Blue Velvet – Verbotene Blicke (Blue Velvet, USA 1986) #Filmfest 1103 #Top250

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Blue Velvet (englisch für ‚Blauer Samt‘; Alternativtitel: Blue Velvet – Verbotene Blicke) ist ein US-amerikanischer surrealistischer Thriller aus dem Jahr 1986. Regie führte David Lynch, der auch das Drehbuch verfasste. Erzählt wird die Geschichte des Collegestudenten Jeffrey Beaumont, der unter die Oberfläche einer idyllischen amerikanischen Kleinstadt geführt und dort mit Gewalt, Korruption und sadomasochistischen Sexualpraktiken konfrontiert wird.

Nach „Mulholland Drive“ und „Dune“ ist „Blue Velvet“ der dritte Film von David Lynch, über den ich eine Rezension schreibe. Er hat ja gar nicht so viele Filme gemacht und tolle Erfolge und Flops wechselten einander ab, ein richtiger Künstler und Autorenfilmer. Zu „Blue Velvet“ gab es vor mehr als fünf Jahren schon eine Empfehlungsrezension, wobei der Entwurf des vorliegenden Textes noch einmal älter ist. Wir haben eben ein kompliziertes Veröffentlichungsschema. Ist „Blue Velvet“ auch kompliziert, vielschichtig, voller Anspielungen, Verweise und Subtext, wie bei Lynch üblich? Darüber steht mehr in der Rezension.

Handlung (1)

Weil sein Vater eine Wirbelkörperfraktur erlitten hat, lässt sich der junge Jeffrey Beaumont für einige Wochen vom College beurlauben und kehrt in seinen Heimatort zurück, die friedliche Kleinstadt Lumberton. Blumen blühen vor strahlend weißen Gartenzäunen, der Feuerwehrmann winkt fröhlich im Vorüberfahren.

Auf dem Rückweg vom Krankenhaus findet der Student auf einer Wiese ein abgeschnittenes menschliches Ohr. Er übergibt es bei der örtlichen Polizei an Detective John Williams. Dieser möchte ihm wegen der noch laufenden Ermittlungen nichts über den Stand der Erkenntnisse verraten und bittet ihn, über die Angelegenheit zu schweigen. Jeffrey beschließt daraufhin aus jugendlicher Neugier, dem Fall auf eigene Faust nachzugehen.

Sandy, die Tochter von John Williams, bringt ihn auf die Spur der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens. Jeffrey verkleidet sich als Kammerjäger und verschafft sich auf diese Weise Zutritt zu deren Wohnung. Während Dorothy von einem Mann in einem gelben Sakko abgelenkt wird, stiehlt er ihren Wohnungsschlüssel.

Er dringt mit dem Schlüssel in ihre Wohnung ein und versteckt sich, als Dorothy unerwartet zurückkehrt, im Wandschrank. Sie entdeckt ihn und will mit ihm schlafen, treibt ihn jedoch wieder zurück in den Wandschrank, als es an der Tür klopft. Im Schrank wird er Zeuge, wie Frank Booth an Dorothy ein sexualisiertes Ritual vollzieht, und erfährt, dass Frank Dorothys Ehemann und Kind entführt hat und gefangen hält. Das Ohr, das Jeffrey gefunden hat, stammt von Dorothys Mann.

Jeffrey beschließt, mehr über die Entführer von Dorothys Familie herauszufinden. Er beschattet Frank und dessen Handlanger und macht Fotos von ihnen. Auch der Mann mit dem gelben Sakko taucht wieder auf. In der Nähe geschieht ein Mord an einem Drogendealer, an dem Franks Komplizen schuld zu sein scheinen. Jeffrey geht zu Dorothy und schläft mit ihr; sie erweist sich als masochistisch veranlagt. Als er zur Tür hinaustritt, trifft er auf Frank und seine Begleiter. Sie zwingen ihn und Dorothy, in ihr Auto zu steigen. Sie kommen an einem Etablissement vorbei, wo im Nebenraum Dorothy offenbar ihren entführten Sohn kurz besucht. Frank und seine ebenso unberechenbaren Kameraden schüchtern die beiden vollkommen ein. Am Ende der Fahrt schlägt Frank Jeffrey zusammen und lässt ihn irgendwo außerhalb von Lumberton liegen.

