Palästina als Staat anerkennen? (Umfrage + Leitkommentar) | Briefing 537 | Geopolitik

Briefing 537 Geopolitik, Israel, Palästina, Anerkennung als Staat, Spanien, Irland, Norwegen, Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht, Terroranschlag vom 7. Oktober 2023, Bundesregierung, Wertepolitik, Staatsräson, deutsche Geschichte, Weltgemeinschaft, Machtpolitik, Grundgesetz

Wir hatten aufgrund der aktuellen Diskussion darüber, ob die Ukraine Ziele in Russland mit westlichen Waffen angreifen darf, spätestens für heute mit einer entsprechenden Civey-Umfrage gerechnet, aber erstmals, wenn wir richtig liegen, fragt Civey stattdessen zu Palästina. Dafür hat man wohl mehrere Tage Bedenkzeit gebraucht, denn die Ankündigung dreier EU-Länder, Palästina als Staat anzuerkennen, kam schon zur Wochenmitte. Heute also eine der wichtigsten Umfragen, die von dieser Seite jemals gestellt wurden.

Wichtig ist, zu beachten: 

Die Frage lautet, entgegen dem, was man aufgrund des übernommenen Titels oben vermuten könnte,  nicht, ob Deutschland Palästina als Staat anerkennen soll, sondern ob der Schritt von Spanien, Norwegen und Irland richtig war, es zu tun. Dieser Unterschied wird in  unserem Kommentar eine wichtige Rolle spielen.

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie die Entscheidung von Spanien, Norwegen und Irland, Palästina als Staat anzuerkennen? – Civey

Begleittext aus dem Civey-Newsletter:

Vergangene Woche kündigten die Regierungschefs Irlands, Norwegens und Spaniens an, Palästina als eigenständigen Staat anerkennen zu wollen. Der Schritt soll am 28. Mai effektiv werden. Die Anerkennung sei „Ausdruck einer uneingeschränkten Unterstützung für eine Zweistaatenlösung, des einzig glaubwürdigen Wegs zu Frieden und Sicherheit für Israel, Palästina und deren Völker“, erklärte der irische Premierminister Simon Harris laut der SZ

Der palästinensische Staat soll demnach die Gebiete des Gazastreifens und des Westjordanlandes umfassen. Palästinenser-Organisationen begrüßen die angekündigte Anerkennung. Israel und Palästina sollten „mit gegenseitigen Sicherheitsgarantien leben, so wie es andere Nationen mit verschiedenen Kulturen und Religionen in vielen Teilen der Welt tun“, zitiert das Handelsblatt den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez. Auch die USA prüfen derzeit, einen Staat Palästina – inklusive Sicherheitsgarantien für Israel – anzuerkennen, berichtete die Frankfurter Rundschau

Israels Regierung lehnt eine baldige Zweistaatenlösung ab. Regierungschef Benjamin Netanjahu besteht laut Frankfurter Rundschau darauf, dass Israel langfristig die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen sowie im Westjordanland haben müsse. Tobias Lindner (Grüne), Staatsminister im Auswärtigen Amt, sagte im rbb, dass Deutschland Palästina vorerst nicht als Staat anerkennen werde. Eine „symbolische Anerkennung als politisches Instrument“ führe nicht zur Verbesserung der Situation der Palästinenser:innen. Deutschland setze sich zwar für eine Zweistaatenlösung ein, aber nur unter der Bedingung, dass diese direkt von den Konfliktparteien ausgehandelt werde. 

Unser Kommentar in F & A

War es also von diesen drei EU-Staaten richtig, Palästina als Staat anzuerkennen?

Ich habe mit „eindeutig ja“ gestimmt. Vor allem Spanien, aber auch Irland sind innerhalb der EU starke Kritikerstimmen gegen das Vorgehen Israels im Gazastreifen, es war konsequent aus deren Sicht, diesen Schritt zu gehen. Norwegens Haltung hatte ich diesbezüglich nicht so auf dem Schirm, weil es kein EU-Land ist.

Gegenwärtig gibt es beinahe eine absolute Mehrheit (fast 49 Prozent) im Rahmen der Abstimmung, die genauso votiert haben.

