Essay 3
Tun wir’s oder tun wir’s nicht? Uns mit dem Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft befassen? Es gibt so viele wichtige Dinge auf der Welt, über die man so viel schreiben kann. Aber nachdem die Berichterstattung nicht abreißt, haben wir uns doch entschlossen, uns auf die Causa einzulassen. Und wenn, dann richtig, also etwas ausführlicher. Möglicherweise auch in der bisher hier nicht angewandten Form, dass wir diesen Beitrag noch ergänzen – nach jeder Ergänzung wird er neu veröffentlicht und die Version wird gekennzeichnet, evtl. der Titel geändert.
Rechtfertigung könnte sein, dass wir uns doch beim alten Wahlberliner recht intensiv mit Fußball-Großereignissen befasst haben und auch den europäischen Ligabetrieb immer noch verfolgen. Mit der leidigen Erkenntnis, dass Geld natürlich auch die Fußballwelt regiert und die verstaubte Bundesliga kaum eine Chance hat, sich im Spitzenfeld zu behaupten. Da können wir überhaupt nicht drüber lachen, weil der Antikapitalist sich immer wieder mit dem Typ fetzt, der gerne tollen, modernen Spitzenfußball in Deutschland hätte.
Aber es gibt ja noch Großereignisse wie die Welt- und Europameisterschaften. Die letzte WM 2006 hat in Deutschland geradezu einen Hype ausgelöst, der wurde aber nicht erst mit dem vergeigten Kurztrip 2018 schwächer, sondern bereits bei den letzten Turnieren, auch bei der gewonnenen WM 2014 war schon ein wenig die Luft raus. Ich denke, Südafrika 2010, das war die letzte große Saison fürs Klinsmann-Löw-Sommermärchen. Und 2013 hatte die Bundesliga nochmal ein gutes Jahr mit dem „All German Final“ zwischen Borussia Dortmund und Bayern München im Wembley-Stadion. Wenn zwei spanische Mannschaften im Endspiel der Champions-League stehen, ist das nichts Besonderes, bei zwei Vertretern der deutschen Topliga schon.
Wegen dieser Sichtweise blicken wir also zurück und werfen einen Blick voraus. Für 2024 hat Deutschland sich um die EM-Austragung beworben. Das wäre doch der richtige Zeitpunkt, für eine umformierte und widererstarkte deutsche NM, einen neuen Hype auszulösen.
Mesut Özil wird im Herbst 30 Jahre alt, er wäre wohl 2024 sowieso nicht mehr dabei gewesen. Und ich hätte gerne gewollt, dass dies einen ganz normalen Vorgang, einen Generationenwechsel eben, darstellt. Aber nun gab es diesen Paukenschlag, kein Betriebsunfall – auch aus anderen Fußball-Nationalmannschaften sind Spieler schon vor der altersmäßig normalen Rotation zurückgetreten – sondern eben ein Politikum. Mir ist kein weiterer Fall bekannt, in dem Rassismusvorwürfe so hohe Wellen geschlagen hätten wie in diesem. Es gab auch in der französischen Mannschaft immer mal wieder Debatten, bemerkenswerterweise, als die Erfolge einige Jahre nach den Titeln 1998, 2000 ausblieben, ähnlich wie jetzt bei uns, aber nach meinem Eindruck war das nicht so gezielt an einer Person festzumachen und vor allem mischten sich keine Staatschefs anderer Länder ein.
Erdogan mischt sich doch in alles ein, was der Integration der Menschen mit türkischem Hintergrund schadet.
Und die Türkei ist neben Deutschland der Bewerber für die EM 2024, weitere Länder gibt es nicht. Welch Ironie. Und welch seltsamer Zeitpunkt, dass diese Sache kurz vor der Vergabe (27. September 2018) durch die FIFA stattfindet. Zunächst meine Ansicht zum Turnier im Ganzen: Ich hätte es schöner gefunden, dass die EM, wie es 2020 der Fall sein wird, in verschiedenen Ländern stattfindet. Aber es ist natürlich klar, dass dabei ein Problem zu bedenken ist. Wohin geht beispielsweise das Endspiel? Tendenziell in eines der großen Fußballländer, da hätten die Schweiz oder Österreich, die für die Austragung der EM 2012 zuständig waren, kaum eine Chance drauf. Überhaupt ist die Austarierung, wo findet welches wichtige Spiel statt, nicht so einfach. Trotzdem hätte ich diesen Modus für künftige Austragungen vorgezogen.
