„Aufstehen“, von links kritisiert (Susan Bonath, RT Deutsch) / #RTDeutsch #RT #Wagenknecht #Lafontaine #Aufstehen #SusanBonath #Marxismus #Kapitalismus #Kapitalismuskritik

Analyse 10

Wir kommen leider nicht mehr nach mit den Äußerungen zu #Aufstehen und mehr als eine pro Tag zu kommentieren, würde doch irgendwann auf eine Manie hindeuten – insbesondere stellen wir jetzt ein neues Statement von Bernd Riexinger zurück, das am 24.08. im „nd“ veröffentlicht wurde.

Auf RT Deutsch gibt es natürlich auch Positives über Sahra Wagenknechts Bewegung zu lesen – doch eine dezidierte Meinung gegen „Aufstehen“ von ganz links hat eher Seltenheitswert und wird deshalb zumindest in der linken Szene häufig zitiert. Aber wer ist Susan Bonath?

Ich habe leider keinen Wiki-Eintrag über sie gefunden, aber sie hat eine eigene wöchentliche Kolumne bei RT, die aber „Tagesdosis“ heißt und das in diesen Beiträgen Niedergeschriebene kann man nicht als systemaffin bezeichnen. Sie ist auch für die „Junge Welt“ tätig. Weil diese Kritik eher die Ausnahme darstellt, dafür ein etwas längerer Beitrag unter der Rubrik „Analyse“.

Trennen wir das, was sonst von ihr zu lesen ist, von diesem Beitrag ab?

Besser ist das auf jeden Fall, sonst kommen wir vom Hundertsten ins Tausendste und „Aufstehen“ – siehe oben – ist medial derzeit sowieso kaum zu bewältigen. Vielleicht aber doch das eine oder andere Zitat aus anderen Veröffentlichungen, wenn es der Erläuterung der Positionen von Bonath hilft.

Der Beitrag beginnt so: „Die Reichen werden reicher, Armut breitet sich aus. In den Industrienationen zittert vor allem die untere Mittelschicht vor einem drohenden sozialen Abstieg. Eine Umweltkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes bahnt sich an, die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg wächst. Immer mehr Menschen spüren die wachsenden Verwerfungen im globalen Spätkapitalismus. „Wie kommen wir da heraus?“, lautet eine oft gestellte Frage.  

Könnte doch von Sahra Wagenknecht selbst stammen?

Bis auf die Umweltkatastrophe, die kommt bei ihr nicht so prominent in einem sozusagen Meta-Statement zu allem vor. Stimmt aber, man muss diesen Aspekt gleichrangig nennen.

Tobt wirklich ein derartiger Kampf um „Aufstehen“, wie Bonath schreibt?

Immer wird man gezwungen, doch metasprachlich zu werden. Bonath schreibt Kampfrhetorik, da sind Auseinandersetzungen sofort Kämpfe. Aber wenn man den letzten Bundesparteitag der LINKEn in Leipzig ein wenig verfolgt hat, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, selbst mittendrin ist Kampf. Kampf gegen und für in der eigenen Partei.

Vertröstung auf den 4. September?

Ja, und? Einen angekündigten Start als „Vertröstung“ zu bezeichnen, ist eine Wertung, wo keine hingehört. Diese Art von Manipulation erzeugt bei mir generell Missbilligung. Schlechter Einstieg.

Aufwendig produzierte Videos, von denen man nicht weiß, wofür sie stehen.

