Kommentar 8
Nachdem wir uns heute zum zweiten Mal über die kommende „Bewegung Wagenknecht“ Gedanken gemacht haben, sind wir eher zufällig auf etwas gestoßen. Es gibt sie schon, die Linksbewegung, die parteiübergreifend sein soll. Sie nennt sich „Progressive Plattform“ oder „PlattformPRO“ und ist eine Initiative enttäuschter SPD-Mitglieder, die im März 2018, als es darum ging, erneute Koalition mit der CDU/CSU oder nicht, feststellten, die SPD sei keine soziale Partei mehr. Die „PlattformPRO“ wurde im März 2018 gegründet, um ein Sammelbecken für Menschen links des SPD-Mainstreams zu werden. Konkurrenz oder natürliche Partnerin für die „Bewegung Wagenknecht“?
Dass ich davon erst heute durch Herumstöbern in meinen Netzwerksträngen gelesen habe, sagt entweder etwas über meine besonders selektive Wahrnehmung oder darüber, dass diese Bewegung bisher nicht gerade der Hype geworden ist. Die einzige wirklich bekannte Politikerin, die zu den Erstunterzeichnern gehört, ist Herta Däubler-Gmelin, Justizministerin der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder. Wir erinnern uns, das war diese unheilige Regierung, die den sozialen Kahlschlag verursacht hat. Aber ganz sicher hat Däubler-Gmelin zu den linkeren Kräften in dieser sozial weit rechts angesiedelten Regierung gehört.
Mir ist noch ein weiterer Name aufgefallen. Es handelt sich aber nicht um einen Politiker, sondern um einen Wirtschaftswissenschaftler, auch wenn er mal Staatssekretär im Finanzministerium war und weitere Funktionen in politisch wirksamen Organisationen hatte: Heiner Flassbeck.
Der Makroskop-Autor und Herausgeber, der gerade heute wieder darüber geschrieben hat, dass die EZB (die Europäische Zentralbank) rechtswidrig handeln musste, damit Europa nicht absäuft?
Ebenjener. Ich will aber nicht auf diesen Beitrag eingehen, denn an der Argumentation ist durchaus etwas dran, sofern Europa durch die Geldflutung wirklich gerettet wird, ohne dass man endlich das Eurosystem grundlegend revidiert. Der Euro ist also das Thema, aber dessen Existenz ist eben sehr mit Fortbestehen der EU in ihrer jetzigen Form verbunden.
Aber DIE LINKE will doch eine – mindestens – Reform, eher Neubegründung der EU?
Das ist der Punkt. Sie will, sie soll, sie muss mehr wollen als eine Perpetuierung der ausufernden EZB-Politik und vielleicht einer Aufweichung der vielgescholtenen Austerität. Heiner Flassbeck beeinflusst mit seinem Linkskeynsianismus junge Linke, die sich gar nicht vorstellen können, was Systemkritik tatsächlich bedeutet, weil sie im System aufgewachsen sind und nichts anderes kennen – und hält sie damit an Bord, anstatt sie zu wirklich kritischen Menschen werden zu lassen und vielleicht neben Keynes und ihm selbst doch auch Marx und vielleicht auch mal die Gegenseite zu lesen. Außerdem sollten solidarische Menschen sich nicht so grundarrogant gegenüber auf derselben Ebene stationierten Andersdenkenden äußern. Das ist ein Stilprinzip, das aber gerade Linke häufig verletzen, weil sie sich für unfehlbar halten und damit einer von ihnen gehassten Institution bzw. deren Oberrepräsentanten sehr nah kommen.
Bei Flassbeck schrumpft also das Kapitalismusproblem Europas mehr oder weniger auf die Tatsache, dass in Deutschland die Löhne zu niedrig, die Investitionen zu niedrig, die Leistungsbilanzüberschüsse zu hoch und der Sparwille zu groß ist. Das ist uraltes realpolitisches Justierungsdenken. Schon Willy Brandt hatte 1973 aus jenen Gründen ein Konjunktur-Dämpfungsprogramm (!) initiieren lassen und damit auch verhindern wollen, dass sich der Außenwert der D-Mark gegenüber dem Dollar zu rasant steigert, der just in jener Zeit durch das Ende des Bretton-Woods-Systems quasi frei konvertierbar geworden war. Damit wollte Willy Brandt aber keineswegs das kapitalistische System angreifen, das ja damals auch noch vergleichsweise gut funktionierte und in den 1970ern endlich Ludwig Erhards Versprechen „Wohlstand für alle“ in Westdeutschland weitgehend einlösen konnte, sondern den wirtschaftlich schlingernden USA helfen, die gerade mit ihrer Deinudstrialisierung begannen. Das waren, wie heute, wirtschaftlich wechselhafte Jahre.