Was ist grundsätzlich zum Fußball zu sagen?
Am liebsten würde ich es sogar sehen, dass die Nationalmannschaften ganz aufgegeben werden – aber das ist komplett utopisch. Dass Fußball-Großereignisse völkerverbindend sind, ist ein schönes Märchen. Wenn der Wind aus der nationalistischen Ecke weht, wie im Moment, werden sie zu nationalistischen Kundgebungen missbraucht und dass sich Fans von zwei Lagern im Stadion persönlich kennenlernen und Freunde werden – für solcherlei zwischenmenschlichen Austausch gibt es andere Möglichkeiten. Man darf sich nicht täuschen lassen: Die Veranstalter fangen in besonders emotionalen Momenten immer die berührendsten Bilder ein, aber selbst bei denen wird deutlich, dass die Mehrheit der Fans nicht gerade aus Völkerverbindungsgründen zu solchen Ereignissen fahren, sondern um „stolz auf ihre Nation“ sein zu können. Und die Fans einiger Länder, besonders deutsche Fans, haben sich bei solchen Turnieren auch schon gezeigt, wes Geistes Kinder sie sind, jeweils in Frankreich, 1998 und 2016.
Der Fall des Gendarmen David Nivel, der durch deutsche Fans zum Invaliden wurde, löst in mir gerade, während ich dies schreibe, wieder Emotionen aus. Ich gestehe, ich bin tieftaurig und wütend über solche Schlagzeilen, auch wenn die Fans anderer Nationen ähnliche produziert haben und Hooligans eine von mehreren Begleiterscheinung der zunehmenden Brutalisierung von Gesellschaften in vielen Ländern sind. Wenn man dieses Phänomen beenden wollte, müsste man auch den Ligabetrieb in den meisten sogenannten Fußballnationen einstellen.
Vor diesem Hintergrund ist es doch nicht so wichtig, wer nun die EM 2024 austragen darf.
Kommt darauf an. Von mir aus muss die EM nicht in Deutschland stattfinden, wirklich nicht. Super hätte ich neben der oben erwähnten paneuropäischen Lösung auch eine gemeinsame Austragung durch die Staaten des früheren Jugoslawiens gefunden und das Endspiel vielleicht bewusst in einem kleineren dieser Länder, nicht in Kroatien oder Serbien. Das wäre mal ein tolles Versöhnungszeichen gewesen, falls nationalistische Spieler und Fans es zugelassen hätten.
Aber die Türkei? Ein Desaster, das muss man einfach schreiben. Und ich muss aufpassen, dass ich nicht sauer auf Özil werde, weil er eben nicht so dumm ist, wie einige linke Blätter ihm jetzt gerne zurechnen würden um ihn aus der politischen Schusslinie zu nehmen. Ich halte ihn eher für einen intelligenten Spieler. Außerdem, selbstredend hat Özil ein Umfeld, das auch beim Verfassen seiner Statements mitgeholfen hat und das sich sehr wohl mit der politischen Dimension des Sports auskennt. Der Spieler war in Deutschland, in Spanien und ist jetzt in England tätig, kam und kommt dort mit allen Größen des Fußballs zusammen und wer mir erzählen will, sein Verhalten, auch seinerzeit das Foto mit Erdogan, hätte er nicht in seiner politischen Brisanz kurz vor den türkischen Präsidentenwahlen verstanden, dem muss ich entgegenhalten, dass er aus ebenfalls politischen Gründen genau diese Sichtweise vermitteln will, damit der Rassismusvorwurf Özils gegen den DFB, die Medien und viele Menschen in den sozialen Netzwerken etc. isoliert betrachtet werden kann, nicht aber seine Anteile. In der Tat ist beides getrennt zu sehen, aber beides muss erwähnt werden.