Soweit bin ich mit Medienarbeit vertraut, dass ich weiß, dass der Aufwand für diese Filmchen sich in Grenzen hält – und es gibt nette Linke, die den Grundsatz von der Guten Arbeit aus Idealismus auch mal über Bord kippen und beispielsweise für die Partei was umsonst produzieren. So geschehen im letzten Bundestagswahlkampf in meiner Gliederung. Wenn also behauptet wird, diese Videos seien ehrenamtlich erstellt worden, dann muss man das erst einmal so hinnehmen, bis man das Gegenteil beweisen kann. Weiter unten schon wieder dieses Insistieren – wer steckt bloß hinter dieser irren Medienpräsenz? In mir wächst der Verdacht, dass der Autorin nicht klar ist, warum der Kapitalismus so zäh ist und gegen den Realsozialismus gewonnen hat. Sie hat kein Feeling dafür, was man günstig herstellen kann und was wirklich  hohe Wertschöpfung voraussetzt. Deswegen auch diese Halbunterstellung, die in der Frage liegt, wer das wohl alles finanziert. Klar, unterwandert sein kann jeder, der Erfolg hat und dadurch in den Fokus von irgendwem rückt, der Einfluss nehmen will. Aber dieses implizit V-Theoretische führt doch an dieser Stelle nicht weiter.

Und wofür stehen sie? Für das, was die Menschen denken, die dort zu Wort kommen. Ob ihnen das eingeflüstert wurde vom „Geist von Oben“? Darum geht es überhaupt nicht. Sondern ob sie eben authentisch wirken und einen Querschnitt der Unzufriedenen abbilden. Oder wenigstens einen Ausschnitt, wir wollen sie ja nicht gleich als repräsentativ ansehen. Und die Namen der dort Sprechenden in Anführungszeichen zu setzen, ist typischer Propagandismus, der die Glaubwürdigkeit des Gesagten schmälern soll. Welche Zeitung hat welchen Staat lange Zeit in Anführungszeichen gesetzt? Genau, es war die BILD, auf die DDR („DDR“) bezogen. Jüngere wissen das vielleicht nicht mehr,  daher sei diese Querfrontmasche hier erwähnt. Es ging schlicht darum, damit die Existenzberechtigung und die legitime Staatlichkeit der DDR anzuzweifeln. Allerdings hatte die BILD damals 6 Millionen Leser, so viele wird Bonath mit allen Beiträgen zusammen nicht erreichen, deswegen war der Schaden, den die BILD mit ihren Verunglimpfungen anrichtete (und immer noch anrichtet, obwohl sie mittlerweile nicht mehr so viel Einfluss hat wie vor 30 Jahren) ungleich größer.

Die Informationsankündigungen werden als Beleg für „Von oben und Klappe halten“ bezeichnet, die Mitglieder der Bewegung hätten demnach nichts zu sagen.

Das ist der erste Punkt, bei dem wir tatsächlich einsteigen können. Wer die Briefe des „Team Sahra“ kennt, weiß, dass es offenbar eine Art Konventwesen geben soll. Ich muss klar sagen, ich würde es für falsch halten, wenn Profis, die seit Jahren genau wissen, wofür sie stehen, eine Amateurbasis ermächtigen würden, „Aufstehen“ wieder genauso chaotisch und zersplittert in nie endenden Diskussionen zu verschleißen wie – beispielsweise DIE LINKE, die fast mehr Gruppen und Cluster hat als Mitglieder. Ich fände eine Scheinpartizipation schlecht, offenbar traut man sich aber nicht, klar zu sagen: Wer uns folgen will, soll’s tun, wer eh schon wieder gegen das ist, was wir vertreten, hat in der Bewegung nichts zu suchen. Es gibt noch kritische Begleiter wie mich, die sollte man nicht ausschließen, aber ich stehe ja hinter den Grundpositionen von Wagenknecht; meine Sorge ist eher, dass diese durch heftiges Basisgrummeln zu sehr hinterfragt werden. „Aufstehen“ ist in der Tat keine Graswurzelbewegung, sondern eher ein Projekt wie das von Jean-Luc Mélenchon und anderen, die sich eine Bewegungswelle zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele organisieren. Es kommt auf die Ziele an.

Wagenknecht trat aus der KPF aus, um der Karriere willen.

Das ist richtig. Sonst wäre sie nicht einmal in der LINKEn nach vorne gekommen, war sowieso schwierig genug und bleibt schwierig. Nur ihre Popularität, ihre deutlich sichtbare Marke hat ihr geholfen, nicht ihr Herkommen und auch nicht ihre Persönlichkeitsstruktur.

