Der letzte Patient – Tatort 778 / Crimetime 47

Crimetime 47 / ES 21.10.2010, Titelfoto © NDR, Marc Meyerbröker

Emotionaler Aggregatzustand: Unter Null, aber dann versagt die Kühlung

Da passt die Frage gut: Wie fühlt es sich an, kalt, abstoßend, traurig und vielleicht sogar spannend? Nach der langen Sommerpause die erste Tatort-Rezension. Da haben wir uns gleich was Schwieriges ausgesucht. Man wird ein wenig zum Voyeur seiner selbst, weil man sich ohnehin gerade mit emotionalen Farben und Temperaturen beschäftigt.

Schwierig, aber gut gewählt. Die Idee hinter dem Film ist die große Einsamkeit unserer Zeit, die zu emotionaler Abstinenz, zu Verwahrlosung, zu Ausnutzung, zu Überforderung und zu Übergriffen führt, Erscheinungen, man spürt es, die es nicht gäbe, wäre die Welt in Ordnung und wären alle Menschen eingebettet in tragfähige Bindungen.

Wie gut passt da Charlotte Lindholm als Kommissarin und dass sie gerade von ihrem Freund verlassen wurde, ja, auch diese Superpolizistin hat jemanden emotional ausgenutzt und fügt sich mit ihrer Alleinmutter-Rolle gut ins Schema ein. Wunderbar weht die melancholische, alle Relationen hinterfragende Stimmung des Wirtschaftskrisenjahres 2009 durch „Der letzte Patient“, obwohl Gründe für die überbordende Einsamkeit in dieser Zeit nicht benannt werden.

Als Krimi ist „Der letzte Patient“ vergleichsweise sauber konstruiert, das Jugendamt konstituiert sich immer mehr zu einem düsteren Ort, von dort aus wird den Schwächsten der Schwachen, nämlich Kindern ohne Heimatfamilie, nicht geholfen, sondern sie werden verschachert an andere, die Defizite im Bereich menschlicher Berührungen im wörtlichen und im übertragenen Sinn aufweisen.

Handlung

In einem Vorort von Hannover wird Dr. Silke Tannenberger tot in ihrer ausgebrannten Praxis gefunden. Es war kein Unfall, wie sich schnell herausstellt. Charlotte Lindholms Vorgesetzter, Kriminaldirektor Bitomsky, besteht darauf, dass sie höchstpersönlich diesen Fall übernimmt. Er kannte die Ärztin flüchtig, wie er behauptet. Vor Ort trifft Charlotte auf Oberkommissarin Anja Dambeck, Musterexemplar einer berufstätigen Mutter, die Beruf und Familie perfekt organisiert – für Charlotte ein rotes Tuch. Das Motiv für den Mord an der alleinstehenden Ärztin ist indes völlig unklar. Bei den Ermittlungen kreuzt immer wieder der verwahrlost wirkende Jugendliche Tim Charlottes Weg. Zudem stößt die Hauptkommissarin auf ein Videotagebuch, das Frau Dr. Tannenberger über ihre Männerbekanntschaften geführt hat. Unter anderem auch über Bitomsky.

Rezension

Wo, wenn nicht im Norden der Republik mit den vielen ernsten, düsteren Menschen, könnte dieser Tatort entstanden sein? Dieses Mal passt Vieles zusammen, was sonst manchmal nicht so richtig zu funktionieren scheint.

Charlotte Lindholm, die Kühle mit den plötzlichen Eruptionen – wie hier in der Verhörszene mit dem Jugendamtler – ist wie geschaffen für die Rolle als Ermittlerin in einer Welt, von der man während des Films immer wieder denkt: Wie schrecklich, und doch – wie denkbar. Es gibt Missbrauchsfälle der hier gezeigten Art und vielleicht schlimmere. Die Charaktere im Film, das muss man Drehbuch und Regie hoch anrechnen, werden vergleichsweise differenziert dargestellt, ihre Motivationen erklären sich vor allem aus ihrer verzweifelten Suche nach Nähe und dem Wunsch, sich selbst und andere noch auf irgendeine Art zu spüren.