Sollte aber DFB-Chef Grindel nicht doch besser zurücktreten.
Das ist ja nur einer von vielen Aspekten, ich meine: besser wär’s. Und ich denke sogar, Deutschland sollte seine Bewerbung für 2024 zurückziehen.
Also der halbdiktatorischen Türkei freiwillig das Feld überlassen?
Diese ganze Inszenierung jetzt sollte einen Neustart auch beim DFB auslösen. So schlecht lief die Integrationsarbeit bisher dort nicht, Grindels Vor-Vorgänger Theo Zwanziger hat viel in diese Arbeit investiert. Durch den Fall Özil wirkt es jetzt, als sei die Fußball-NM ein Hort des Rassismus, das ist sie nach meiner Ansicht nicht. Aber da überlagern sich sehr viele Dinge. Bei der WM 2018 gab es einen internen Konflikt zwischen verschiedenen Spielern, der vorwiegend eben nicht an der Herkunft festzumachen war, man weiß als Außenstehender nicht, welche Rolle dieser Konflikt auch in der Causa Özil-Rücktritt gespielt hat. Ich bin kein Fan des Duos Löw-Bierhoff. Die beiden hätten die Lage sicher so steuern können, dass es einen Kompromiss und eine frühzeitige Deeskalation gegeben hätte, wenn sie den Überblick und die Führungsstärke dazu gehabt hätten. Deswegen würde für mich zu einem Neustart ein Rücktritt nicht nur des DFB-Chefs, sondern auch des Trainers und des PR-Chefs gehören. Bierhoff ist der PR-Chef der NM, in seiner Verantwortung liegt dieser Verlauf also ebenfalls.
Das wäre doch Wasser auf die Mühlen derer, die Einfluss in Deutschland nehmen wollen.
Für solche Dinge muss es eine Art Modus geben, ein Krisenmanagement nach klaren Regeln, die auch öffentlich bekannt gemacht werden. Spieler müssen diese Regeln vorher kennen. Denn wir wollen ja gerade keinen Rassismus und wenn Recep Erdogan kein Rassist ist, dann gibt es keine Rassisten auf diesem Planeten. Es muss viel klarer herausgestellt werden, dass jedwede Äußerung zu unterbleiben hat, die politisch verstanden werden kann. Zumindest bei aktiven Spielern.
Aktiven Spielern, nicht Ehrenspielführern.
Wenn Lothar Matthäus den Freund Putin umarmt, geht das auch nicht? Witzig, dass gerade eine linke Zeitung, die sich sonst nicht so mit Sport beschäftigt, diesen Whataboutismus gebracht hat, der mir immer wieder auf unheimliche Weise belegt, dass Logik nichts für schwache Nerven ist.
Ich bin kein Putin-Verehrer, aber das ist liegt für mich auf eine anderen Ebene. Es wird weniger wahrgenommen, Matthäus ist zudem als Ehrenspielführer ein Funktionär und hat sogar die Aufgabe, ein gutes Verhältnis zum gastgebenden Land der WM zu demonstrieren. Ob man dafür kontatkfreudig werden muss, ist vielleicht diskutabel, aber für mich kein Aufreger. Aber selbst Özil dürfte nicht entgangen sein, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei deshalb diffizil ist, weil Deutschland mit der Türke einige Sonderrelationen hat und wenn jemand in der deutschen NM spielt, darf er nicht den Eindruck erwecken, er unterstütze die derzeitige türkische Politik, die so ziemlich allem widerspricht, was uns doch hierzulande verbinden soll. Das hat nichts mit „Herkunft“ und Bewahrung der kulturellen Wurzeln zu tun. Ich weiß, jetzt kann man einen ganzen Rattenschwanz dranhängen, was an der deutschen Politik alles nicht in Ordnung ist, aber sie mit der von Erdogan zu vergleichen, wäre in mehrfacher Hinsicht nicht sachgerecht. Ich stelle mir vor, Angela Merkel versucht, die vielen Amerikaner mit deutschen Wurzeln gegen die US-Politik in Stellung zu bringen, weil ihr Donald Trumps Stil nicht behagt. Ein Unding. Absurd.