Im Grunde ist sie eine Anti-Establishment-Fraktionschefin, weil die Mehrzahl der Funktionär_innen in der LINKEn nicht hinter ihr steht.

Ich mag die Menschen aus der KPF, die ich bisher kennengelernt habe, weil sie ideologisch klarer sind als alle anderen in der LINKEn – aber sie wissen auch, dass sie in der Partei nur eine Randgruppe darstellen. Sie sagen sich, besser in einer Partei, die es wenigstens bis in den Bundestag schafft, eine Randgruppe, als bei der DKP oder MLPD oder wo auch immer verortet und in der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen werden. Dass sie nicht den Mainstream in der LINKEn darstellen, ist aber nicht die Schuld von Wagenknecht. Auch sie hätte diese Position durch ihren Verbleib in der Gruppierung nicht geändert, sich aber noch mehr Angriffen von allen Seiten ausgesetzt gesehen. Sie hat einige Positionen im Lauf der Zeit revidiert, aber ich sehe diesen Austritt vor allem als Kompromissangebot für die nicht-marxistischen Kader und natürlich nach außen. Das Kommunistinnen-Etikett hätte ihr medial geschadet, daran besteht für mich kein Zweifel.

Aber Bonath ist sauer wegen des Verrats?

Sieht so aus. Ich komme später noch einmal darauf, erst weiter im Text.

Die „Auswirkungen des Kapitalismus“: Kriegstreiberei, Armut, asozialer Reichtum– kritisiert von Wagenknecht jeden Tag, wird eher lapidar oder als läppische Kritik an Symptomen abgehandelt.

Leider muss ich Bonath hier Recht geben. Das ist Symptomkritik. Ich kenne das Gegenrechnungskonzept der LINKEn, das tatsächlich die Schwarze Null fortschreibt, um die Finanzierung der sozialen Forderungen auf systemimmanente Weise darzustellen und DIE LINKE dadurch in den Augen der neoliberalen Wirtschaftsfachleute seriös wirken zu lassen. Dieses Paradoxon ist nach meiner Ansicht aber nicht auf Betreiben von Wagenknecht zustande gekommen. Der Ausgang des Bundestagswahlprogramms 17, zu dem dieses Gegenrechnungspapier gehört, liegt bei Katja Kipping und Bernd Riexinger.

Unabhängig davon: Es ist Symptomkritik, die vorgetragen wird und die jemanden, der sie jeden Tag hört, auch irgendwann langweilt, weil sie nichts Konzeptionelles hat. Dieses Unkonzeptionelle ist in der Politik zwar weit verbreitet, aber die Konservativen und Liberalen haben ja die Ordnung, die sie wollen, warum sollen sie an Konzepten für ein anderes Morgen arbeiten? Das müssen die Linken wirklich tun.

Will Wagenknecht zurück zu Erhardt und Brandt?

Susan Bonath möge es verzeihen, aber in deren Ära ging es den Deutschen im Westen eindeutig besser als denen im Osten jemals während des Bestehens der DDR. Das wieder zu erreichen, wäre bereits ein riesiger Schritt. Eine Herkulesaufgabe, weil man schon dafür gegen den weltweiten Strom anschwimmen muss. Ich würde es Wagenknecht und Lafontaine hoch anrechnen, wenn sie in zehn Jahren nur die Hälfte der Sicherheit und des Wohlstands für (fast) alle zurückholen könnten, den es in der BRD in den frühen 1970er gab. Wir müssen heute den Stand von heute als Ausgangsbasis für die Politik von morgen nehmen, alles andere ist Unsinn.

Insbesondere wird Lafontaine wegen seiner „rechten Asylpolitik“ und der „Wirtschaftsflüchtlinge“ angegriffen.

