelle, an der ich sie nun einfüge. Ich kann mir zwei Gründe vorstellen, warum die linke Filmkritik damals so negativ tendierte: a.) Der Humor, der auf den Texttafeln durchblitzt und die Armut konterkariert und weniger trist wirken lässt, b.) Die Handlung. Sie sei aber als Drama nicht im Vordergrund, heißt es ja weiter oben, der prächtigen Schilderung eines unprächtigen Milieus wegen. Wenn man es ganz genau nimmt, kann man dies aber auch als Exploitation betrachten, weil alles nicht nur arm, sondern auch verkommen und würdelos wirkt. Wenn man dann die quasi Zusammenfassung von Kramer, der eben doch aus anderem Holz geschnitzt ist, nämlich aus der oberen Mittelschicht stammt, wie die Szenen bei seinem Vater belegen, die Affirmation gegenüber dem Großkapital hinzunimmt, kann man sehr wohl und ohne das damals zeitgemäße Messer zwischen den kommunistisch gehärteten Zähnen konstatieren, dass der Film genau diese Tendenz hat. Er kann sehr wohl so gelesen werden, dass das Elend sich einfach immer weiter tradiert, weil die Menschen halt so sind: elend.

Dass darin Liebe und Freundschaft gedeihen können, wie Emmas Gefühle und das Verhältnis zum Fotografen Rottmann, ist ja nicht ausgeschlossen, aber letztlich ist Kramer ein Bürgerlicher, und das macht ihn am Ende recht schnell wieder tauglich für die Reintegration in die bürgerliche Welt, die natürlich auf geradezu woke Weise tolerant gegenüber den „Gefallenen“ aus der eigenen Schicht ist. Nicht ganz der eigenen Schicht, aber doch fast. Wie überaus sympathisch auch optisch das Kapitalisten-Geschwisterpaar dargestellt wird, das ist schon auffällig.

Heute hat nicht der in tausend guten und noch viel mehr schlechten Filmen abgebrühte Kritiker das Wort, sondern der bis ins tiefste Herz ergriffene Mensch. Ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß mir sehr oft die blanken Tränen aus den Augen gelaufen sind. Dieser Film ist eine soziale Tat geboren aus wahrhaft christlichem Empfinden und aus einer Liebe zu den Ärmsten der Armen, wie sie der Kenner, der in Heinrich Zilles Bildern tiefer zu sehen verstand, als die lustige Oberfläche andeutete, schon lange sehen durfte. Überaus treffend ist, was Max Liebermann, Zilles großer Malerkollege, über diesen berlinischsten Künstler geschrieben hat: „Tausend und Abertausende werden achtlos, und wenn Sie darauf achteten, sogar mit Abscheu an die Szenen, die Sie schildern, vorübergehen, wenn Sie ihnen im Leben begegneten. Sie aber werden von einem Teil bewegt. Das große Mitleid regt sich in Ihnen und Sie beeilen sich, darüber zu lachen, um nicht gezwungen zu sein, darüber zu weinen. Wir spüren die Tränen hinter Ihrem Lachen.“ – Dieses wundervolle Werk ist mir für einen telephonischen Bericht und für den knappen Raum, der dafür zur Verfügung steht, zu schade. Auf alle Einzelleistungen – und die waren herrlich – muß noch näher eingegangen werden. Heute sei nur konstatiert, daß nicht endenwollender Beifall aus bewegten Herzen den Meister und seine treuen Helfer immer wieder belohnten. Der National-Film konnte sich mit den ersten Taten seiner neuen Direktion nicht besser einführen, als durch diese Leistung, von der nicht nur die Filmwelt noch lange Zeit sprechen wird.“ – Mendel: Lichtbild-Bühne, Nr. 165, 29. August 1925[3][14] / [4]

So klingt es, wenn man zeitgenössische Rezensionen liest, die den Film preisen,  und das dürfte die Mehrheit gewesen sein, und der Stil ist durchaus zeitgemäß in seiner Emotionalität, wenn man nicht gerade vom Schriftstellerischen kam, wie einige der damals über Filme Schreibenden, die theaterkritische Grunddistanz wahrten, als der Kientopp anfing, die Massen mit bewegten Bildern zu bewegen. Ja, es gab  zwei Szenen, die mich auch berührt haben. Beide habe ich Emma zu verdanken, wie sie den Ingenieur rettet und wie sie stirbt. Gerade deswegen ging mir der Wiedereinzug des Kramer in die bürgerliche Welt etwas zu glatt. Man wünscht ja jedem eine solche Wendung, wenn er in guter Kerl ist, aber muss es so platt gemacht sein?