Die Deutschamerikaner sehen sich auch vor allem als Amerikaner.
Mittlerweile ja, daher ist das nur eine Fiktion. Aber in den 1930ern gab es in den USA viele offene Anhänger des Nationalsozialismus, beispielsweise, die Deutschamerikaner jener Zeit waren vielfach noch richtiggehend binational. Und selbstredend haben sie sich dafür stark gemacht, dass die USA nicht gegen die Nazis zu Felde ziehen. Und natürlich hat Erdogan im Hier und Jetzt die Sorge, die Menschen mit türkischem Hintergrund in Deutschland könnten sich einfach nur mit den übrigen vertragen und nicht Unterschiede wie die Religionszugeöhrigkeit allzu hoch hängen. Einen Spalter wie Erdogan zu hofieren, dafür gibt es sicher den einen oder anderen Zeitpunkt, da geht das noch so, aber vor den Wahlen in der Türkei im Juni 2018 geht es eben nicht. Und dieses Triumphgeheul, das jetzt nach Özils Rücktritt in der türkischen Politik ausgebrochen ist, das besagt einiges.
Kann man das dem Spieler anlasten?
Gerade Menschen, die sonst jeder Verschwörungstheorie hinterherlaufen, wollen jetzt glauben machen, dass diese Dimension von den Verfassern, ich bleibe bewusst bei der Mehrzahl, insbesondere des dritten Özil-Statements nicht gesehen, vielleicht auch gewünscht wurde, um so richtig einen Auftrieb zu erzeugen?
Aber die Rassismus-Debatte muss doch geführt werden.
Das wird sie auch ohne das Generalstatement eines Spielers, der damit ja gerade beweist, dass er politisch kein Nerd ist. Und in Deutschland haben schon alle Seiten eine gewisse Verpflichtung, nicht rassistisch zu sein, nicht nur eine. Die enormen Leistungen, die das Land vollbringt, indem es mehr neue Menschen aufnimmt und versucht, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen als irgendein anderes Land, dürfen an der Stelle hoffentlich Erwähnung finden und dass es dabei zu Spannungen kommt, ist einfach nur realistisch.
Aber Özil wurde medial und auch vom DFB-Chef wirklich angegangen.
Das ist eben die andere Seite. Man hätte von Seiten des DFB klarstellen müssen, was ich oben schrieb: Kodex für die Spieler einerseits, aber sich hinter sie stellen, wenn sie vom Mob angegriffen werden, andererseits. Das hätte man auf vielfache Weise tun können, etwa mit einer gemeinsamen Erklärung von Grindel, Löw, Bierhoff und allen Spielern zugunsten von Mesut Özil, als der Trikot-Fall immer mehr hochgejazzt wurde. Gab es aber nicht. Und natürlich ist das ein schweres Versäumnis.
Wieso ist Özil schon länger immer wieder mal der Sündenbock, nicht etwa Sami Khedira, der dieses Jahr bei der WM auch eine schwache Vorstellung gegeben hat.
Das macht es eben so kompliziert. Als es die „Guter-Nachbar-Debatte“ um Jérome Boateng gab, haben sich fast alle stark gemacht für ihn. Und Khedira ist, auch wenn er schwache Tage oder Zeiten hat, kein Sündenbock-Typ. Ich muss das leider so schreiben, denn der Ausgang des Ganzen war nicht die Sache Erdgon sondern die Verbindung Özil + Erdogan. Da ist bei einigen die Sicherung durchgebrannt, die sich immer schon an Özils Spielweise oder eher: an seiner Spielauffassung gestört haben. Es ist lange bekannt, dass Özil sehr sensibel und stimmungsabhängig ist und keiner, der, wenn es schlecht läuft, eine Führungsrolle übernehmen und das Ruder herumreißen könnte, sondern dann negative Tendenzen in der Mannschaft eher verstärkt – deshalb stand auch nie zur Debatte, ihn zum Kapitän zu machen, obwohl er nach seiner Erfahrung mittlerweile dafür infrage käme.