Die Umfrage ist sehr frisch, da wird sich noch etwas verschieben, aber sicher nicht in die exakt umgekehrte Richtung. Mich wundern eher die knapp 25 Prozent, die strikt dagegen sind. Immerhin sind es jetzt etwa 140 Länder, die Palästina bereits anerkannt haben. Ich habe aber auch deswegen mit „eindeutig ja“ gestimmt, weil Spanien, Irland und Norwegen nicht Deutschland sind. Diese Länder dürfen objektiv sein, mehr oder weniger jedenfalls. Sie sind nicht durch ihre Vergangenheit belastet.

Wir würden also anders abstimmen, wenn es um die deutsche Anerkennung ginge?

Ehrlich geschrieben: Ich weiß es nicht. Ich würde sicher nicht dagegen, sondern im negativsten Fall aus plästinensischer Sicht mit Unentschieden.

Die Bundesregierung sagt, die Zweistaatenlösung sei weiterhin das Ziel, müsse aber von den Parteien selbst ausgehandelt werden, damit Deutschland Palästina anerkennen kann.

Wenn man es etwas zuspitzen will: Deutschland macht genau das, was die USA sagen und tun und es hat ein ähnliches Problem. In den USA ist es der massive Einfluss extrem konservativer pro-israelischer Gruppen, in Deutschland die angesprochene Vergangenheit, die Druck machen in Richtung Frieden in Zweistaatlichkeit verhindert. Allein diese Position Deutschlands sollte die deutsche Außenpolitik viel vorsichtiger machen in Sachen Werteorientierung, als sie es seit Annalena Baerbocks Antritt als Außenministerin ist. Deutschland ist kein Land, das frei mit Werten umgehen kann, das sieht man am Nahostkonflikt ganz deutlich.

Weil Solidarität Staatsräson ist, nicht aber die Menschenrechte?

Ich meine, die Menschenrechte müssen ab dem Punkt vorgehen, ab dem sie massiv verletzt werden. Dass die Hamas das zuerst getan hat, wenn man die Geschichte wirklich mit dem 7. Oktober 2023 beginnen lassen will, haben der IStGH und der IGH mittlerweile auch berücksichtigt. Sie haben keinen Unterschied zwischen den Menschenrechtsverletzungen auf der einen und auf der anderen Seite gemacht, und das ist richtig. Und der Anfang liegt nicht beim 7. Oktober, sondern viel weiter zurück.

Wo liegt der Anfang?

Wir müssen nicht bis zur Staatsgründung Israels zurückgehen. Seit 2008 gibt es keine Verhandlungen mehr über eine Zweistaatenlösung. Das ist das Werk der rechten israelischen Regierung. Sie hat außerdem die Stärkung der Hamas zulasten der Fatah zugelassen, quasi einen Hamas-Putsch toleriert, auch wegen des Westjordanlandes, in dem ungehindert gesiedelt wird. Die israelische Regierung will keine Zweistaatenlösung, das ist ganz offensichtlich.

Aber es bleibt der Terroranaschlag vom 7. Oktober als der barbarischste Akt gegen Israel in dessen Geschichte. Haben also die drei europäischen Länder, die jetzt Palästina anerkannt haben, nicht doch den Hamas-Terror prämiert, wie Netanjahu und andere es ausdrücken?

Das hätte ich so gesehen, wenn sie Palästina direkt nach dem 7. Oktober anerkannt hätten. Die drei Länder haben stattdessen mehr als ein halbes Jahr gewartet und jetzt der Tatsache Rechnung getragen, dass die Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen nicht aufhören. Dass wir mittlerweile ein Verhältnis bei den Todesfallzahlen von etwa 30:1 zulasten der Palästinenser haben, Ende vollkommen offen. Netanjahu legt nicht einmal ein Szenario vor, was nach der Beendigung des Krieges passieren soll.

Aber es bleibt: Ohne den 7. Oktober hätten die drei europäischen Länder Palästina nicht anerkannt.

Sicher steht das Ereignis am Anfang der Kausalkette. Wenn man sie eben mit dem 7. Oktober beginnen lässt. Mir geht eine Frage im Kopf herum, die eine der schwierigsten überhaupt ist, und die zu stellen geradezu gefährlich ist.

Die Frage?

