Crimetime 5 -Titelfoto © Radio Bremen, Michael Ihle
Bevor ich die Rezension schrieb, hatte ich Zeit, im Tatort-Fundus nachzuschauen, was die Fans von Nr. 1032 halten. Dass es, wie immer bei Krimis, die sehr auf exzentrische Persönlichkeiten zugeschnitten sind, kontrovers zugehen würde, hat mich nicht überrascht. Wohl aber, wie grundnegativ die Gesamtbewertung ist. Ich habe ja neulich auch „Abschaum“ angeschaut, der nach der Fundus-Rangliste als bester Lürsen-Tatort gilt, und da kann man sehen, wie geschmäcklerisch doch alles ist, was sich nicht klar verifizieren lässt. Trotzdem und so objektiviert wie möglich: Niemals ist „Abschaum“ nach Punkten doppelt so gut wie „Zurück ins Licht“ und gemäß Rangliste etwa 1000 Plätze von ihm entfernt, bei derzeit 1032 + 12 Filmen. Warum wir dieser Ansicht sind, steht in der -> Rezension.
Handlung
In einem Parkhaus am Flughafen wird ein Auto mit Blutspuren und einem abgetrennter Finger gefunden. Die Spuren führen die Kommissare Inga Lürsen und Nils Stedefreund zu Herrn Bergener, einem bereits seit acht Monaten vermissten Chef einer inzwischen insolventen Pharma-Agentur. Bei dessen Witwe Judith Bergener kann allerdings von Vermissen keine Rede sein. Sie erklärt, damals eine Nachricht bekommen zu haben, dass ihr Mann aussteigen wollte. Sie hätte sich damit abgefunden und alles entsorgt. Anhand der Wegpunkte aus dem Navi des Fahrzeuges wird die Leiche in einer Kiste im U-Boot-Bunker Hornisse gefunden. Die Leiche wird von der Witwe identifiziert. Diese ist inzwischen mit dem Freund ihres Mannes Peter zusammen. Dessen Frau Maria Voss hat sich nach einem schweren Autounfall, von dem sie sich über ein Jahr erholen musste, von ihm und ihrer gemeinsamen Tochter getrennt. Zu diesem Zeitpunkt war sie in der Pharma-Agentur des Opfers tätig gewesen.
Die Handlungsangabe und die Rezension enthalten Informationen zur Auflösung!
In der Anrufliste des Opfers war ihre Nummer die letzte. Inzwischen lebt sie im Gästehaus des Apothekenhändlers Carl Bellheim und arbeitet an ihrem Comeback, an ihrer „Rückkehr ins Licht“. Es stellt sich allerdings heraus, dass ihr ganzes Leben gefälscht ist. Die Erfolge, zu denen sie ihren Arbeitgebern verhalf, stammten vom Einkauf zweifelhafter billiger Krebsmedikamente, die teuer an Apotheken verkauft wurden. Immer, wenn ihre Machenschaften aufgedeckt worden waren, wechselte sie die Firma. Seit dem Unfall ist ihr allerdings der Wiedereinstig nicht gelungen, weshalb sie inzwischen mittellos ist. Nun soll Carl Bellheim sie in einem Unternehmen unterbringen. Als er ihr jedoch erklärt, dass kein Konzern mehr auf sie hineinfallen werde und sie das Haus verlassen solle, ersticht sie ihn mit einer Schere. Inzwischen gesteht ihr Mann Peter, dass er damals die Leiche „entsorgt“ hätte. Maria hatte Bergener erstochen, da er alle Firmen vor ihr gewarnt hatte. Beim Versuch, Maria Voss festzunehmen, ersticht sich diese vor den Augen der Polizisten selbst mit der Schere.
Handlung: Wikipedia.
Rezension
Regisseur Florian Baxmeyer hat schon einige Bremen-Tatorte inszeniert und kann als Spezialist für dieses Team gelten, das nie meine besondere Sympathie fand. In ltetzter Zeit wird es besser, weil Lürsen sich mehr zurücknimmt und gleichzeitig schüttele ich den Kopf über Stedefreund. So ein Spießer dann doch, der unbedingt darauf pocht, seine multiple („Ich bin Viele!“) und leicht autistisch wirkende Freundin vom BKA unbedingt verstehen zu wollen, nur, weil er wohl Kinder nur mit jemandem haben will, der berechenbar ist. Sicherlich würden 90 Prozent aller Männer so handeln, irgendwann, aber die Beziehung als solche ist doch erst einmal spannend, da wird viel zu früh in solche Muster reingegangen, ersma richtig kennenlernen is nich. Dass ein Mensch wie die Frau mit dem programmatischen Namen Selb anstrengend ist, das konnte ich als Zuschauer nachvollziehen. Der Stedefreund ist eben stetig, Frau Selb unberechenbar, weil nur sich selbst auskunftspflichtig.