Als Jeffrey am folgenden Tag erwacht, geht er zu Sandys Vater, dem Polizisten, um ihm von seinen Erlebnissen zu berichten und ihm die Fotos von Frank und seinen Männern zu zeigen. Der Mann, der stets ein gelbes Jackett trägt, entpuppt sich als ein Kollege des Polizeiinspektors. (…)

Rezension

Und David Lynch ist ein bildender Künstler, ein Maler  auf der Kinoleinwand. Dass er  von der Malerei kommt, merkt man seinen Filmen an. Mittlerweile ist es nicht mehr so einfach, optisch der Zeit voraus zu sein, aber bei „Dune“ und „Blue Velvet“ war das deutlich.

Es ist ein wunderbares Gleichnis über das Böse, das sozusagen Graswurzelcharakter hat und trotz der Gewalt in dem Film, die in eine mittlere Großstadt einbricht, in die Vorgartenidylle, in das Leben eines ganz normalen Jungen wie Jeffrey, der von Kyle MacLachlan wunderbar verkörpert wird, gerade wegen seiner Rolle, der von Laura Dern und auch dem Bösewicht, dem psychopathishen, den Dennis Hopper gibt, hat der Film eine ganz eigenartige Atmosphäre, einen Grundton, der auf mich wirkte, als könne nie wirklich etwas Schlimmes geschehen. Zumindest nicht dem Helden. Zwischenzeitlich hatte ich vermutet, Lynch würde es etwa weiter ins Gemeine treiben und Sandys Vater, Mr. Williams, wäre Teil des Polizeikomplotts mit den Drogendealern, aber das Eigenartige und auch Besondere ist, die Kleinstadtidylle wird nicht komplett zerbrochen.

Deswegen fällt es mir auch schwer, den Film als Film noir zu apostrophieren, eine Zuschreibung, die ja so viele Werke erhalten, die im Grunde mehrere Kriterien nicht erfüllen. Es ist ein Thriller, der in der Spannung immer das Grundvertrauen des Zuschauers in den guten Ausgang der Geschehnisse für Jeffrey bestehen lässt, denn wer kann schon einem Film noir gemäß den Tod finden, der im Eisenwarenladen seines Vaters jobbt? Der wirkt, wie die ganze Vorgartenszenerie in der Wohngegend von Jeffrey, ein wenig unterdimensioniert und zu ländlich für Lumberton, in dem alle naslang ein Holztransporter durchs Bild fährt und das doch eine Art mittlere Großstadt mit mindestens siebenstöckigen Appartmenthäusern zu sein scheint, in der sich auch eine Drogenszene herausbilden kann.

Selbstverständlich haben aber auch diese Mittelmetropolen ihre ruhigen Mittelstandsvorstädte. Um die zu illustrieren, hat Lynch auf Elemente der damals sehr populären Higschool-Filme zurückgegriffen, aktiviert damit das kollektive Bewusstsein der Menschen in jener Zeit, aber setzt sie in Kontrast zur unheimlichen, geradezu dunkelroten Handlung im Appartement und spielt die Kleinstadtversatzstücke dem  Zuschauer vor allem zu, um eben diesen Kontrast immer am Leben zu erhalten. Dabei unterlaufen ihm ein paar Dinge, von denen man ohne das Lesen von Sekundärliteratur über ihn kaum wissen kann, ob sie beabsichtigt sind oder nicht, die unlogisch wirken, aber durchaus sinnvoll sein können, um die Mentalität der im Grunde lieben und einfachen Menschen wie Sandy zu erläutern. Wenn sie zum Beispiel nicht will, dass Jeffreys Auto vor ihrem Elternhaus nicht gesehen wird, warum lässt sie ihn nicht etwas früher stoppen und steigt aus?

Ich glaube aber, das liegt auf einer tieferen Ebene, in der typische Sprüche und das nicht immer schlüssige Handeln von Personen sich aus typischen kleinen Mängeln erklären und nicht rational-optimaler Alltagsgestaltung unterliegen. Wie Jeffrey und Sandy ein Team werden, das ist wunderbar und trägt erheblich zu dem Gefühl bei, dass alles gut wird, was am Ende ja auch mit wundervoller Ironie betont wird. Dafür wird die eine oder andere Anfangsszene wiederholt, nachdem sich der Krater, der menschliche Abgrund, geschlossen hat, nachdem der böse Frank tot ist. Dass ein Jugendlicher ihn zur Strecke gebracht hat, fast, aber nicht ganz in Notwehr, das erleben wir als normal und folgerichtig. Dabei ist es nicht normal, wie Jeffrey sich verhält und die Gefahr sucht, über die normale Neugier hinaus, die in jedem von uns steckt, wie er dabei eine Affäre eingeht, die auch sein eigenes Gewaltpotenzial offenlegt und seinerseits von Sandy eine Ohrfeige erhält. Das ist skurril und ein wenig surrealistisch in der Art der Gestaltung, aber verdichtet im Grunde nur unsere verschiedenen Eigenschaften, bringt die Unholde und die braven Bürger näher zusammen.

