Vielleicht – Tatort 922 #Crimetime 73 #Tatort #Berlin #Stark #RBB #Vielleicht

Crimetime 73 - Titelfoto © RBB, Frédéric Batier

Spooky Berlin

„Nach 13 Jahren und 31 gelösten Fällen nimmt der Schauspieler Abschied von der erfolgreichsten in Deutschland produzierten Krimireihe. Die Tatort-Folge 466 „Berliner Bärchen“ aus dem Jahr 2001 war Starks erster gemeinsamer Fall mit Kommissar Till Ritter (Dominic Raacke). Die beiden Ermittler bildeten seitdem ein festes Gespann; jeder konnte sich auf den anderen blindlings verlassen. Doch Alijnovic will „aufhören, wenn es am schönsten ist.“ Der heute 47-Jährige erklärte jüngst in einem Interview, der Tatort sei ein „stabiles Format“ (dpa). Mit seiner Abschiedsfolge „Vielleicht“ sei der Schauspieler sehr zufrieden, wie er sagt. Sein Kollege Raacke hatte sich nach dem erklärten Ausstieg von Boris Aljinovic bereits aus der TV-Reihe zurückgezogen, so ist der Tatort „Vielleicht“ ein Solo-Auftritt des Berliner Hauptkommissars Felix Stark.“ (Tatort Fans)

Felix Starks letzter Fall ist einer der ungewöhnlichsten in der Tatortgeschichte, weil er sich zum sogenannten Zweiten Gesicht bekennt, und dies ganz kompromisslos. Wie auch das Ende trotz ungeklärter Dinge kompromisslos ist. Wieder ein besonderer Tatort für Liebhaber von Grenzüberschreitungen.

Handlung

Es ist Nacht in Berlin. Die norwegische Studentin Trude Bruun Thorvaldsen wacht unter Alpträumen auf. Trude lassen die Bilder keine Ruhe, sie geht zur Polizei und berichtet Kriminalhauptkommissar Felix Stark und dem Polizeipsychologen Robert Meinhardt über den Mord aus ihrem schrecklichen Traum.Zwei Monate später wird die Studentin Lisa Steiger erwürgt aufgefunden. Die junge Frau hatte sich von ihrem Freund Florian getrennt. Stark und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Bald zeigen sich Parallelen zu Trudes Aussage. Hat sich ihre Vorahnung erfüllt? Starks Chefin Karin Breitenbach fürchtet, Trude geht mit ihrer merkwürdigen Geschichte über das zweite Gesicht an die Presse. Das kann Stark verhindern. Aber er glaubt Trude und versucht, ihre Visionen mit Hilfe seiner Kollegin Paula Wimberg zu entschlüsseln.

Dann gerät Trude in Lebensgefahr. Stark und sein Team können den Mörder fassen. Als Trude erneut von Mordvisionen gequält wird, fühlt Stark mit, wie sehr die Psychologiestudentin unter ihrer seherischen Fähigkeit leidet. Der Fall beansprucht seine Nerven, denn Trudes Visionen betreffen auch ihn. Wird Stark trotz seiner enormen Anspannung einen weiteren Mord verhindern können?   

Rezension – vielleicht wird alles gut

Man weiß es nicht. Man weiß nicht, ob Felix Stark den seltsamen Schuss am Rand der schusssicheren Weste vorbei quer von oben nach unten durch den Körper überleben wird, der wie eine ironische Hommage auf die Erklärungen zum Kennedy-Mord bezüglich der dritten Kugel wirkt, die eine unmögliche Schussbahn hatte und die so schwer dazu herhalten konnte, die Alleintäter-These zu stützen. Aber Stark stand einer Einzelperson gegenüber, und soviel ist sicher, diese Schussbahn von oben vorne nach unten hinten geht nicht, wenn der Täter vor dem Opfer stand oder dieses im Fallen nach hinten, nicht nach vorne ist.

Schwamm drüber. Es ist nicht logisch. Die unheimliche Trude sagt es mehrmals. Es ist nicht logisch. Warum soll also ausgerechnet die Schussbahn logisch nachvollziehbar sein? Vielleicht sollte man künftig in jeden Tatort jemanden einbauen, der sagt: Es ist nicht logisch! Damit könnte man kruden Plotfehlern Absolution erteilen. Aber wenn es nicht logisch ist, dann muss es wenigstens einen besondern Touch haben oder, wenn schon nicht, wenigstens spannend sein.