Hätten die Palästinenser ohne den Anschlag vom 7. Oktober jemals wieder die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft für ihre Sache erlangt? Ich kann es nicht ändern, diese Frage kommt irgendwann. Und ich befürchte, diese Frage muss man mit „nein“ beantworten. Die Politik in Israel tendiert immer mehr nach rechts, amerikanische Initiativen, die als einzige Erfolg haben können, weil nur die USA überhaupt einen realen Einfluss auf Israel haben, gibt es nicht mehr, auch arabische Länder haben sich simpel aus ökonomischen Gründen schrittweise aus der Solidarität mit den Palästinensern verabschiedet. Ausgerechnet das Mullah-Regime im Iran hat das nicht getan. Das ist schwierig, aber auch die Schuld der arabischen Regierungen. Nicht der Menschen, keine dieser Regierungen ist frei gewählt. Die Hamas hat verhindert, dass diese Regierungen sich jetzt allzu offen gegen die Bevölkerung in diesen Ländern stellen. Oder eine Art Moratorium erwirkt, denn langfristig wird diese Tendenz sich fortsetzen.

Gibt es überhaupt eine gerechte Lösung für die Palästinenser?

Nein.

Niemals?

Man soll niemals nie sagen, aber nicht unter den jetzigen geopolitischen Bedingungen, und die sehe ich als verfestigt, verkrustet und festgefahren an. Vor allem müsste in Israel eine politische Wende stattfinden, dafür gibt es aber überhaupt keine Anzeichen. Selbst, wenn Netanjahu geht, gehen muss, was immer, seine Regierungspartner sind ja noch rechter, was ihn selbst natürlich auch unter Druck setzt, wenn er politisch überleben will.

Das heißt, dass im Gazastreifen Zehntausende dem politischen Überleben von Benjamin Netanjahu geopfert werden?

Das heißt vor allem, ich sehe nicht, dass Israel, wer immer dort regieren wird, sich entradikalisieren wird. Im Gegenteil. Einigen ist der Anschlag vom 7. Oktober sehr zupass gekommen, sie können ihre Agenda jetzt leichter umsetzen. Und die lautet, schrittweise das Westjordanland völkerrechtswidrig weiter zu besetzen und den Gazastreifen dermaßen zu zerstören, dass er unbewohnbar für die Palästinenser wird. Einzelne sind noch ungeduldiger und würden am liebsten eine Atombombe werfen. [1]

Der angesprochen Politiker ist nicht „aus der ersten Reihe“.

Allein es zu sagen, müsste umgehend dazu führen, dass er aus jedwedem Amt entlassen wird. Dass das nicht passiert, zeigt, wie weit rechts der Diskurs in diesem Land ist. Da regieren Leute mit, die in Deutschland nicht politisch tätig werden dürften, weil sie klar gegen die Verfassungswerte des Grundgesetzes agitieren würden.

75 Jahre Grundgesetz und die Gefahr für die Demokratie sind also nicht nur ein innenpolitisches Thema.

Wenn Deutschland nach außen nicht vertreten darf, was im Inneren gefordert wird, tut sich ein weiterer Gap bei der ohnehin rissigen Verfassungswirklichkeit auf. Es gibt zwar meines Wissens keine Eins-zu-Eins-Bindung der Außenpolitik an alle Maßgaben des Grundgesetzes, aber die aktuelle Regierung hat sich ja auf die Fahnenn geschrieben, das Grundgesetz auch mehr nach außen zu tragen.

Gerade der erwähnte Gap ist aber nicht neu.

Richtig, „weiterer“ ist bezüglich seiner Genese chronologisch falsch. Ich fände es sogar gut, wenn man ihn schließen könnte, aber ist es auch realistisch? Er wird sogar mehr sichtbar, seit die jetzige Bundesregierung sich zur Hüterin der Weltwerte erklärt hat. Die offensichtlichen Mehrfachstandards sind aktuell nicht zu beseitigen, weil sie geopolitisch-strukturell bedingt sind, wer etwas anderes behauptet, lügt oder ist grottennaiv. Aber die Propaganda, es sei anders, ist auch im Inneren demokratieschädigend. Sie beschädigt die Glaubwürdigkeit der Politik nach innen, weil sie sich verteigt, anstatt ehrlicher wird, und die Stellung Deutschlands als Stimme der Mäßigung und des Friedens nach außen auch mit jenen, die andere Werte haben.

Wie verhält sich die neue Staatsräson Deutschlands dazu?

Ich halte die Art, wie bei uns mit dem Begriff Staatsräson umgesprungen wird, für absolut unterkomplex, vor allem bei Kanzler Scholz wundert mich das. Eine Staatsräson, die darauf basiert, alles  zu tolerieren, was eine israelische Regierung tut und jemals tun wird, solange sie behauptet, sie verteidige damit die zur Staatsräson Deutschlands erhobene Existenz Israels, ist gegen Deutschland selbst gerichtet. Der Expansion des Begriffs Selbstverteidigung sind überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt. 