Wagenknecht stellt immer wieder klar, dass das Asylrecht großzügig gehandhabt wissen will, mehr kann sie da nicht tun. Und darüber hinaus jetzt die Grenze für alle zu öffnen, macht die Asylpolitik sowieso obsolet und ist im System und vom System nicht verkraftbar. Ich kann nichts dafür und Wagenknecht auch nicht, dass wir ein System haben, das nicht unendlich belastbar ist. Aber: Es fehlt eben das Konzeptionelle, damit arbeiten auch Wagenknecht und Lafontaine bisher zu wenig. Ebenso wie ihrer Gegner in der Partei. Gäbe es eine richtige Zeitschiene, wäre zumindest die Positionen betreffend, sogar eine Annäherung möglich.

Kann man die AfD schwächen, indem man deren Wähler rechts abholt?

Niemand weiß das gegenwärtig genau und wie weit man dafür nach rechts gehen muss. Es hängt stark davon ab, ob die meisten aus Protest gegen soziale Probleme AfD wählen oder ob sie überwiegend rassistisch sind. Dazu gibt es widersprüchliche Studien, Aussagen, Eindrücke. Der Erfolg der Bewegung darf jedenfalls nicht davon abhängen, dass fast alle, die AfD wählen, plötzlich links werden. Aber es gab im Osten eine große Anzahl von Menschen, für die der Sprung von „links“ nach rechts nicht so groß gewesen zu sein scheint. Dazu müsste Frau Bonath mal etwas sagen. Ich habe schon Vermutungen darüber, aber die sind nicht sehr DDR-freundlich.

Ist der linke Grundkonsens, alle Armen der Welt in die gleichen Rechte zu setzen?

Generell ja, aber natürlich nicht sofort, auf einen Schlag. Erst einmal muss das Steuerrad in die Hand genommen und gedreht werden, und der Kapitalismus ist ein Supertanker, den zu wenden und ihn dann noch zum Abwrackdock zu fahren, dauert ein bisschen. Das meine ich aber: Konzeptdenken ist allen Beteiligten an dieser Diskussion verdächtig fremd. Kapitalismus hin oder her, das kann jeder, der ein wenig Management gelernt hat und vielleicht einmal mit strategischen Aufgaben in einem Unternehmen befasst war, weitaus besser als alle, die ich bisher in dieser politischen Debatte gehört oder gelesen habe. Auch Marx hat übrigens nicht vom Ende, sondern vom Anfang her gedacht und vielleicht könnten die Marxisten sich ja mal darauf besinnen und ihre Forderungen daran ausrichten. Ich glaube aber, da hat der Realsozialismus, den es in Deutschland angeblich einmal gab, einen großen Anteil mit verheerenden Auswirkungen: Die Planwirtschaft ist diskreditiert, also lasst uns bloß  keine richtigen Systemkonversionspläne machen.

Lieber das Utopische ins Heute und sein System stellen und damit dafür sorgen, dass, wie Bonath richtig bemerkt, die Armen die Last zu tragen haben. Ich will das Land wirklich nicht als Vorbild darstellen, aber die KPCh plant unverdrossen und China ist das einzige wichtige Land der Welt, das einen strategischen Masterplan hat. Was es dafür alles nicht gibt, ist eine andere Frage und der Staatskapitalismus natürlich auch, der die Umwelt genauso zerstört wie jeder Kapitalismus. Ich will also nicht sagen, es muss ein ähnlicher Plan sein, aber es muss langsam mal einer erstellt werden. Schlechte Erfahrungen aus dem ehemaligen Ostblock könnte man nach 30 Jahren planlosem Neoliberalismus nach Einzelaspekten untersuchen: Psychologische Dispositionen von Menschen wurden damals beispielsweise zugunsten von ideologischen Standpunkten zu sehr vernachlässigt, das kann man aber besser machen.