Und das war es. Es war nicht emotional, auch am Ende nicht, als der Arzt kam und sagte: vielleicht. Aber es war dicht und mit der eigentümlichen, machtvollen Präzision gefilmt, die seit „Machtlos“ im Januar 2013 der Berliner Stil ist. Damals noch mit Till Ritter. Mit dem der heutige Tatort übrigens undenkbar gewesen wäre. Sein wurschtig-rebellisches und platt realitätsorientiertes Wesen hätte dem Konzept des heutigen Tatorts entgegengestanden. Aber Stark, das haben wir schon hier und da erwähnt, der guckt tiefer und dieses Mal, ganz allein, ist er so tief und so stark wie nie zuvor. Da hat er zum Schluss dem alten Kollegen und dem Nachfolgeteam noch einmal gezeigt, wo der Hammer hängt. Sein Schauspiel lässt ihn mühelos größer wirken, als er ist. Besonders, seit der körperlich Größere weg ist. Diese beinahe diskrimierenden Pat und Patachon-Wirkung der beiden hat uns immer gestört.

Eigentümlich ist dieser Tatort schon deshalb, weil ausgerechnet die Berliner sich einen Stil zu eigen gemacht haben, der sehr nordisch wirkt, den die Skandinavien-Tatorte aber in der Form gar nicht haben: Still  und kraftvoll, konzentriert und so ruhig, dass man nicht einmal in der Mensa irgendwelche Hintergrundgeräusche hört, wenn wichtige Figuren dieses Tatorts sich miteinander unterhalten. Alles ist nach innen gerichtet und hat Angst, nach außen  zu treten, weil es so laut ist, in der Stille. Nein, berlintypisch ist das keinesfalls – aber es ist eine Art der Stilisierung, die wir in Ordnung finden. Mehr als das, wenn man’s mit den zuvor gezeigten Tatorten der Stark-Ritter-Ära vergleicht. Endlich gibt es mehr als diese hohle Großstadtromantik, Fassaden, Einsamkeit, Ritter auf der Pirsch, Stark auf Abstand.

Ob das beim neuen Team beibehalten wird? Ob das, was gerade auf Felix Stark so gut zugeschnitten ist, dazu passt? Vielleicht. Doch am Ende des Tages stehen die besten Tatorte der Berliner am Ende der Liste, und das ist doch wunderbar. Kein mehr oder weniger elegisches Dahindämmern in die unkenntliche Mittelmäßigkeit, wie zum Beispiel in Ludwigshafen. Die Kölner machen es ähnlich wie die Berliner. Sie haben den packend-dramatischen Stil entdeckt, um ihren Ermittlern Ballauf und Schenk einen zweiten Frühling zu gönnen.

Einen solchen wird es für Felix Stark nicht mehr geben, dem eine Seherin aus dem hohen Norden sein mögliches Ende geweissagt hat. Und welch eine Frau. Einst wäre sie verbrannt worden, schon der unheimlichen Augen wegen. Ob man da digital nachgeholfen hat, wissen wir nicht, aber in der Szene mit der Freundin Lisa hat man ja die Gesichter der beiden Frauen nacheinander gezeigt, und es fällt auf, wie flach und leer die Augen durchschnittlicher Menschen gegenüber denen von Trude wirken. Da tun sich Abgründe auf. Und dass sie aus dem mystischen Norden kommt, ist klar. Man stelle sich eine Italienerin als Seherin vor, passend zum tödlichen Restaurant. Undenkbar.

Sie geht wieder weg aus Berlin. Schade, denn besondere Menschen braucht eine Stadt, die besonders sein will. Aber wir stellen es uns so vor: Sie kommt aus einer weiten Landschaft, in der wenige Menschen leben. Selbst dort hat sie Ahnungen, die sie unglücklich machen. Aber dann will sie Psychologie studieren in einer Stadt, in der die Menschen dicht gedrängt leben und in der ständig etwas passiert. Obwohl sie nur Dinge entdecken kann, die sich in der Nähe zutragen, zum Beispiel im Abstand LKA 321 zu einer Pizzeria in Tempelhof, also im selben Bezirk, tut sich immer was und sie wacht jeden Nacht schweißgebadet auf. Dass sie ausgerechnet Psychologie studieren will, ist – pardon – logisch. Und doch, ist es nicht. Denn was muss es für eine Qual sein, als Behandler zu sehen, was den Patienten demnächst passieren wird? Da wäre Architektur besser gewesen.