Da kann ein lernbehinderter, sanfter Junge wie Tim König (Joel Basmann) zur Fläche für Projektionen und zum Objekt für Obsessionen werden und eine Ärztin hilft ihm und stirbt dadurch; ausgerechnet eine Frau, die als  Einsamste der Einsamen erscheint und alles, was sie anfasst und leiden lässt, zu einem kühlfarbigen Videoarchiv gerinnen lässt. Das mag ein wenig künstlich erscheinen, aber es wirkt gleichermaßen eindringlich.

In diesem Kontext trifft es sich gut, dass in Folge 778 Charlotte Lindholm ihren getreuen Martin Felser (Ingo Naujoks) verliert; dieser Krimischriftsteller macht sich still vom Acker, weil es in die Dramaturgie eines Falles passt, in dem keine Menschen gewonnen, sondern verloren werden. Charlotte verliert also ihren Adlatus, ihren still leidenden Wohnungsgenossen, der weibliche Don Quixote, der gegen das allumfassende zwischenmenschliche Grauen kämpft wie gegen Windmühlenflügel, seinen Sancho Pansa, der immer da ist und im Notfall auffängt. Jetzt fängt niemand mehr auf und so kann es passieren, dass Charlottes Söhnchen David auf die nächtliche Straße läuft, wodurch, in logisch stimmiger Kausalkette, ein anderer, größerer Junge sein Leben verliert. Es ist nicht Charlottes Schuld, aber sie hat dessen Tod mitverursacht. Mehrere Männer, darunter auch Lindholms Vorgesetzter Bitomsky (Torsten Michaelis), verlieren ihre emotionale Andockstation, die Ärztin Silke Tannenberger (Christin König), das Jugendamt verliert einen Wikinger und eine Pflegefamilie wird um ein Haar durch ihren überforderten Vorstand ausgelöscht.

Am Ende ist der Fall gelöst und Lindholm steht auf einem Balkon oder einer Dachterrasse des Landeskriminalamts Hannover. Die Kämpferin kämpft darum, ihren Vasallen wiederzubekommen, doch der macht dicht und sie spricht einmal mehr nur mit seiner Mailbox. Vielleicht ist das besser so, denn würde er jemals für mehr infrage kommen als für seine bisherige Rolle? Wohl nicht, denn Charlotte Lindholm ist dadurch ein grundsätzlich einsamer Mensch, dass sie Ansprüche stellt, an sich und andere, die äußerst schwer zu erfüllen sind.

Das macht sie in manchen Folgen unsympathisch, in „Der letzte Patient“ jedoch hatten wir beinahe Mitgefühl. Weil sie Risse zeigt und doch Haltung bewahrt, unbeschadet der körperlichen Verhörszene mit dem feisten Jugendamts-Wikinger. Durch den Abgang ihres Martin wirkt Charlotte mit einem Mal verletzlicher und intensiver als bisher. Hoffentlich wird das in der Folge genutzt, um ihre oft sehr schroffe Art, mit anderen umzugehen, wenigstens mit einer sinnvollen Prämisse zu versehen, sei es Selbstschutz, sei es dieses persönliche Anforderungsprofil, das sie der Welt entgegenstellt.

Manches in diesem Film ist nur angedeutet, nicht ausgespielt, und doch wirkt er weitgehend komplett und dadurch  modern. Es wird nicht alles explizit und mit dem Holzhammer erklärt, aber am Ende wirkt alles geklärt, fallmäßig und die Personen und ihre Handlungsweisen betreffend. Einzig die dialektische Gegenüberstellung der Supermutter und Mittelmaßpolizistin Dambeck (Christina Große) mit der als Mutter etwas verpeilten Top-LKA-Beamtin Lindholm ist ein wenig übertrieben deutlich. Wir haben seit einiger Zeit den Verdacht, dass vorwiegend projektorientierte und an maximaler frühkindlicher Inputorganisation orientierte Kindererziehung etwas Mechanisches und dem tieferen Wesen des Menschseins und den emotionalen Grundbedürfnissen junger Menschen nicht maximal Zugeneigtes hat, jetzt wissen wir’s genau – obwohl keines der Kinder von Frau Dambeck als Beweisobjekt im Bild erscheint und obwohl der konventionell gemanagte David Lindholm für sein Alter von vier Jahren eher rudimentäre Sprechfähigkeiten aufzuweisen scheint.