Bonath kritisiert die Rhetorik von der „Hilfe vor Ort“ als Alternative zu „alle dürfen hierher kommen.“

Ich würde mir da auch mehr Ehrlichkeit wünschen. Eine Linke, die nicht mal in Deutschland das Sagen hat, kann da so gut wie gar nichts tun, also gar nichts, von einigen Idealisten abgesehen, die sich „vor Ort“ persönlich betätigen. Und selbst eine linke Regierung hierzulande hätte nur dann Einflussmöglichkeiten auf der Weltbühne, wenn bis dahin in den großen Ländern ein Linksruck parallel zu dem bei uns stattgefunden hätte. Meine Erkenntnis leitet mich aber in eine andere Richtung: „Aufstehen“ soll sich bitte erst einmal auf das Machbare konzentrieren. Die Symptome und die Gründe dafür benennen, das kann Wagenknecht mit ihrer guten Theorieschulung nicht schwer fallen, aber: Wir sind in einem Prozess, und der fängt hier und heute an und nicht in der Sahelzone oder an der Wall Street. Eine Bewegung, die so weit ausgreift, dass sie in die Spalte zwischen Realität und Anspruch fällt, hilft niemandem. Wir haben schon eine Partei, der diese Divergenz dabei schadet, Mehrheiten zu gewinnen. Auf die Schlepper-Rhetorik und dergleichen gehe ich jetzt nicht ein, weil ich sie für nebensächlich halte.

Der Humanist muss klassenpolitisch denken, meint Bonath.

Natürlich. Das ist es: Langfristig muss der Kapitalismus überwunden werden. Aber das schreibe ich heute nicht erstmalig: Wenn’s schnell gehen soll, sollen doch bitte Bonath et alii mal endlich eine revolutionäre Situation herstellen, anstatt alle Ansätze zu bemäkeln, die sich der Realität stellen. Im Moment sieht aus, als sei nur der evolutionäre Weg möglich. Ich kann die Sorge verstehen, dass man bei stecken bleibt, etwa bei Brandt und Erhardt, wenn’s hoch kommt. Womit weltweit eben keine Solidarität erzielt wäre, denn diese Konzepte waren für ein zerstörtes Industrieland gedacht, das sich sozusagen von selbst wieder aufbaut, mit all den Skills, die noch vorhanden waren. Das kann man nicht in andere Weltregionen übertragen. Und natürlich müssen die Produktionsmittel umverteilt werden. Aber nicht alle. Manche müssen nur besser reguliert werden. Wer aber in einer der „Tagesdosis“-Kolumnen behauptet, dass ein Drittel aller Neuwagen zum Wegschmeißen produziert würden, wohlgemerkt: weltweit, ohne Einschränkung, der hat nicht verstanden, warum der Kapitalismus nicht so ineffizient ist, aber auch nicht so viel Quatsch verträgt, wie Bonath ihm unterstellt. Das ist schon sehr widersprüchlich. Kein Autohersteller, der ein Drittel Ausschuss produziert, wäre nicht innerhalb weniger Jahre vom Markt verschwunden. Sowas geht nur in staatsgelenkten Systemen, weil es eben keine Konkurrenz gibt, die es besser macht.

Das ist nicht marxistisch.

Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand: uneingeschränkt ja. Und Banken, die nichts als Bürgergeld verschlingen ebenfalls und dann abwickeln oder den genossenschaftlichen Modellen angliedern. Aber es hat einen guten Grund, dass ich ein Befürworter echter Genossenschaften bin, nicht der uneingeschränkten Staatslenkung: Weil sie psychologisch viel besser aufgestellt sind. Es gibt einen guten Interessenausgleich in ihnen und ein gemeinsames Ziel aller, das daraus entsteht. Es gibt keine Profitgier, aber auch kein Staatsversagen, das aus mangelndem Zwang zu gutem, ressourcenschonendem Wirtschaften resultiert. Aber der Staat hat die Rahmenbedingungen dafür zu setzen, dass solidarische und nachhaltige Wirtschaftsmodelle umgesetzt werden können. Das ist, neben der Sicherung der Daseinsvorsorge, seine Hauptaufgabe, nicht aus Großkonzernen stalinistische Großkombinate zu machen.