Das Schicksal von Trude, aber auch das von Stark ist auch Einsamkeit, vom Stil des Films so unterstützt, dass dieses abgeschieden sein trotz der Dienststellungumgebung des Ermittlers sehr deutlich wird. Wie die Großstadt bei allem Lärm nichtssagend still sein kann und uns anschweigt, wenn wir tiefer schauen möchten. Dies Innenleben im Bauch von Berlin hat noch viel Potenzial, das werden aber Starks Nachfolger ausloten müssen.

Fazit

Über die Handlung als Kriminalfall gibt es wenig zu erählen, weil die Handlungen aller Personen unter der Ägide dessen stehen, was Trude sagt – und diese Tendenz verstärkt sich immer mehr, je mehr sich erweist, dass sie tatsächlich seherische Fähigkeiten hat. Man hat die Machart amerikanischer Formate wie Akte-X in einen Tatort eingebunden und damit den Tatort von vielen seiner Pflichten als Krimi entbunden. Es wird auch schön ermittelt, ganz nebenbei, den Vorwurf, man habe nur gewartet, dass die Seherin etwas sieht, kann man dem Team nicht machen.

Aber das Stochern im Heuhaufen, etwa auf der Suche nach der Pizzeria, wirkt so melancholisch-schön. Ja, man kann die Einrichtungen der Restaurants heute googeln, fast alles ist auf Bewertungsplattformen wie Qype zu sehen oder auf den Webseiten der Gaststätten selbst, man muss nicht, wie Stark, ratlos an der Ecke Hauptstraße-Grunewaldstraße in Schöneberg stehen, wo dann doch nichts ist. Aber es hat uns trotzdem gefallen, weil wir uns ihm in dem Moment recht nah fühlten.

Mit „Vielleicht“ hat man für Felix Stark einen Abschiedstatort gemacht, in dem er sich mit allem zeigen konnte, was er drauf hat und der Traute hat, und mehr kann man nicht erwarten – wir hoffen, dass alles gut wird für den kleinen Ermittler mit den großen, hellsichtigen Augen. Wird dieser Tatort einmal zu den Großen des Formats zählen? Kommt unter anderem darauf an, wie sich die Reihe weiterentwickelt. Heute kann man nur sagen – vielleicht.

Unser Wertung: 8/10

Aus der Vorschau zur Premiere 2014

Ganz sicher, nicht vielleicht

Es gibt kein Zurück: Jetzt schon ohne Till Ritter wird Felix Stark (Boris Aljinovic) seinen letzten Tatort für den Rundfunk Berlin-Brandenburg begutachten. Für ihn ist es der 31. Fall in nunmehr dreizehn Jahren. Dreizehn ist eine gute Zahl, finden wir dieses Mal.

Mit „Machtlos“ und „Gegen den Kopf“ haben die Berliner 2013 gezeigt, dass sie es drauf haben. Dass sie aus dem unharmonischen Duo Ritter und Stark einiges herausholen können, wenn die Drehbücher stimmen und das Filmen etwas verbindlicher wird. Wenn die Stärken der Typen zugelassen werden und sie nicht künstlich auf alles Mögliche gebürstet werden, was ihnen nicht steht. Die beiden können eben nicht alles, was bei Dominic Raacke (Till Ritter) am Typ lag und an der Kapazität, bei Aljinovic schon an der Körpergröße. Eine so eindeutige Definition wie bei anderen Teams gab es für die Charaktere aber lange Zeit nicht, dass man aus den Begrenzungen hätte einen Vorteil gewinnen können.

Um Berlin, das schon schwere Tatort-Zeiten und überhaupt schwere Zeiten hatte, ist uns nicht bang, egal, ob das neue Team sofort einschlägt oder nicht: Meret Becker als bekannter Name und Marc Waschke als junges Gesicht. Beides gibt es allerdings bei den neuen Teams der letzten Jahre im Überfluss. Die großen , teilsweise gut bekannten Namen und dann die Gesichter, die noch Persönlichkeiten werden wollen.

Wir sind gespannt, ob der neue Tatortkern kerniger werden wird als die Weltstadtallüren, die in Berlin jahrelang abgefilmt wurden und so ein seltsames Gefühl von mangelnder Substanz, auch hinter den Fassaden, die man ja genau so darstellen wollte, hervorgerufen haben. Aber dabei belassen wir’s jetzt auch, denn wir sind durch die letzten Tatorte aus der Hauptstadt versöhnt. Wenn auch nicht verwöhnt. Dazu müsste eine Kontinuität des Überdurchschnittlichen entstehen, von der wir uns doch immer wieder fragen, wo die in Berlin herkommen soll, solange Vieles nicht einmal durchschnittlich funktioniert.