Wir müssen ja schon hinnehmen, dass die Bundesregierung nicht äquivalent handelt, wir verstehen das bis zu einem gewissen Grad aus den historischen Bedingungen heraus, aber implizit einen Mangel an Berücksichtigung von Menschenrechten zur Staatsräson zu erklären, ist untragbar für eine Demokratie, trotz gewisser außenpolitischer Freiheiten.

Und eine solche Verabsolutierung und Entgrenzung fördert Antisemitismus, weil der Solidaritätszwang über alles andere gesetzt wird, was aus dem Holocaust zu lernen ist. Es gibt kein Entkommen aus der Menschenrechtsfalle, wenn man diese absolute Solidarität von  uns allen fordert. Wenn man außerdem dem Narrativ folgt, Kritik an der aktuellen israelischen Regierungspraxis sei mit  Antisemitismus gleichzusetzen, und es wird ja heftig daran geschraubt, diese Gleichsetzung zu erreichen, wird das die Situation nicht befrieden, sondern anheizen. Weil es darum geht, die Meinungsfreiheit weit über das bisherige Maß hinaus einzuschränken und weil es einfach falsch ist, in einem gemäß Verfassung an Menschenrechten orientierten Land den Einsatz für Menschenrechte verbieten zu wollen. Das fördert Erzählungen, von denen wir gehofft haben, sie kämen nie wieder zum Vorschein. 

Über die Holocaustleugnung und die Tatsache, dass Israels Existenz nicht infrage gestellt werden darf, geht also der Solidaritätszwang weit hinaus. 

Solidarität zu erzwingen, gegen jede Humanität, das kann nicht gutgehen. Es kann nur gutgehen, wenn man eine Gesellschaft entdemokratisiert. Dann geht es gut für die Mächtigen.

Ich würde selbst dann nicht sagen, Israel hat sein Existenzrecht verwirkt, wenn es so weiter handelt wie bisher oder den Gazastreifen komplett entvölkert. Aber kritisieren dürfen möchte ich das, was dort an  humanitären Katastrophen passiert.

Aber die Bundesregierung kann darauf nicht in Form der Anerkennung  Palästinas als Staat reagieren, wegen der  hiesigen Staatsräson?

Ich gehe nicht einmal so weit, mich im Moment klar dafür auszusprechen, dass auch die Bundesregierung Palästina anerkennen soll, obwohl Israels Politik seit vielen Jahren eine Zweistaatenlösung verhindert und die Anerkennung eine gerechte Reaktion darauf sein könnte. Das ist eine Form von Wohlwollen, das zu Einseitigkeit geradezu verpflichtet, das geht schon sehr weit, mich so zu verpflichten, würde ich keinem anderen Staat auf der Welt als Maßgabe in Bezug auf die Handhabe deutscher Politik  zubilligen, aber hier tue ich es, unter Berücksichtigung der Vergangenheit und am Ende einer Abwägung mit der unangenehmen Erkenngnis, die Lehren daraus nicht sehr konsequent zu befolgen. Nirgends sonst, weder innen- noch außenpolitisch würde ich einen solchen Kompromiss eingehen. Ich muss eine Sonderposition einrichten, die mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Russland in Bezug auf die Ukraine gegenüber richte ich die aber nicht ein, trotz des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941. Ich kann diese Ungleichheit nur lösen, indem ich sage: Ich denke ethisch im Wesentlichen immer gleich, stelle aber im Sonderfall des deutsch-israelischen Verhältnisses die Ethik ein Stück weiter zurück als in jedem anderen Fall, auch gegenüber Ländern, in deutsche Kriegsverbrechen geschehen sind. 

Und dieses wirklich große Wohlwollen Israel gegenüber, das notabene auch eine rechte israelische Politik umschließt, die ich in Deutschland nie wählen würde, wenn es hier ähnlich tendierende Parteien gäbe, wird leider durch die aktuelle Lage in Gaza und im Grunde auch im Westjordanland jeden Tag auf die Probe gestellt. Und natürlich bin ich nicht selten aufgebracht. Deshalb gibt es auch eine Ternnung, auf die wir noch kommen werden. Zwischen Ethik und politischer Empfehlung.