Nun wird ein Papier erwähnt, das auf einem Kongress der Sozialdemokraten 1907 (!) in Stuttgart zustande gekommen ist. Da es ein Zitat ist, zitieren wir es hier weiter:  Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an.

Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhilfe der von der Aus- und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss fremder Nationalitäten oder Rassen.

Dagegen erklärt es der Kongress für eine Pflicht der organisierten Arbeiterschaft, sich gegen die im Gefolge der Masseneinwanderung unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren, und erklärt es außerdem für ihre Pflicht, die Ein- und Ausfuhr von Streikbrechern zu verhindern.

Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines aus hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und niederer Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen.“

Dieses Statement umreißt doch im Prinzip schon genau die heutige Diskussion.

In jenen Jahren oder besonders in den Jahrzehnten zuvor wanderten mehr Menschen aus Deutschland aus als dass welche hineinkamen, obwohl es im internationalen Vergleich weit besser aufgestellt war als heute. Die USA waren trotzdem für viele Ärmere noch verlockender. Ich empfehle, diese zitierten Absätze mehrmals zu lesen. Steht da irgendwo drin, wie das dort beschriebene Dilemma in praxi aufgelöst werden soll? Ich sehe nichts dergleichen, alles wieder Festlegung auf theoretischer Ebene. Und das ist noch heute so und deswegen bringt ein „sowohl als auch“ gar nichts.

Man kann nicht einerseits konstatieren, dass es Mist ist, dass immer neue Wellen unorganisierter Arbeiter das Lohndumping fördern und andererseits sagen: Ja, aber es darf nicht dazu kommen, dass die, die schon hier sind, ihre Standards verlieren. Es gibt gute Argumente darüber, dass die USA auch deshalb miserable Arbeitnehmerrechte haben, weil die große gewerkschaftliche und gesellschaftlich konsensfähige Organisation der Arbeitnehmer_innen dort nie möglich war, dies wiederum, weil immer wieder neue, hungrige Einwanderer kamen, die das kapitalistische System ohne große Bedingungen fütterten.

Also muss man doch erst an das System heran, bevor man die Grenzen komplett öffnet. Im Deutschland der Gründerzeit hingegen wurde der Arbeiter als wertvoll angesehen, der Facharbeiter zumal, weil er gebraucht wurde und nicht in unbegrenzter Anzahl zur Verfügung stand. Wer jetzt fragt „Kommt uns das nicht bekannt vor?“, der hat einerseits recht, andererseits: Der Kapitalismus hatte damals nicht die enormen Allokationsprobleme wie heute. Was umso mehr für seine Ablösung spricht, aber genau dieser Umstand, dass er sich nur noch rentiert, wenn man die Arbeitenden so richtig ausquetscht, verschärft ja noch die Probleme einer ungesteuerten Einwanderung.

Aber wie den Kapitalismus überwinden? Mit der SPD und den Grünen, wie Wagenknecht meint?

Wagenknecht hat immer zu denen gehört, die auf Abstand zu 2RG-Lösungen gingen. Nach meiner Ansicht schließt die Kooperation mit anderen Parteien aber die Weiterenwicklung nicht aus. Nur eben nicht so, wie diese beiden Parteien im Moment aufgestellt sind, sagt Wagenknecht selbst: „Nicht wir sind nicht regierungsfähig, sondern die anderen.“ Stimmt ja, aus linker Sicht. Und ich sehe auch, dass eine 2RG-Bundesregierung eine des Kompromisses sein wird. Selbst die nach Bonaths Ansicht zu wenig revolutionäre Haltung Wagenknechts wird nicht vollständig in einen solchen Kompromiss einfließen. Aber deshalb ist die konzeptionelle Arbeit so wichtig: Damit nicht ein Zwischenstadium mit etwas mehr Sozialstaat und vielleicht sogar etwas mehr Frieden, soweit es deutsche Einflussmöglichkeiten auf Krieg und Frieden erlauben, für das Ende der Geschichte gehalten wird. Soweit mir bekannt ist, hat Marx ebeb nicht gefordert, dass der Kommunismus von heute auf morgen und überall verwirklicht werden muss.