Lamprecht konstatiert wachsende Amerika-Müdigkeit des deutschen Kinopublikums, die er darin begründet sieht, „dass bei uns gerade die menschlich-wahren, durch Kinohaftigkeit nicht verkitschten Stoffe starken Erfolg haben“ (Film-Kurier, 25. September 1926). [5]

Vielleicht hatte Lamprecht die linke Kritik durchaus im Blick gehabt, aber ich habe oben schon geschrieben, dass ich den Film durchaus nicht für unamerikanisch halte, auch wenn in Hollywood das Elend in der Regel nicht so drastisch geschildert wurde, außerdem eher individuell als mit dem Hintergrund eines ganzen Standes, wenn mit Figuren ins Bild gesetzt, die sich Sprechrollen erfreuen dürfen. Das Weimarer Kino war ein Kino der Kontraste, in G. W. Pabsts „Die freudlose Gasse“ habe ich kürzlich gesehen und rezensiert, wie das gesamte Gesellschaftspanorama noch viel breiter ausgerollt wurde und fand es eigentlich nicht kitschig, obwohl auch dieser Film ein affirmatives Ende hat, als eine Person, die eigentlich auch kleinbürgerlich ist, nicht proletarisch, durch einen amerikanischen Soldaten aus dem im Vergleich zu Lamprechts Zille-Film gemäßigten Elend entkommen kann. Sie wird von Greta Garbo gespielt, das ist natürlich eine Art Grundvorteil.

Dem Film „Die Verrufenen“ (1925), Lamprechts Blick in die Elendsviertel der Ärmsten, in die Hinterhöfe, Lumpenkeller und Obdachlosenasyle nach den Aufzeichnungen des Berliner Malers Heinrich Zille – den ein Berlin-folkloristisches Milieukino mitleidvoll apolitisch ebenso für sich beanspruchte wie der proletarische Film […] – wurde nach seiner Premiere 1925 im eleganten Berliner Westen vom sozialdemokratischen „Vorwärts“ die „Bedeutung eines Evangeliums“ zugeschrieben: „Das alles sind Menschen wie du, Menschen, die wirklich leben, unter diesen Verhältnissen leben; Kinder werden hier groß, in ‚Wohnungen‘, die so nass sind, dass junge Katzen darin krepieren …“.[15] / [6]

Finale

Günter Lamprecht war Sohn eines Gefängnispfarrers. Ich weiß nicht, ob er auch einen Gefängnisfilm gemacht hat, aber was aus einer Haft an gesellschaftlichen Nachteilen erwachsen kann und welch unterschiedliche Typen einfahren, das wird er sich gewusst haben.

Hat er deswegen ein Evangelium kreieren wollen? Die Sozialdemokratie, wie sie sich in „Vorwärts“ repräsentierte, hatte damals wie heute etwas Doppelgesichtiges und war an einigen Fehlern und Unmenschlickeiten den „wahren Linken“ gegenüber beteiligt, sie war auch dem Kapital gegenüber viel freundlicher als logischerweise die Kommunisten. Für die Menschen hat sie trotzdem mehr erreicht, als die SPD die Arbeiterbewegung anführte, weil sie sich ins System einbinden ließ, auch das gehört zur historischen Wahrheit.

Der Film stellt also tatsächlich die Frage an uns, ob wir es durchgehen lassen, dass einer Beschreibung von beinahe unbeschreiblichem Elend die Tür zu einer Art Individualverschulden offen gelassen wird. Man kann Kramers Wiederaufstieg aus zwei Perspektiven betrachten: Weil er die Grundvoraussetzungen hat, kann er sich wieder eingliedern, und die wurden ihm in einem bürgerlichen Milieu vermittelt, auch wenn der Vater ein hartherziger Mensch ist, der lieber tote Briefmarken bewundert, als Verständnis für seinen Sohn zu haben. Ein anderer Typ Vater als der jenige, den ich zuletzt in „Asphalt“ beschreiben durfte, den braven Polizisten, der schweren Herzens der Pflicht folgend, seinen Sohn zur Wache bringt, der sich bei seinem Vater aber eh quasi selbst angezeigt hat. Es wirkt, als ob die untere Welt die der Mitteklasse quasi von selbst wieder abstößt. Es kann kaum anders sein, wenn jemand sich nicht hängen lässt, was aber jemand, der im bürgerlichen Pflichtmilieu gezeugt und erzogen wurde, gar nicht kann, es ist ihm nicht gegeben, auch wenn er verzweifelte Momente erlebt, wo er Hilfe von den  unteren Zehntausend bekommt. Man kann es auch anders sehen: Wer da ganz unten aufwächst, hat gar nicht erst die Chance, nach oben zu kommen, weil er oder sie durch dieses Milieu geprägt ist, sinnbildlich an den verdreckten Kindern gezeigt und vor allem an dem Dialog des Mädchens mit dem Jungen, der schon Lungenzüge kann, wo sie ihn fragt, ober auch schon mal richtig besoffen war. Komischerweise nicht nur ganz unten eine Art Beweis für einsetzende Männlichkeit, nur eben hier sehr direkt formuliert und vielleicht, wenn man es wieder ungünstig bewertet, auch adressiert.