Dabei vergessen wir jetzt aber nicht den Terror vom 7. Oktober.

Von mir aus können wir ihn noch zehn Mal erwähnen, ich gehe jedes Mal mit, aber der Verurteilung des Terrors hat mit nicht davon entbunden, nun doch erstmals in dieser Publikation die heikle Frage zu stellen, die wir oben schon behandelt haben. Und wir drehen uns jetzt nicht im Kreis, indem wir die Geschichte immer erst mit dem 7. Oktober beginnen lassen. Natürlich war der Terror kein zulässiges Mittel zum Zweck, das haben die Gerichtshöfe, die sich  mit der Lage befassen auch klargestellt. Deswegen habe ich mich nur auf die Fakten bezogen und sie so eingeschätzt, dass Palästina nie wieder auf die internationale Agenda gekommen wäre, hätte es diesen Anschlag nicht gegeben. Leider impliziert das, dass man das, was gerade geschieht, auch der letzte Aufschrei war.

Das klingt, als sei der Untergang das Gazastreifens als kleine Heimstatt der Palästinenser absehbar.

Jedenfalls ist nicht absehbar, dass sie ihren eigenen Staat bekommen werden, und das lästt ihre Möglichkeiten immer weiter erodieren und führt zu einer Radikalisierung, die dann wieder mit Übermaßvergeltung beantwortet werden kann. Eine ganze Generation ist dort jetzt schon aufgewachsen, ohne dass in ihrem Leben jemals über die Zweitstaatenlösung ernsthaft verhandelt worden wäre. Lippenbekenntnisse, Rituale, ein bisschen Gewissen durch Finanzhilfe beruhigen, anstatt Selbstbestimmung einfordern, das war alles, womit westliche Politik in dieser langen Zeit zugange war.

Kann es überhaupt Gerechtigkeit geben?

Die Weltgeschichte ist in vieler Hinsicht nicht gerecht. Sie war es in besonderem Maße nicht den Juden in Europa gegenüber während der Nazizeit, sie war es zuvor und seitdem bei vielen Konflikten nicht, sie ist es jetzt nicht. Es gibt mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit in der Geschichte. Man könnte sagen, warum sollte Israels Regierung nun ausgerechnet von diesem Verfahren abweichen? Sollte man es so sehen?

Das ist machiavellistisch.

Das ist es und so verhalten sich die Mächtigen in der Regel auch. Ein weiterer Grund, warum die sogenannte Wertepolitik ein Eigentor für Deutschland geworden ist, in dieser von hinten aufgezogenen, unbedarften und schädlichen Art, wie sie von Annalena Baerbock vorgetragen wird.

Die Fackel der Freiheit als Aufgabe in der internationalen Politik?

Nicht für Palästina, oder? Selbst Länder, die im Inneren formal vollkommen demokratisch und weitgehend frei sind, können nach außen ganz und gar machiavellistisch handeln. Das tun vor allem diejenigen, die Geopolitik betreiben können, die anderen würden es tun, wenn sie in der Lage dazu wären, wenn sie – sic! – genug Macht dazu hätten. Ich plädiere dafür, dass wir Gerechtigkeit und Menschenrechte ganz rauslassen, dann wird das Leben viel einfacher.

Und was ist mit Demokratie und Rechtsstaate? Siehe oben, Rückwirkung der Außenpolitik auf die Innenpolitik.

Das war sarkastisch gemeint, wenn auch nicht vollkommen unernst, angesichts der Lage. Wir müssen weiter dafür kämpfen oder zumindest darauf bestehen, dass nicht alles, was Menschenwürde und Menschenrechte ausmacht, immer weiter den Bach runtergeht. Der Nahostkonflikt ist dafür ein Prüfstein, einerseits. Es muss weiter möglich sein, in diesem Kontext über Menschenrechte zu sprechen. 

Andererseits haben wir nicht die Möglichkeit, ihn zu beeinflussen. Und damit komme ich zu der oben angedeuteten Trennung von Ethik und politischer Empfehlung.