Özil braucht das Gefühl, dass alles super ist, um selbst gut zu sein. Während beispielsweise Emre Can, einer der hoffnungsvollen jungen Spieler mit dem gleichen Migrationshintergrund, wohl nie in eine solche Diskussion geraten wird, hat sie sich bei Özil daran festgemacht, dass er etwas tranig rüberkommt und seine technischen Fertigkeiten nur auf den Platz bringt, wenn er gut drauf ist. Auch bei seinen Vereinen war das zu beobachten, aber mit Arsène Wenger hat er einen Trainer gefunden, der seine Art versteht und berücksichtigt. Arsenal London hatte in den letzten Jahren aber keine Chance, ins Titelrennen der Premier League einzugreifen, weil es so unbeständig spielt. In der Superstartruppe von Real Madrid hingegen kam Özil nicht perfekt klar, obwohl Ronaldo ihn gestützt hat. Auch das ist übrigens interessant, aber die Menschen, die Fußball verfolgen, haben dies registriert und da Özil sich früher nie durch markige Statements oder besonders wirksame Zeichen hervorgetan hat, kommt nun einiges zusammen.
Was ist von Özils Statements an sich zu halten?
Als Freund der Textanalyse, die sehr wohl das Herauslesen psychischer Dispositionen des Verfassers beinhalten kann, wenn der Text so persönlich gehalten ist, bin ich kritisch. Vor allem das Statement drei leitet mich zu dieser Kritik. Es sind Widersprüche darin. Einerseits behauptet Özil, seine Mutter habe ihm immer nahegelegt, nie seinen Hintergrund zu vergessen, also im Sinn Erdogans gehandelt, wenn man so will, der aufpasst, dass die Integration der Menschen mit türkischem Hintergrund bloß nicht zu weit geht, andererseits will er die politische Bedeutung seines Erdogan-Fotos nicht bemerkt haben. Wenn das Elternhaus dem eigenen Hintergrund eine Bedeutung gibt, dann hat man ein Gespür für diese Bedeutung und da Özil jemand ist, der eher das Gras wachsen hört als nichts mitbekommt, wenn er für diesen Tatbestand sensibilisiert wurde, daher muss ich festhalten: Die politischen Analysten, die jetzt so furchtbar in die Grütze hauen, sollten die Statements selbst mal etwas näher analysieren, weil selbstverständlich die Person eine Rolle spielt, die so etwas schreibt oder schreiben lässt oder mit anderen gemeinsam verfasst.
Ich will das noch einmal betonen, ich zweifle nur an einigen Erzählungen, nicht daran, dass sich hier Rassismus Bahn gebrochen hat. Die Auseinandersetzung wird härter, daran besteht überhaupt kein Zweifel – was der DFB hätte tun können, um Özil nicht die Gelegenheit zu einer solchen Einlassung zu geben, habe ich oben beschrieben. Ich hoffe, man lernt daraus, denn hier steht eine Menge auf dem Spiel.
Zum Beispiel die Integration.
Mindestens die im Sport. Es kommt in Stadien immer wieder zu Übergriffen gegen Spieler mit Migrationshintergrund, das ist beinahe zwangsläufig, bei der vorhandenen Hooligan-Unkultur, da können die Vereine noch so viele Einzelpersonen sperren. Dann spielen sich die Dinge eben außerhalb ab, wie etwa, dass Mannschaftsbusse attackiert werden. Es gibt immer viel zu tun, beim Thema Integration, darüber kann man dicke Bücher schreiben.