Wir verhehlen nicht, dass wir ein ähnliches Gefühl haben wie bezüglich der Berliner Politiker: dass wir dem neuen Team entspannter entgegenblicken, dass wir alles Neue hoffnungsvoll begrüßen. Mehr, als dass wir bisherige Protagonisten vermissen werden. Vielleicht kommt die Reue noch, wenn‘ schlechter wird.

Ein schlechtes Zeichen ist leider dieses Mal der Titel: Den so zu googeln, dass man eine vernünftige Programmvorschau in angemessener Suchzeit bekommt, ist quasi nicht möglich. Ebenso ging’s uns beim ausfindig machen eines vernünftigen Titelfotos, daher haben wir’s beim Tatort-Logo belassen. Kein Wunder, bei diesem banalen Wort. Also haben wir auf den Tatort-Fundus zurückgegriffen und hoffen, man wir’s uns verzeihen. Wir verweisen ja auch in unseren Beiträgen oft auf diese Plattform und hoffen, es gibt dadurch zusätzlichen Betrieb auf beiden Seiten. Nach der folgenden Inhalts- und Personenübersicht kehren wir noch einmal zur Wahrnehmung des Berliner Teams zurück – dieses Mal anhand von Zahlen.

Rückblick

Manchmal haben die Berliner dort angeklopft, wo die Top-Teams unter den heute aktiven Tatort-Ermittlern zuhause sind. Nach dem offenbar hoch bewerteten „Zahltag“, den wir noch nicht gesehen haben, stand die durchschnittliche Bewertung der Stark-Ritter-Tatorte knapp unter 7/10, das ist ein sehr ansehnlicher Wert, um den heute Teams wie die Kölner Ballauf und Schenk oder die Münchener Batic und Leitmayr kreisen – gegenwärtige liegen beide knapp darunter.

Doch dann kam das, was wir auch subjektiv wahrnahmen. Eine gewisse Verflachung, die aber, das muss man fairerweise sagen und die Stark-Kurve (siehe Grafik unten) weist es aus, auf einem recht hohen Niveau stattfand. Beachtlich ist auch die Gleichmäßigkeit der Bewertungen – insofern gab es durchaus eine Kontinuität. Es fehlten eben bis beinahe zum Schluss die Highlights. Dafür hat man auch keine dramatischen Flops produziert. Andere Teams weisen größere Schwankungen auf. Am Ende gab es aber „Gegen den Kopf“, der nicht nur rausholt, was Berlin – auch im negativen Sinn – zu bieten hat, sondern auch die Dramatik hat, die man in dieser Stadt wie sonst nirgendwo in Deutschland tagtäglich spürt.

Wir hoffen, der letzte Stark-Tatort wird nochmal ein guter und warten auf den 16. November.

Die nachfolgende Tatortkurve bitten wir so zu lesen: Die gegenwärtigen durchschnittlichen Bewertungen aller Tatorte von Ritter und Stark, chronologisch nach Entstehung. Diese Grafik gibt einen guten Aufschluss über die qualitative Entwicklung eines Teams – selbstverständlich durch die Augen von Fans gesehen. Von versierten Fans allerdings, welche die deutsche Premium-Krimireihe erheblich besser kennen als der durchschnittliche Zuschauer und einen Zugang zum Genre Krimi haben. Diese Fans sind in gewisser Weise aber recht objektiv. Obwohl Ritter und Stark vergleichsweise weniger viele glühende Anhänger haben als etwa die Münsteraner oder die Kölner Ermittler, haben sie „Gegen den Kopf“ gegenwärtig auf Platz eins aller jemals gedrehten Tatorte gestellt. Einfach, weil sie den Film gut fanden (Stand 8. Oktober 2014).

© 2019, 2018, 2014 der Wahlberliner, Thomas Hocke

Hauptkommissar Felix Stark – Boris Aljinovic
Polizeipsychologe Robert Meinhardt – Fabian Busch
Trude Bruun Thorvaldsen – Lisa Risom Olsen
Karin Breitenbach – Birge Schade
Paula Wimberg – Laure Tonke
Maria Schuh – Anjorka Strechel
N.N – Dimitrij Schaad
N.N – Christian Sengewald
Florian – Florian Bartholomäi
Lisa Steiger – Tinka Fürst

Regie und Drehbuch – Klaus Krämer 

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