Spannend fand ich auch Maria Voss, dargestellt von Nadeshda Brennicke, für die der Film gemacht wurde. Die meisten Fundus-Reaktionen künden von totaler Ablehnung der Rolle, was vielleicht mehr über diejenigen aussagt, die so reagiert haben. Ich will nicht behaupten, jemanden zu kennen, der genauso ist, aber kumuliert aus zwei, drei weiblichen Personen aus meiner Vita / meinem Bekanntenkreis kommt in etwa das heraus, was diese Frau verkörpert. Abzüglich der totalen Scheinwelt, die bereits beim Civi anfängt und beim leeren Gästehaus als Symbol des Endes von allem aufhört. Und vielleicht sind sie nicht so gewaltbereit, wenn sie austicken.
Der Regisseur, hat Soziologie studiert und damit natürlich auch eine Edukation in Psychologie und mindestens einer der beiden Drehbuchautoren hat ebenfalls soziologisch-psychologische Kenntnisse. Ich kaufe trotz der Stilisierung die Figur Maria Voss von den dreien. Oder vielleicht gerade deswegen. Wenn sie mich nur nicht so verdammt an jemanden erinnern würde, der auch im Pharmabereich arbeitet und immer hart an der Grenze fährt, mit ihrem megalomanischen Erfolgsstreben bei gleichzeitiger Beziehungsunfähigkeit – allerdings frage ich mich gleichzeitig, wie Voss bei ihrem Wesen zu einer Familie gekommen ist. Weil sie die Männer so für sich einnehmen kann?
Das Ende fand ich deshalb logisch, weil alles darauf hinauslief, auch und leider auf den Selbstmord einer Person, die komplett aus der Fasson gegangen ist. Daher war der Überraschungseffekt sehr gering und dass die Ermittlungen eher rudimentär über Linda Selbs fantastische Computerverwendung laufen – geschenkt. Sowas haben wir in Kiel ja auch, ohne dass die Tatorte deswegen als schlecht gelten, den, sgen wir mal, wenn es dramaturgisch erforderlich scheint, sehr gerafften Polizeiarbeitsanteil betreffend.
Ab einem bestimmten Punkt war ich emotional drin war und hatte großes Mitleid mit Maria Voss. Ich weiß nicht, wo und wie die meisten Tatortseher ihr Leben verbringen, aber in einer Großstadt von heute gibt es diese Menschentypen, und ich fühle mich von denen gleichermaßen angezogen wie abgestoßen, stehe ihnen jedenfalls nicht gleichgültig gegenüber. Denn irgendwo ist da ein Teil des eigenen Selbst, der ins Schwingen gerät, auch wenn man sich dann anders verortet hat und da nur ein Echo nachhallt, das diese Schwingungen verursacht. In dieser Gesellschaft, in der wir aufwachsen, kann man sich so entwickeln wie Maria Voss.
Eines hat mir trotzdem gefehlt. Nicht so sehr wegen meiner eigenen Rezeption, sondern mit Blick auf Millionen Mit-Zuseher, die offenbar solche Menschen nicht kennen. Die Figur Voss hätte biografisch hinterlegt werden müssen, wenn man schon so viel Zeit für sie aufwendet. Mir machte das Jetzt, das etwas abstrakt daherkommt, nicht so viele Schwierigkeiten, weil ich auf die Biografien der Frauen zurückgreifen kann, deren Existenz ich oben angedeutet habe, aber viele können das nicht und begreifen daher nicht diese extreme Fokussierung auf eine Chimäre und diesen Zerrspiegel der eigenen Person. Anerkennung, die nur über materiellen Erfolg zu realisieren ist, bestenfalls noch über gesellschaftliches Prestige und anderes, was aus besonderer Leistungsbereitschaft resultieren soll, spielen in der Tat eine ganz wichtige Rolle und dass jemand dann über Leichen schreitet, wenn es ums Ganze geht, halte ich nicht für so weit hergeholt – und das manchmal mit weitaus mehr Berechnung als bei Voss, bei der die Gewalt sich dann einstellt, wenn die narzisstische Persönlichkeit einen besonders harten Kontrollverlust erleidet.