Im Gegenteil, er hat hochentwickelte Länder als die Vorreiter gesehen, die andere  nachziehen. Als er 1868 „Das Kapital“ herausbrachte, war Deutschland noch nicht eindeutig das Vorreiter-Land, einige Jahrzehnte später hingegen schon. Es hätte so weitergehen können, wenn nicht – ja, wenn nicht  mehrere Parteien die Weimarer Republik sabotiert hätten, die einzige Staatsform, die nach dem Krieg noch gerade möglich und unter sehr schwierigen Umständen sozial entwicklungsfähig war. Es ist ein Glücksfall, dass nach der Nazizeit die BRD bis zu einem gewissen Grad ihren eigenen Weg gehen durfte. Im Grunde galt das ja für ganz Kontinentaleuropa und besonders für die nordischen Länder, dass man also diesseits des Ärmelkanals mehr Sozialstaat zulassen konnten als in den USA oder England. Dadurch haben wir wenigstens ein Modell für die nächste zu erreichende Zwischenstufe, von dem wir immerhin wissen, dass es grundsätzlich funktioniert hat und dies auch unter den heutigen Bedingungen höchstwahrscheinlich tun würde. Ich glaube, dass Menschen, die etwas verändern und bewegen wollen, sich jetzt erst einmal daran orientieren und nicht an gescheiterten „realsozialistischen Systemen“, das hätte Marx verstanden.

Bonath wiederholt nochmal für alle, die sich nicht kennen, die Grundzüge der Kapitalismuskritik.

Und schreibt, dass Wagenknecht diese ebenfalls kennen sollte. Ich bin sicher, genau dies ist der Fall. Aber sie hat sich entschlossen, in die Politik zu gehen und nicht auf dem hohen ideologischen Ross sitzen zu bleiben und von dort an die Grundlagen zu erinnern. Und die Politik ist bestenfalls ein Progress als Prozess, schlimmstenfalls Stillstand und Rückschritt. Ich wähle dann lieber den progressiven Prozess und hoffe, er führt weiter und hoffe, wir können ihn so gestalten, dass er weiterführt und dies außerdem denen deutlich machen, die sich bewegen wollen – damit er sichtbar für alle wird.

Die Gefahr, dass auch Bewegungsmacher dem Glanz der Privilegien erliegen, die können wir nicht ausschließen, wie denn? Auch die Kader im Realsozialismus hatten, wie wir alle wissen, nicht die Mühsal der wirklich Gleichen zu erleiden. Doch so autoritär die Bewegung auch sein mag: Wenn Wagenknecht und Lafontaine Ziele setzen und diese nicht mehr konsequent verfolgen, dann kommt der Moment, in dem von unten Druck gemacht werden muss. Einstweilen bin ich froh, dass „von oben“ oder woher auch immer jemand kommt und die träge Masse mitnehmen will.

Denn von allein schafft diese Masse es nicht, wie die komplette Unwirksamkeit ganzer Hundertschaften von sozialen Sparten- und Kleinbewegungen und Thinktanks zeigt. Nicht die einzelnen Menschen in dieser Masse sind träge, es gibt viele, die sich zivilgesellschaftlich einbringen, aber sie haben es verlernt, daraus einen großen, gemeinsamen, nach vorne gerichteten Willen zu formen. Natürlich ist das ein Erfolg des Neoliberalismus, der uns zu Einzelgängern erziehen wollte und, damit wir nicht ganz einsam rumsitzen und doch mal ins Nachdenken kommen, woran das wohl liegen mag, die Mikromilieu-Sozialisierung zugelassen hat. Jedem sein eigenes Inselchen, zusammen mit Friends & Peers im diversen Universum. Aber Vorsicht, die Plattform-Ökonomie zerstört auch diese Strukturen bereits.

© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke


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