Von David Lynchs Filmen wird gerne gesagt, sie folgen nicht den klassischen Handlungsmustern der Hollywood-Produktionen. In „Blue Velvet“ ironisiert Lynch diese zwar, aber er hält sie gerade dadurch perfekt ein. Der Film hat eine klassische Dramaturgie mit dem Höhepunkt in Dorothys Appartement. Die vermutlich „Dorothy“ heißt, um der Figur aus „The Wizard of Oz“ zu huldigen, der sie in gewisser Weise ein wenig nachgestaltet wurde und  um auch hier einen Bruch einzufügen. Gewalt gab es in dem Märchenmusical auch, aber hier, in einer späteren, zynischen Welt, greift sie sexuell auf Dorothy über, die trotzdem nicht ganz wirkt wie eine erwachsene Frau, auch wenn man ihr Verhalten, ihre Ergebenheit, faktisch damit erklärt, dass ihr Sohn und ihr Mann vom bösen Frank entführt wurden und sie deshalb tun muss, was er will.

Natürlich geht nichts ohne den Titel. „Blue Velvet“ ist einer jener Songs der 1950er, die das Bild vom poppigen, bunten und wundervollen Familien-Amerika jener Zeit prägten und der hier im Original und in einer modernen, dramatisiert-melancholischen, erfahreneren Fassung von Dorothy zu hören ist, Dorothy trägt auch in einer Szene ein Kleid aus blauem Samt, wie es sich für einen Film gehört, der „Blue Velvet“ heißt. Bei genauerem Hinschauen ist das Lied von 1950, Mitte der 1950er unter anderem vom damaligen Teenie-Star Tony Bennett gesungen, eines der ersten, in dem Sex in so einem Teenie-Song etwas offener thematisiert wird. Interessanterweise wurde es mehrmals interpretiert, bis es 1964 in der im Film zu hörenden Stereo-Version von Bobby Vinton zu einem großen Hit wurde – zu einer Zeit, als seine sexuellen Andeutungen schon soft wirkten. Die Version von 1964 war es auch, die David Lynch auf die Idee zum Film brachten.

Da gibt es Lustseufzer in der Nacht, nicht mehr nur idealistische oder platonisch wirkende Liebe. Auch die insgesamt konservativen 1950er hatten ihre Dynamik, die sich  u. a. im Aufkommen des Rock’n Roll ausdrückte, aber auch durch anspruchsvollere Filme, 1964  war eine Zeit, die nicht nur gewalttätiger war, sondern in der die Tabus reihenweise fielen. Auch Jeffrey wandelt sich im Lauf der Handlung, nachdem sein Vater einen Gartenunfall hat und er dessen Rolle einnimmt, nachdem er in die Welt der Sängerin eingedrungen ist, in sie selbst und sie körperlich misshandelt hat. Man hat dem Film wegen dieses Handlungselements unterlegt, dass hier ein Ödipus-Komplex dargestellt wird oder gar ein Tagtraum von  Jeffrey die Binnenhandlung bildet, aber schon die Fehlfunktion des Gartenschlauchs mit schwerwiegenden Folgen ist ein erstes komisches Element. Auch dies zeichnet „Blue Velvet“ aus: Selbst über Frank konnte ich wirklich lachen, weil er so schräg ist  Mag sein, dass die Zuschauer 1986 das noch nicht so konnten, der Film löste ja eine Kontroverse wegen der Darstellung von Dorothy und Frank und Jeffreys Schlägen aus, die Dorothy offenbar genießt. Diese Momente sind auch heute noch verwirrend, zumindest der jeweils erste von ihnen, in denen sich das Gewaltpotenzial der Männer offenbart. Doch sie werden sehr virtuos abgemildert durch die vielen witzigen Momente des Films, an denen Franks überzeichnete Figur einen großen Anteil hat, wenn nicht den hauptsächlichen.