Aber ich bin trotzdem optimistisch. Angesichts des hohen Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund, die Fußball spielen, wird dies alles unweigerlich voranschreiten. Ich schaue nach Frankreich, wo sie uns jetzt wieder um einiges voraus sind. Spätestens in den 2030ern wird es aber auch hier eine NM geben, die einen super Fußball spielt und in der vermutlich die Spieler mit Migrationshintergrund schon überwiegen werden. Niemand wird dann hoffentlich aus einem Einzelfall eine Generaldebatte wie die jetzige ableiten, falls es nochmal zu einem solchen Fall kommen sollte. Und noch einmal zurück: Es gab ja zur WM 2014 diese Werbekampagne, die zeigen sollte, dass alle diese Spieler mit ihren unterschiedlichen Hintergründen gut integriert im Sinn des Sports und allgemein sind. Ich habe gerade nicht in Erinnerung, ob Özil darin besonders herausgestellt wurde, aber so habe ich die damalige Mannschaft empfunden und wusste doch, dass sie nicht repräsentativ ist, weil die hervorragende materielle Aufstellung von Spitzenfußballern eine Ausnahme darstellt und weil sie allgemein hohe Anerkennung genießen. Aber so, wie dieses Integrationsteam nicht zu verallgemeinern ist, trifft dies jetzt auch auf die „Causa Özil“ nicht zu.
Wie groß ist der Schaden wirklich?
Der Fall des Rücktritts von Mesut Özil wird keine Ewigkeitswirkung haben, vor allem nicht, wenn er richtig aufgearbeitet wird. Aber selbstredend wirft er auch ein Licht auf die Lage im Ganzen und auf die Medienlandschaft und bei mir läuft im Hinterkopf schon mit, ob ich jetzt Özil nicht auch zum Sündenbock mache, weil ich mich darüber ärgere, dass er den Spaltern hier und in der Türkei solch eine Steilvorlage geliefert hat. Und, siehe oben, wenn die EM 2024 doch in der Türkei ausgetragen wird, macht mich das nicht froh, auch wenn viele in der Türkei Wahlberechtigte, die in Deutschland leben, die dortige Politik untertützen. Was mir übrigens auch zeigt, dass die politische Aufklärungsarbeit bei uns mangelhaft ist. Und das bedeutet für mich Integration, Demokratieverständnis zu fördern, nicht, jemandem vorzuschreiben, wann er wo zu wem zu beten hat oder nicht.
Ich bin nicht in Özils Situation und verstehe überdies seinen Charakter ganz gut, aber gerade deshalb meine ich, man darf diesen bei der Bewertung seiner Aussagen nicht beiseite lassen. Andere Spieler, die wegen ihrer Art angegangen wurden, wie etwa Andy Möller, einer der Weltmeister von 1990, hatten keinen Migrationshintergrund und man muss bei der Özil-Kritik berücksichtigen, was ist fachlich berechtigt und was ist rassistisch.
Ich würde mich nicht zu der Definition einiger Medien versteigen wollen, die jetzt Özil zum Testemonial für alle ihre Rassismus-Vorwürfe gegen alles und jeden machen wollen, und daher betonen, Özil habe quasi die WM 2014 allein gewonnen und dass er jetzt der beste Spieler war, das ist definitiv nicht der Fall. Die Spieler, welche 2014 das Team prägten, heißen Lahm und Schweinsteiger und Neuer und mittlerweile ist auch Boateng ein Spieler mit Führungsqualitäten. Özil hat 2018 nicht ganz so viele dramatische Pannen verursacht wie einige andere, aber aus dieser Mannschaft jemanden besonders positiv herauszuheben, ist zumindest nicht sehr zielführend, was die Analyse des deutschen Auftritts angeht. Da war, vor allem im ersten und im dritten Spiel, ein mentales Problem zu beobachten, die Spieler wirkten verunsichert oder schluffig und unkonzentriert – und das hätte Mesut Özil nicht ins Positive drehen können, egal, welchen Hintergrund er hat. Es hat einfach im Team nicht gestimmt. Daran waren viele Spieler beteiligt und auch diejenigen, welche solch ein Team auf ein Turnier einzustellen haben. Und die haben bekanntlic keine Konsequenzen gezogen und sind nicht zurückgetreten.
© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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