Es gibt eine Szene, deren Ende offensichtlich herausgeschnitten wurde, und damit etwas wie einen technischen Fehler: Als Fabian in das Schlafzimmer seiner Pflegefamilie kommt und sich übers Bett beugt, in dem alle Familienmitglieder den Tod erwarten – offenbar wendete er sich gerade zu seinem Pflegevater und wollte diesen anschreien, doch da hat meinen einen Cut gemacht, vielleicht, weil es zu theatralisch geworden wäre. Diese Szene hätte man neu drehen sollen, trotz eines gewissen Aufwands. Sonst ist der Tatort 778 State of the Art gemäß seiner Ausrichtung als Melodram im Krimiformat. Einige Bildsymbolik ist selbstverständlich enthalten, am deutlichsen die des Mülls auf einer riesigen Halde, der zerschreddert wird, nachdem der tote Tim in genau jenem Müll gefunden wird. Nichts spricht dafür, einen Toten so auffällig und schnell aufffindbar zu platzieren, als ebenjene Symbolik. Menschlicher Müll, totes Fleisch, von einer grausamen Welt in kleine Schnipsel zerteilt, entpersönlicht, ohne Chance, zu einem großen Ganzen zu wachsen, und schnell vergessen und entsorgt. Wegwerfmenschen in einer Wegwerfgesellschaft. Wir haben das verstanden und in diesem Moment waberte der Gestank eines verfaulten Wertesystems aus dem Bildschirm heraus direkt auf unser Sofa.

Fazit

Für uns ist „Der letzte Patient“ eine der besten bisher gesehenen Lindholm-Folgen, weil das Thema zur Ermittlerfigur passt und weil er vergleichsweise sauber und ohne Extremeffekte ausermittelt wird. Zudem hat er eine zwar nicht sehr ausgeklügelte, aber klassische Dramaturgie, die dem Prinzip der konsequenten Steigerung zum Finale hin huldigt. Keine Wechsel von spannenden und lyrischen Momenten, sondern eine subtile Anhebung des Grauen-Pegels von Minute zu Minute. Nicht nur der Täter wird am Ende dieses klassischen Whodunnits enthüllt, sondern auch viel, viel Abgründiges aus der Gefühlswelt der Jetztzeitmenschen. Schicht um Schicht häuten sich hier die emotionalen Zwiebeln.

Stellenweise wirkt das ein wenig konstruiert, aber vielleicht empfindet man das gerade deshalb so, weil es eben doch eine Form von Wahrheit hat, die wir nicht mögen: Es wird immer nur das zugegeben, was gerade sein muss, und wir daran nicht mögen ist, dass es immer Männer sind, die hier mehr und mehr preisgeben müssen, dass sie im Grunde arm sind. Nicht einmal Lindholms Kriminaldirektor kommt unbeschadet durch diese Parforce nach dem Kern dessen, was unsere emotionale Aufstellung ausmacht. Dieser Kern, so suggeriert es „Der letzte Patient“, ist in Wirklichkeit ein Hohlraum. Diese Konstruktion, die wir selbst dank der Entscheidung für bestimmte Werte und gegen andere gewählt haben, lässt unsere Persönlichkeit eiern, denn es fehlt das Gewicht in der Mitte, das für Stabilität und für geräuscharmes, gleichmäßig und harmonisch drehendes, anderen Menschen zugewendetes Dasein sorgt.

Dieser Tatort ist sicher nicht für jeden Krimifan ein Genuss, er rührt an Dinge, wirft Fragen auf, denen sich nicht jeder so gerne stellt – wir fanden diese Fragen sinnvoll und richtig und geben die bisher höchste Note für einen Lindholm-Tatort: 8,0/10.

© 2018, 2012 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Besetzung
Hauptkommissarin Charlotte Lindholm – Maria Furtwängler
Annemarie Lindholm – Kathrin Ackermann
Kriminaldirektor Stefan Bitomsky – Torsten Michaelis
Dr. Silke Tannenberger – Christin König
Jörg Sallwitz – Jan Messutat
Oberkommissarin Anja Dambeck – Christina Große
Fabian Grimm – Pit Bukowski
Tim König – Joel Basmann

Stab
Regie – Friedemann Fromm
Buch – Astrid Paprotta

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