Auch deshalb tue ich  mich mit der Einordung von „Blue Velvet“ als Film noir schwer, nicht nur wegen des honigsüßen Endes, mag es auch einen zynischen Unterton haben. Nicht jeder Film, in dem es ein Verbrechen und einen Verbrecher gibt, ist ein Film noir; dazu gehört auch die düstere Stimmung, die Blue Velvet bei weitem nicht durchgängig hat, gehört eben ein wirklich bedrohliches Szenario für die Hauptfigur, wenn nicht deren Tod; hingegen hat mich „Blue Velvet“ eher an Hitchcocks Filme erinnert, in denen ein Alltagsheld mit dem Verbrechen in Kontakt kommt und anfängt, Fähigkeiten zu entwicklen, die einem Alltagsmenschen fremd sind, selbst, wenn er durch die Situation über sich hinauswächst. Dieses Handeln auf eigene Faust an einer unfähigen oder korrupten Polizei vorbei oder vergeblich versuchend, diese einzubeziehen, ist typisch für einige Filme des Altmeisters, und diese werden ausnahmslos nicht als Films noirs apostrophiert.

Ich gebe allerdings zu, dass ich mich seit der intensiveren Befassung mit dem Genre mehr und mehr restriktiv verhalte, wenn ein Film ihm untergeordnet werden soll, weil diese Staubsaugermethode der Genre-Klassifizierung Kriterien wie die Vorherbestimmung, das Schicksalhafte, das diesen Filmen eignet, die subjektive Sicht, die Konstruktion von einem verfahrenen Punkt der Geschichte aus rückwärts und ähnliche Merkmale außer Acht lässt. Die Femme fatale gibt es gewissermaßen, und sie muss nicht selbst böse sein, hier schillert sie sogar dadurch, dass sie offenbar Sadomaso-Praktiken schätzt, aber als Mensch wirkt sie naiv und ein wenig wie die Dorothy aus dem Zauberer-Film, am Ende wie von allem, was geschehen ist, unberührt mit ihrem freigelassenen Sohn auf einer Parkbank sitzend.

Finale

Vor einigen Jahren habe ich „Blue Velvet“ schon einmal gesehen, aber damals noch nicht über Filme geschrieben und fand ihn damals schon faszinierend. Von dieser Faszination hat er nichts verloren, aber das Grauen im weinroten Schlund der Gewalt und des gewaltvollen Sexes, Dorothys Appartment hinter  dunklen Fluren, nur über viele Treppen zu erreichen, da der Lift außer Betrieb ist, hat sich relativiert und die komischen Momente des Films sind mehr in den Vordergrund getreten. Eine solche Rezeptionsveränderung ergbit sich bei mir lange nicht bei allen Filmen, bei manchen ist es sogar umgekehrt, sie haben aus meiner Perspektive als Komödien angefangen und sich mehr und mehr zum Ernsten hin entwickelt.

Dass Roger Ebert, den ich sehr schätze, dem Film eine der schlechtesten Bewertungen zukommen ließ, die heute im Score von „Metacritic“ Eingang finden (25/100), sein temporärer Kritikpartner Gene Siskel aber 88/100 gab, die beiden schrieben hier für verschiedene Zeitungen in Chicago, macht schon klar, wie kontrovers der Film ist, die IMDB –Nutzerwertung sieht ihn heute bei 78/100, wobei er mit fast 150.000 Stimmen für einen Film der 1980er sehr gut rezipiert ist. Die Aufschlüsselung bringt hervor, dass es nicht den charakteristischen langen balken bei nur einem Punkt gibt, der sehr kontroverse Filme auszeichnet. Frauen werten, nicht ganz unerwartet, mit 75/100 etwas niedriger als Männer, aber dramatisch ist der Unterschied auch nicht. Es gibt weitere kleine Auffälligekeiten bei der demografischen Betrachtung, wie etwa die, dass Männer im Alter von 18 bis 29, die sich wohl stark von den Erlebnissen Jeffreys angezogen fühlen, mit 80/100  von allen Kohorten am höchsten werten.

Die obigen Angaben zur Rezeption stammen aus dem Jahr 2017. Aktuell steht der Film bei den IMDb-Voter:innen bei 7,7/10, er zählt aber auch zur „Legacy“ der IMDb-Top-250-Liste, darin war er für kurze Zeit enthalten und ist daher Bestandteil unseres Konzepts, so viele Filme wie möglich zu rezensieren, die darin enthalten sind oder es einmal waren.

86/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)

(1), kursiv und tabellarisch. Wikipedia

Regie David Lynch
Drehbuch David Lynch
Produktion Fred C. Caruso
Musik Angelo Badalamenti
Kamera Frederick Elmes
Schnitt Duwayne Dunham
Besetzung

 

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