Flassbeck ist ein durch diese und in diesen Jahren geprägter SPD-ler oder, heute, SPD-Naher, kein Mann der progressiven Systemveränderung von links. Das müsste viel stärker kommuniziert werden, damit sich der linke Nachwuchs nicht mit seinen wenig visionären Vorstellungen zufriedengibt, wenn es darum geht, über eine Wirtschaft der Zukunft nachzudenken.
Viele, die z. B. nicht der anders orientierten und theoriestarken KPF, der kommunistischen Plattform in der LINKEN, angehören, kennen im Wesentlichen nur diesen Mitte-links-Ansatz von Flassbeck als Modell für eine Linkswirtschaft, auch deshalb, weil er so mächtig die Werbetrommel rührt und so furchtbar eitel und polemisch daherkommt, sowas gefällt einfach, wenn man noch nicht drüberschaut, woher es kommt und nicht mit Argumentationsstärke gleichzusetzen ist – und seine vereinfachenden oder gar bewusst verfälschenden und ganz leicht angreifbaren Diagramme zu den Arbeitskostenentwicklungen etc. sind ja auch viel zugänglicher, viel weniger sperrig, lassen sich verkaufen wie Marktprodukte – interessanterweise steckt da ein Marktfuchs dahinter.
Essenz: Die Pro-Plattformler sind für mich zu mainstreamig und es gibt Personen darin, die keine neuen Welten mehr begehen und darüber sollten kritische Linke reflektieren, die aufgrund von Herausbildungen wie der PlattformPRO zu der Ansicht gelangt sein könnten, es habe sich in der SPD etwas bewegt und man könnte doch zusammenarbeiten. Mit diesen Leuten lässt sich wirtschaftlich weder Revolution noch Evolution machen.
Der echte Linke meidet also diese Plattform?
Als die PlattformPRO gegründet wurde, zeichnete sich die Wagenknecht-Bewegung bereits ab und „die Unterstützer“ (alle?) äußerten sich skeptisch zum Vorhaben von Wagenknecht.
„Skeptisch äußerten sich die Unterstützer der Plattform zu einer Zusammenarbeit mit Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, die sich gleichfalls um eine linke Sammlungsbewegung bemüht. Wagenknecht stehe eher für „linke Politik im nationalen Rahmen. Das ist keine europäische Politik, wie wir sie wollen“, sagte der Berliner SPD-Politiker Kevin Hönicke. „Ich weiß nicht, ob sich Sahra Wagenknecht bei uns so wohlfühlen würde“, sagte auch der Vorsitzende der AG Migration in der SPD, Aziz Bozkurt, mit Blick auf nationale und Migrations-kritische Töne der Linken-Fraktionschefin.“
Beim gravierenden Mangel an Durchdrungenheit, den ich zum Beispiel im Forum linke SPD wahrnehme – gut, nennen wir es etwas gnädiger „Orientierungslosigkeit“ – kann nur solcher Murks wie dieses Statement herauskommen – das Forum ist nicht die Plattform, aber gemäß Selbstdefinition sollten in beiden Clustern ähnlich tickende Menschen mitwirken.
Vielleicht erhellt aber das neue Thesenpapier zur Migrationspolitik, das Sahra Wagenknecht nahestehende Politiker_innen verfasst haben, die Sachlage etwas. Jemand, der Politikansätze versucht dort zu finden, wo sie tatsächlich etwas bewirken können und nicht bloß Utopie bleiben, ist kein Nationalist. Er findet sie im nationalen Rahmen, wo dieser Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und im internationalen Rahmen, wenn dort die Handlungsebene angesiedelt ist und im Übrigen versucht er, die internationale Solidarität zu erweitern, das kann man von der Bundesregierung, an welcher die SPD schon eine halbe Ewigkeit lang beteiligt ist, nicht behaupten. Links handeln heißt auch, die Chancen für soziale Verbesserungen zu ergreifen, wo sie gegeben sind und nicht zu warten, bis sich irgendeine Veränderung ergeben hat, die eine allseitig globale Handlungsweise erlaubt. Die ist angesichts zunehmender Nationalismen in anderen Ländern, die weit über den AfD-Aufstieg in Deutschland hinausgehen, derzeit komplett unrealistisch. Man muss das alles im Auge behalten und dafür kämpfen, darüber darf man aber das Hier und Jetzt nicht vergessen und die Menschen, die in Deutschland vielfach sozialer Verbesserungen bedürfen. So sehe ich Wagenknechts Position.
