Das Scheinversprechen – das Konzept der Diversität verschleiert gravierende Ungerechtigkeit (Rubikon / Chris Hedges)
Medienspiegel 40
Der neue Rubikon-Newsletter kam heute und enthielt Hinweise auf alle Beiträge, die in den letzten sieben Tagen erschienen sind. Gleich den ersten Titel fand ich sehr interessant, wie ich überhaupt finde, dass „Rubikon“ unter den „Alternativen Medien“ eine Art Sonderstellung einnimmt, weil in der Tat die Themenvielfalt breit, das Layout angenehm ist – und zumindest mich regen vor allem die Artikel zum Nachdenken an, die ein bisschen weiter ausgreifen und nicht die Themen behandeln, die ohnehin von der „Gegenöffentlichkeit“ den ganzen Tag rauf und runter besprochen werden. Gleichzeitig führen wir mit diesem Medienspiegel-Beitrag unsere Bewertungsgrafiken „großflächig“ ein – sie werden künftig in vielen unserer Kommentare, Medienspiegel oder Analysen enthalten sein. Denn warum sollten wir die Beiträge kommentieren, wenn wir nur solche brächten, denen wir voll zustimmen? Die Kritikfähigkeit und daraus folgend die aktive Auseinandersetzung ist’s Panier, das gilt auch für den verlinkten Beitrag.
Ich war sehr gespannt darauf, wie ein Pulitzer-Preisträger die aktuelle Rassensituation in den USA bewertet. Ich kenne nicht alle Pulitzer-Preisträger namentlich, zugegeben. Also las ich erst einmal zu Ende – glücklicherweise, denn wenn ich gewusst hätte, dass hier ein Nicht-Afroamerikaner am Werk ist, hätte ich es möglicherweise gar nicht getan. Also hat wieder ein Weißer ein Statement zur Lage der anderen abgegeben und ich finde es bemerkenswert, dass dies natürlich seine These stützt: Überall, wo Menschen kritisch sind, müssen es Weiße sein, weil die anderen nur dann an die Töpfe dürfen, wenn sie eben nicht kritisch dem System gegenüber sind. Zitiere darf man aber die kritischen anderen, die aber wohl noch nicht so weit oben sind, das hat Hedges auch getan. Aber diejenigen, die wirken, als hätten sie es geschafft – ja, Essig.
Wie zum Beispiel Präsident Barack Obama, der hier, und da sind wir natürlich wieder ganz bei der gängigen Lesart der Alternativmedien, als Marionette des Establishments dargestellt wird. So gesehen, war seine Präsidentschaft kein Meilenstein, sondern ein Trick des Establishments, um den Nicht-WASPS zu suggerieren, dass Diversität ein Erfolgsmodell ist. Oder war Obama ursprünglich ein Produkt der „affirmative action“, mithin der Quote und wurde dann von der Diversität übernommen?
Gibt es eine solchermaßen scharfe Trennung zwischen der bewussten Förderung von Minderheiten und der „Diversität“? Oder geht nicht beides miteinander einher und kann zusammen viel Positives bewirken? Die schlagenden Zahlen, die Hedges bringt, nämlich, wie die Afroamerikaner durch die Wirtschaftskrise noch mehr verarmten als andere Ethnien, sind traurig, aber sind sie ein Beweis gegen die Fortschritt, die durch Diversität erzielt wurden und widersprechen sie nicht gar der Logik der „Affirmative Action“? Sicher waren die Zeiten im Jahr 1964, als Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act erließ, hoffnungsvoller als heute, aber alle Erfolge der Afroamerikaner seitdem, die sie in Kunst, Wissenschaft, Politik erzielt haben, sind Augenwischerei, inszeniert durch die weißen Mächtigen?
Da ja „Rubikon“ solche Beiträge nicht ohne Hintergedanken veröffentlicht, dürfen wir davon ausgehen, dass sie den Leser hierzulande animieren sollen, über den Stand der Dinge bei uns nachzudenken. So, tun wir also. Heißt das jetzt, für die Quote, aber gegen die Diversität in Form integrativer Einbindung oder freundlicher Gleichgültigkeit im Allgemeinen? Diese Interpretation liegt hier nah. Wenn ich sage, ich finde es bezeichnend, dass ein Weißer diesen Beitrag verfasst hat, müsste ich grundsätzlich festhalten, dass es noch weiter hergeholt wirkt, wenn eine Person ohne Mitgrationshintergrund, wenn man von meiner Einwanderung nach Berlin absieht, in Deutschland diesen Beitrag nun kommentiert.
Aber er ist ja auf uns gezielt, wenn er von „Rubikon“ übernommen wird. Nun haben die hiesigen Menschen mit Migrationshintergrund keine Sklavengeschichte hinter sich, die sich mit uns, mit mir oder meinen Vorfahren, verbinden würde. Aber man kann ohne Weiteres den Sprung zur Diskriminierung und zum Rassismus, der sich in vielfältiger Benachteiligung ausdrückt, vollziehen. Zumal in unseren Zeiten der angeregten Rassismusdiskussion. Und natürlich lassen sich daraus Wiedergutmachungsforderungen ableiten. Die werden aber nach meiner Ansicht in einer Mischung aus Affirmative Action und Diversität bereits verwirklicht. Nicht in der freien Wirtschaft allerdings, die das Recht hat, Stellen nach ihren Wünschen zu besetzen. Interessanterweise gibt es übrigens in meiner Partei Quoten, offene und verdeckte, für wirklich fast alles, aber nicht für Menschen mit Migrationshintergrund. Vermutlich würde das auch eine Totquotierung bedeuten oder man müsste eine andere wie die Strömungsquoten, die Regionalquoten oder sogar die Geschlechterquoten kippen, damit nicht am Ende nicht, wie in letzter Zeit, die Mittelmäßigkeit, sondern sogar das Untermittelmäßige siegt.