Ich meine, die Bundesregierung soll sich nicht durch offensive Schritte, wie die Anerkennung Palästinas zum jetzigen Zeitpunkt, sondern durch mehr Dezenz bei ihrer Außenpolitik im Ganzen auszeichnen. Wir müssen anerkennen, dass wir über keine Handhabe verfügen, Menschenrechtsverletzungen ohne Ansehen der verletzenden Partei verurteilen ohne Konsequenzen zu fordern, die wir nicht mit herbeiführen können. Aber um uns und unser Gewissen zu erleichtern, auszudrücken, dass wir sehen, was geschieht und es nicht gutheißen, dafür ist es wichtig, Meinungsfreiheit ist zuzulassen, soweit möglich, ohne dass das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, aber nicht soweit, wie irgendwelche besonders rigide veranlagten Politiker und Exekutivbeamte es für opportun halte und im persönlichen Gespräch und hier immer daran orientiert, dass Menschen ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Es gibt ja auch eine Wirkung von innen nach außen. Je rissiger sich die Demokratie hier zeigt, desto eher werden wir bereit sein, Menschenrechtsverletzungen anderswo einfach hinzunehmen oder vollkommen einseitig damit umgehen, weil wir nur ein Sympathie-Antipathie-Denken, aber keinen Wertekompass mehr haben. Dann wird immer mehr gehetzt, es wird immer brutaler geredet und niemand ist mehr wirklich an Menschenrechten interessiert. Die Tendenzen dahin gibt es. Sie haben sich aus einem rigiden ideologischen Spektrum heraus auf den Weg „in die Mitte der Gesellschaft“ begeben.

Um es auf den Kern zurückzuführen. Wir würden also gegenwärtig eine Anerkennung Palästinas durch die Bundesregierung nicht befürworten?

Emotional und ethisch würde ich sie sehr wohl befürworten. Wenn ich alle Faktoren, die deutsche Politik beeinflussen, zusammenrechne, ob sie mir gefallen oder nicht, müsste ich als Ratgeber, nicht als Privatmensch, sagen: Vorsicht damit. Mindestens ein „aber“ hinter ein Ja setzen, das „aber“ wären bestimmte Voraussetzungen, die ich gegenwärtig für nicht gegeben halte, wie zum Beispiel, dass wirklich ein Lösungsprozess wieder angestoßen wird. Ich würde aber nicht rigide nein sagen und damit so grausam zu sein wie diejenigen, die diesem gebeutelten Volk gar keine Perspektive geben wollen. Das würde ich nicht tun, aber wenn ich sozusagen in den Schuhen deutscher Politik gehe, kann ich auch hier und jetzt nicht eindeutig ja sagen.

Auch wenn es beim Standing in vielen Ländern ein Riesenschritt nach vorne wäre?

Der globale Süden und alle anderen haben den Anspruch, dass wir viel fairer mit ihnen umgehen als bisher. Es gehört aber auch zur Fairness, uns zuzubilligen, dass wir weniger kolonialen Dreck am Stecken haben, um es so auszudrücken, als viele andere, aber dafür die Shoah. Das schafft nun einmal eine andere Ausgangslage. Es bestimmt die Gewichtung der hiesigen Politik. Gerade deshalb: Für die Konsequenzen daraus muss die Außenpolitik Deutschlands werben, anstatt anderen moralische Vorträge zu halten und sich einzubilden, man sei frei genug, alles und jeden markieren zu dürfen, obwohl klar ist, dass das in bestimmten Fällen eben nicht geht. Mich regt diese Verstiegenheit und der Mangel an Kohärenz und Sensibilität der aktuellen deutschen Politik jeden Tag auf. Auf der einen Seite wird eine mehr als fragwürdige Schein-Staatsräson einfach mal proklamiert, also ob sie eine Vereinssatzung wäre, aber beinhaltet, dass man die Menschenrechte außenpolitisch außen vor lässt, die im Inneren grundgesetzlich verbürgt sind, auf der anderen Seite wird anderen gepredigt, sie halten sich nicht genug an Menschenrechte. Es verursacht in mir eine Ärger, das jeden Tag mitansehen zu müssen, den ich hier nicht in adäquate Worte fassen werde, weil es um ein so schwieriges und trauriges Thema geht. Wir werden aber durch diese Politik alle ethisch korrumpiert, weil wir sie uns gewählt haben.

Wenn wir sie gewählt haben.

Ich habe sie nicht gewählt, aber ich muss akzeptieren, dass eine Mehrheit es getan hat, im Herbst 2021. Ich kann in innenpolitischen Artikeln dafür werben, dass sich etwas ändert, ich kann auch den Wähler:innen der Ampel zubilligen, dass sie damals nicht wissen konnten, was jetzt alles auf dem Tisch liegt, kann mich in jeden hineinzuversetzen versuchen, auch in die Regierung selbst, wobei mir das bei Habeck und Baerbock wohl nie wirklich gelingen wird. Die Denkstrukturen dieser Leute weichen zu sehr von meinen ab, da geht es also nicht nur um Ansichten. Gut, dass meine Haare weniger werden, da wird das Raufen leichter.