Aus heutiger Sicht und wenn man mit den vielfältigen Manipulationen vertraut ist, die in Filmen enthalten sind, kann man sich richtig schwertun mit der Einordnung. Ich glaube schon, dass man diese Welt der Gosse nicht so filmt, wenn man nicht Mitleid verspürt und dass Lamprecht sie nicht vor allem sensationsorientiert darstellen will. Mitleid ist christlich, das korrespondiert mit Lamprechts eigener Herkunft. Aber Mitleid ist, wenn man selbst in besserer Position verweilt, auch karitativ-hierarchisch, wenn es sich in milden Gaben manifestiert. Das Elend gerniert keinen Anspruch der Gesellschaft und der Politik gegenüber. An keiner Stelle des Films wird es politisch, und, ja, das kann man kritisieren und das muss man auch. Man kann es nicht so stehenlassen, wenn daraus nicht wenigste stellenweise der Hauch einer Anklage erwächst. Da waren gute amerikanische Filme, gerade Gefängnisfilme der 1930er und 1940er, viel eindeutiger. Sie prangerten an, wie das System hinter Gittern geführt wurde, was tatäschlich zu Reformen im Strafvollzug führte.

Aber kommt auch nur ein Mensch nach dem Anschauen von „Die Verrufenen“ auf die Idee, das System für einen Typ wie den Kleingauner, der wieder zum Kleingauner wird, verantwortlich zu machen? Vielleicht hat die gemäßigt fortschrittliche Kritik das damals herausdestilliert, dass man doch etwas gegen das Gezeigte tun müsse, Mutterwitz hin und vermeintliche Zille-Folklore her. Aber die Fallstricke hat man dabei übersehen, wie zum Beispiel diese äußert tolerante Haltung von Menschen, die privilegiert aufgewachsen sind. Die mag es natürlich geben und sie mögen auch so aussehen wie in diesem Film, aber da unten ja ein Stand gezeigt wird, können wir nicht sagen, da oben sehen wir zwei Individuen. Auch sie sind dann als typische Vertreter ihres Standes zu sehen, und das ist, mit Verlaub, schlichtweg eine verklärende Unwahrheit, die der Idee folgt, dass eben doch jeder Stand ein bestimmtes Verhaltensmuster hat, und je höher der Stand, desto mehr Edles darin.

Mir gefällt einiges an dem Film nicht, er ist nicht klar in seiner Aussage, zoomt immer an Personen heran, wo es nützlich für die Emotionalisierung des Publikums ist und geht wieder heraus, wo es der Illustrierung von etwas gilt, das ja doch zum Glück noch etwas schlimmer ist als die Verhältnisse, in denen das Publikum selbst im Allgemeinen lebt. Gerade der Hyperrealismus mancher Szenen hat durchaus diesen denunzierenden Charakter, den die linke Filmkritik damals dem Werk zuschrieb.

Filmisch ist er im Mittelfeld dessen, was ich bisher aus dem Weimarer Kino gesehen habe, bestenfalls. Er ist weg vom Expressionismus, weitgehend, das lässt ihn schlichter wirken als selbst noch ältere Kinostücke, er will ja auch das außen zeigen, nicht nur das Innere aufs Bild bringen. Das tut er aber trotzdem, mit den vielen Nahaufnahmen vom etwas geknitterten und durchs Fegefeuer des Knastes gegangenen Kramer, und da ist eben das Individuum, die Heraushebung, das epische Verweilen auf Linien, Ausdrücken, Blicken,  die wir lesen sollen, damit sie sich einprägen als Züge eines Menschen, der regeneiert wird. Auf diese Intensiv-Evens, die sich Gesichterbereisungen nennen könnten, wird nicht verzichtet, auch nicht  zugunsten der neuen Sachlichkeit.

Meine Sichtweise auf den Film, das möchte ich ungewöhnlich deutlich betonen, ist aber genau dies, eine Sichtweise. Deswegen gebe ich keine Strafabzüge für Armuts-Exploitation, sondern kritisiere vor allem, dass ich  mir mehr Eindeutigkeit und ein paar ungelenke Sprünge im Gefüge weniger gewünscht hätte.

68/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Gerhard Lamprecht
Drehbuch Gerhard Lamprecht
Luise Heilborn-Körbitz
Musik Giuseppe Becce
Kamera Karl Hasselmann
Besetzung

außerdem Rudolf del ZoppPaul GüntherRobert GarrisonRobert GraffMax MaximilianSylvia Torf

[1] Die Verrufenen – Wikipedia (Inklusive der Einleitung folgende Handlungsbeschreibung)

[2] Illona Brennicke / Joe Hembus, Klassiker des deutschen Stummfilms 1910-1930, 1983.

[3] Die Unehelichen – Wikipedia

[4] Die Verrufenen – Wikipedia

[5] Die Verrufenen – Wikipedia

[6] Die Verrufenen – Wikipedia

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