Dafür kann man bei solchen Vorgängen aber nicht von einem „Drehbuch“ sprechen. Ein solches würde ja beinhalten, dass oben bestimmte immer gleiche Menschen die Fäden in der Hand behalten, also in diesem Fall: Jemand kommt im Auftrag der USA daher und schreibt irgendwem, der das ja alles steuern muss, vor, dass meine Partei diesen ganzen Quotenkram gefälligst einzurichten hat. Selbst wenn ma die gesamte Politik für unterwandert hält, das halte ich für etwas schräg (und dann ergibt es sowieso keinen Unterschied, welchen ethnischen Hintergrund jemand hat, die Gewinner sind immer die Großkapitalisten).
Dass alle an formalen Kriterien und nicht rein talentorientierten Förderungssysteme Qualitätsprobleme aufwerfen, lässt sich aus dem Beitrag ebenfalls herauslesen. Dann wäre es aber Sache der Menschen mit Migrationshintergrund, kämpferisch links zu sein in ihrem eigenen Recht und für ihre eigene Sache – und genau da gibt es bei uns leider überhaupt nichts. Im Gegenteil, entweder haben Menschen mit Migrationshintergrund Positionen in etablierten Parteien, in denen sie wahrgenommen werden, das kommt jetzt schon vor, oder sie sind so konservativ, dass sie die Gesamtprogression der Gesellschaft nicht fördern können. Eine originär migrantische, kämpferische echte Linke, die fehlt bei uns bisher komplett. Das ist ein Unterschied zur Bürgerrechtsbewegung in den USA, die aus einer anderen Einwanderungsgeschichte resultiert. Der Klassenkampf, sagen wir Linken, der soll uns nicht spalten, sondern vereinen. Egal, welcher Herkunft oder Hautfarbe wir sind. Und nicht uns alle in unendlich viele Gruppen tröpfeln lassen, die einander spinnefeind sind, denn dies nutzt nur dem Neoliberalismus. So sehen es ja auch Sozialisten in der Linken oder gar Kommunisten überwiegend. Aber dem steht doch entgegen, dass Migranten sich dem Scheinaufstieg verweigern und stattdessen den Klassenkampf mit ethnischem Impetus führen sollten. Und dann, wer mit wem? Viele können ja auch miteinander nicht wirklich gut, während man in den USA immerhin sagen kann, die 13 Prozent Afroamerikaner sind doch eine hinreichend machtvolle Gruppe. Eine, deren Geschichte von der aller anderen Einwanderer verschieden ist.
Kaum jemand, der eine Aufstiegschance hat, lässt sie aus Gründen des Klassenkampfes einfach liegen. Das freiwillige Zurücktreten ist uns Menschen oder doch der überwiegenden Mehrzahl von uns wesensfremd. Und natürlich wäre der Aufstieg von Barack Obama nicht möglich gewesen, wenn die Mächtigen in der Demokratischen Partei ihn nicht auch als Symbolfigur geschätzt hätten. Aber dass ein Präsident staatstragend ist und sich den geltenden Maximen beugt, das ist ja kein spezielles Merkmal aufgestiegener Menschen aus Minderheiten. Aber ausgerechnet die Angehörigen von Minderheiten sollen sich selbst beschädigen, indem sie den Aufstieg verweigern? Selbstredend hat Barack Obama sozial- und wirtschaftspolitisch einiges erreicht und die Krise von 2009 gut gemanagt. Dass ihm die Linken bei uns seine außenpolitische Stromlinienförmigkeit im Sinn der Eliten nachtragen, machte ihn nicht zu einem schlechten Präsidenten im Ganzen, sondern er hat diesen Kompromiss akzeptiert. Um im Inneren etwas bewirken zu dürfen, dafür musste er einen Preis bezahlen. Einen Deal eingehen, wie sein Nachfolger Trump es nennen würde. Und dieser Deal ist, wenn die Erzählung vom Deep State stimmt, ziemlich rassenneutral.
Man kann es den Aufsteigern also nicht verübeln, dass sie sich ins System eingliedern, denn wenn das System so mächtig ist und die Macht in der Hand weniger konzentriert, kann es nur durch sie selbst Veränderung erfahren. Und was soll da noch die Abschichtung zwischen kämpferischen proletarischen Afroamerikanern und angepassten höhergestellten Afroamerikanern? Dieser Rückschluss zeigt uns, wie tückisch in Wirklichkeit die Idee ist, die Welt sei in der Hand weniger Menschen und alle anderen seien Marionetten. Denn jedes Mal, wenn ein linker Politiker, welcher Hautfarbe immer, nach oben kommt, dann wird er ja nach dieser Lesart zur Marionette des Systems. So gesehen, ist es sogar Quatsch, dass alternative Medien gegen das System anschreiben. Nützt doch nichts. Die Machtlosigkeit bleibt. Die Ungerechtigkeit bleibt.
Bester Beweis: Man lässt die Schreiber einfach machen und als Ventil für v-theoretische Schnappatmung fungieren, anstatt dass das System sie ernst nimmt und wirklich gegen sie vorgeht. Und wenn das System sie stattdessen auserkürt, sie aufsteigen lässt? Kritische Masse aller Ethnie, Hautfarben und Klassen adé.
© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
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