Hat aber auch nicht mehr diese befreiend griffige Wirkung.

Guter Einwand. Und vielleicht muss man sogar bei dem Thema mal kurz aus der Traurigkeit und Frustration heraus. Ich meine zusammenfassend, die drei  europäischen Länder, die Palästina als Staat anerkannt haben, haben aus ihrer Position heraus richtig gehandelt und die Anerkennung Palästinas als Staat ist keine Belohnung für das Terror-Massaker vom 7. Oktober 2023. Doch ich bin der Ansicht, in Deutschland muss über einen solchen Schritt wirklich intensiv nachgedacht werden. Ich sehe im Moment die Voraussetzungen dafür nicht als eindeutig gegeben an.

Als Mensche und Freund der Menschenrechte finde ich das ganz schlimm, politisch müssen wir aufpassen, dass die Schäden nicht immer größer werden. Und Applaus von vielen ist schön, würde ich mir auch wünschen, aber diese vielen haben nicht unsere Geschichte, die ein anderes Abwägen erfordert. Und noch etwas: Die sich da so exponieren, sind oft selbst nicht gerade Vorbilder in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Schauen wir uns mal die Weltkarte von Freiheit und Demokratie an. Der globale Süden hat, von einigen Ausnahmen abgesehen, alles andere als gut performt, die Menschenrechte betreffend, da ist vieles nicht besser geworden, seit die Europäer dort nicht mehr das Sagen haben. Klar, man kann jetzt wieder argumentieren, die alten Strukturen wirken fort, nicht jeder kriegt eine Demokratie gratis, wie die Deutschen mit dem Grundgesetz, aber es geht um das Verhalten sehr fordernd gewordenen Regierungen gegenüber, nicht darum, die Bevölkerung zu kritisieren, wenn sie eh nicht frei wählen darf.

Was ich unserer Politik empfehle, gilt auch für die anderer Länder: Erstmal gucken, wieviel Dreck vor der eigenen Haustür herumliegt, bevor man andere auf den ihren hinweist. Das anzusprechen, wenn Deutschland moralisch an den Pranger gestellt wird, wäre eine Form der Wertepolitik, die ich auch unterstützen würde. Weil sie reaktiv wäre, nicht arrogant von oben herab. Da könnte der eine oder andere Whataboutismus angebracht sein.

Ist das nicht unrealistisch?

Die Machthaber wissen genau, wer sie wirklich sind. Es kommt darauf an, wie man auf diese Tatsache abhebt. Dafür fehlt es derzeit aber an außenpolitischer Kapazität, da den richtigen Ton anzuschlagen. Wir werden noch viele Gelegenheiten haben, das zu besprechen. Ich hoffe, wir haben heute wieder ein paar Aspekte aufzeigen können, die im Wahlberliner bisher so nicht erwähnt wurden.

Antwort auf die Frage der Wirkung der Angriffe vom 7. Oktober als letzte Möglichkeit, sich noch einmal in der Weltöffentlichkeit bemerkbar zu machen, hallt nach. Das ist keine leichte Kost. In der Tat muss das weiter diskutiert werden.

Diese Antwort hat zu einer interessanten Assoziationskette geführt, aber einfach zu verdauen wird sie dadurch nicht. Für heute schließen wir das Thema und halten fest: Die Anerkennung Palästinas durch Spanien, Irland und Norwegen war richtig. Wenn man auch politisch denkt, kann man der Bundesregierung aber nicht empfehlen, ohne weitere Voraussetzungen ebenso zu handeln.

TH

[1] Der israelische Minister für Kulturerbe, Amichai Elijahu, äußerte in einem Radiointerview die Möglichkeit, eine Atombombe auf den Gazastreifen zu werfen, als eine der Optionen1Allerdings distanzierte sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deutlich von diesen Äußerungen und betonte, dass sie “keine Basis in der Realität” hätten1Es ist wichtig zu beachten, dass Elijahu weder Teil des israelischen Sicherheitskabinetts noch des Kriegskabinetts um Netanjahu ist und nicht als einflussreich gilt1.

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