Aber – das alles hat erstaunlicherweise immer ähnliche Kindheitstraumata als Auslöser, solche Personen sind nicht denkbar ohne das Umfeld, in dem sie das Unglück hatten aufzuwachsen. Man kann mit ihnen sogar viel Spaß haben, weil sie von sich selbst so fasziniert sind, dass sie auch auf andere faszinierend wirken, aber wirkliche, dauerhafte Nähe und ein vertrauensvolles Sich-Einlassen sind leider nicht möglich. Wenn man eine Ahnung davon hat, woher das alles kommt, schreckt es nicht ab, man lehnt es auch nicht ab, sondern ist eher von Trauer erfüllt darüber, wie Menschen in einen Wahn abdriften, der in unserer neoliberalen Weltordnung leider bestens protegiert wird. Aber natürlich lässt diese Ordnung Menschen auch schnell ins Bodenlose fallen, wenn mal doch ruchbar wird, dass etwas nicht mit ihnen stimmt, wo man doch vorher jahrelang nichts gepeilt hat. Die Fassade dominiert alles und ohne sie ist alles nichts.
Finale
Kann man diese Diskrepanz zwischen Schein, Anspruch, Sein, Grenzen, jahrelang so verstecken, wie Maria Voss es tut? Ich glaube, ja. Aber vor allem dann, wenn man eben keine Bindungen eingeht, die immer wieder Grenzen aufzeigen und Lebenslügen aufdecken, sondern ganz beim Spiegelbild verharrt. Aber die Überzeichnung. Es muss nicht alles glaubwürdig sein und die Anspielung mit dem roten Mantel auf wahlweise „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ oder vielleicht noch mehr auf Brian de Palmas „Dressed to Kill“, den ich allerdings nicht so richtig gut fand.
Als Krimi ist auch „Zurück ins Licht“ nicht so richtig gut, auch wenn er ausgezeichnet gespielt und fotografiert ist. Es wird nicht mehr Licht und ich kann die Qualität des Films als Krimi nicht ganz außer Acht lassen. Dass der Tatort verwendet wird, um alles Mögliche einem großen Publikum nahezubringen, ist aber nichts Neues mehr und für Zuschauer, die es ganz klassisch haben mögen, gibt es genügend einfachere Koste im deutschen Fernsehen. Ich akzeptiere die Rolle als Avantgarde-Format im Krimikleid, die der Tatort längst einnimmt, finde aber dennoch, dass die Regisseure und Autoren auch den Mut haben müssen, den weniger rezipierten und nicht an einem so prominenten Sendeplatz ausgestrahlten Einzel-Fernsehfilm zu wählen, wenn sie ein Psychodrama wie dieses inszenieren wollen.
7,5/10
© 2019, 2018, 2017 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Musik im Tatort
The Devine Comedy – „Catherine the Great“
Nina Simone – „Ain’t got no“
Bodi Bill – „One or two“
2Pac – „Only God can judge me“
Alice Boman – „Over“
Besetzung und Stab
Hauptkommissarin Inga Lürsen – Sabine Postel
Hauptkommissar Nils Stedefreund – Oliver Mommsen
Kommissarin vom Dienst Helen Reinders, Tochter von Lürsen – Camilla Renschke
BKA-Ermittlerin Linda Selb – Luise Wolfram
Rechtsmediziner Dr. Katzmann – Matthias Brenner
Pharmareferentin Maria Voss – Nadeshda Brennicke
Peter Kappeler – Nicki von Tempelhoff
Lotte Kappeler – Emma Drogunova
Carl Bellheim – Jörg Pose
Gabriela Bellheim – Rosa Enskat
Judith Bergener – Victoria Fleer
u.a.
Drehbuch – Christian Jeltsch, Olaf Kraemer
Regie – Florian Baxmeyer
Kamera – Hendrik A. Kley
Szenenbild – Andreas C. Schmid
Schnitt – Friederike Weymar
Ton – Frank Buermann
Musik – Stefan Hansen
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