Nur noch ein Beispiel zur Veranschaulichung. Viele Linke wollen ja eine Regionalisierung und Ökologisierung der Wirtschaft, beides geht auf manchen Sektoren tatsächlich miteinander einher, das sehe ich auch so. Interessanterweise kommt aber niemand auf die Idee, diese Akteur_innen als Regionalnationalisten oder Regionalpatrioten zu bezeichnen, weil sie den für sie richtigen, kleinräumigen Handlungsrahmen für ihre Projekte gewählt haben, obwohl sie Billigproduzenten in Asien an die Karre fahren, wenn sie sich für mehr ökologische Nachhaltigkeit und höhere soziale Standards auf jeder Stufe des Wertschöpfungsprozesses einsetzen, wie es solidarische Wirtschaftsbewegungen tun (Gemeinwohl-Ökonomie u. a.). Nichts anderes tut Wagenknecht, wenn sie den Handlungsrahmen der Sozialpolitik betrachtet, die derzeit auf nationaler Ebene normiert ist und es wohl noch für längere Zeit sein wird.
Es geht auch um die Migration.
Flassbeck zum Beispiel ist kein Open-Border-Fan, soweit ich seine Einstellung deute und in Makroskop sind mehrere Beiträge erschienen, die dezidiert den Nationalstaat als Handlungsebene, nicht als Narrativ, hervorheben. Diese stammen nicht von ihm selbst, aber natürlich sind sie nicht ohne sein Einverständnis als Herausgeber erschienen. Und ein nationaler Handlungsrahmen weist nun einmal Aspekte auf, die von Kapazitätsgrenzen sprechen, daran führt nichts vorbei. Ein System, in dem eine bestimmte Anzahl von Wirtschaftssubjekten eine bestimmte Wirtschaftsleistung erbringt, kann nur einen bestimmten Anteil dieser bestimmten Wirtschaftsleistung verwenden, um Menschen aufzunehmen und so auszustatten, dass sie Teilhabe gewinnen und dass ihr Weg in Deutschland gelingen kann. Alles andere als die Berücksichtigung der Endlichkeit aller Ressourcen ist für mich nicht links, auch nicht den Prinzipien der Nachhaltigkeit abgeschaut, sondern planlos dem Kapitalismus in die Hände spielend. Und so schätze ich viele SPDler aufgrund meiner Nachverfolgung der Posts im Forum linke SPD ein – planlos und unterhalb wesentlicher Erkenntnisebenen denkend und dementsprechend sich rudimentär äußernd und handelnd.
Ich glaube, es wäre eher ein Rückschlag für ihre Ziele, wenn Sahra Wagenknecht um die Genoss_Innen aus der SPD werben würde, die nicht verstanden haben, worum es ihr geht. Ich bin recht froh, dass die SPD-Plattformler_innen nicht damit drohen, die im September startende Wagenknecht-Bewegung mit ihrer Anwesenheit zu blockieren oder zu verwässern, denn solche Infiltrationen erschweren, wenn es nicht gut läuft, eine Korrektur und vielleicht auch die Ursachen-Analyse. Das bedeutet übrigens nicht, dass ich dieser Bewegung vorbehaltlos gegenüberstehe, das ergibt sich aus den oben verlinkten Beiträgen. Meine Skepsis gilt aber vor allem der Aufstellung jener kommenden Bewegung als Wagenknechts Positionen.
Was zum Ende des T-Online-Artikels stutzig macht: Die Plattformler dachten darüber nach, ob sie der GroKo 18 zustimmen. Was haben sie dann getan?
Merkel fehlten 35 Stimmen aus dem eigenen Lager, als sie 2018 zur Kanzlerin gewählt wurde. Ich gehe davon aus, dass diese fast alle von der SPD kamen. Über das Rückgrat der Bundestagsabgeordneten unter den Plattformlern, ob die also darunter waren, kann ich keine Aussage machen. Durchaus möglich, dass einige davon sich der erneuten GroKo verweigert haben. Das wäre immerhin ehrenwert und glaubwürdig gewesen. Politisch aber ist diese Plattform ungeeignet, um sich mit der Wagenknecht-Bewegung zusammenzuschließen. Es mag dann einzelne Personen geben, die beiden Gebilden angehören. Hauptsache, sie stören nicht den sozialistischen Gang der Dinge (Scherz!).
Was ich hier ausgeführt habe, ist auch eine Art Pars-pro-toto-Betrachtung, denn es lässt sich auf sehr viele „Bewegungen“ übertragen, von DIEM25 bis zu DIB, die bisher alle nicht dafür sorgen konnten, dass in Deutschland ein Social Movement Raum greift, obwohl sie alle untereinander vernetzt sind und demgemäß konzertierte Aktionen von allgemein wahrnehmbarer Größe auf die Beine stellen könnten, wenn sie denn wirklich die Menschen bewegen würden. Es gibt schon sehr viele Plattformen und keine hat bisher eine „kritische Masse“ erreicht. Heißt das nun, dass noch die richtige Bewegung, die von Sahra Wagenknecht, fehlt – oder bedeutet es, dass in Deutschland noch nicht die Zeit dafür reif ist, weil die Menschen ihre eigene Lage noch nicht als bedrückend genug empfinden?
© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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