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Crimetime 194 - Titelfoto © WDR, Michael Böhme

Wie der große Spaß begann

Das heute berühmte und geschätzte Münster-Team Thiel / Boerne gibt hier seinen Einstand. Alle Figuren werden schön der Reihe nach vorgestellt und sind im Prinzip so angelegt worden, wie sie auch heute, beinahe zehn Jahre später, noch für sich und miteinander gut funktionieren.

Gewiss sehen wir in Münster das mit einigem Abstand humorvollste Tatort-Team, das nicht nur aus dem Hauptkommissar und dem Pathologen besteht, sondern aus weiteren, sehr amüsanten Figuren wie Boernes kleinwüchsiger Assistentin Haller (Alberich), Thiels Vater Herbert und der Staatsanwältin Klemm.

Der Fall ist ohne größere Logikschwächen konstruiert, allein der Charakter des notorischen Schwängerers jüngerer Frauen, des Patriarchen Alsfeld, wirkt etwas überzogen, unerklärt, düster – wie das alte Haus, in dem er lebt und in dem er sich am Ende erschießt. Was sonst zu schreiben ist, steht in der -> Rezension.

Handlung

Hauptkommissar Frank Thiel kommt vom Hamburger Kiez und hat sich aus familiären Gründen zur Kripo Münster versetzen lassen. Noch bevor er seine Wohnung, ganz zufällig im Haus des Rechtsmediziners Professor Karl-Friedrich Boerne, beziehen kann, hat er gleich zwei Fälle am Hals. Die Studentin Jennifer Müller sucht ihre Mutter, die möglicherweise ermordet wurde. Fast gleichzeitig wird im Hochmoor die Leiche eines weiblichen Teenagers gefunden, die dort über 20 Jahre konserviert war.

Die Ermittlungen des Kommissars Thiel und des Forensikers Boerne der Uni Münster ergeben, dass beide Fälle auf tragische Weise miteinander verwoben sind. Der wesentlich ältere Freund der Studentin Jennifer, Hermann Alsfeld, ist offensichtlich nicht nur ein reicher Gönner, sondern steht auch in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihr. Schließlich wird ein altes Familiengeheimnis gelüftet, bei dem einige Verbrechen der honorigen Familie Alsfeld zutage kommen.  

Rezension

Wir ziehen also den Vorhang auf für das beste Komikerduo im derzeitigen deutschen Film, schalten das Rampenlicht ein und der dunkle Fleck in der Tatort-Anthologie ist beseitigt. Die Rezension zum Vater und zum Großvater aller Funken sprühenden Münster-Tatorte geschrieben. Wir sahen den Film heute nicht zum ersten Mal, aber gerne wieder.

Im Rampenlicht. Der Reihe nach treten alle diese Figuren auf, von denen sich die Macher Stefan Cantz und Jan Hinter, die zu den erfahrenen Kräften beim WDR gehören,  schon vorher sicher waren, dass sie einschlagen. Mit so viel Genuss und Überzeugung hat jeder seinen ersten Auftritt im Tatort-Universum, mit solcher Selbstverständlichkeit werden die ungewöhnlichsten Figuren, die es je in Münster und anderen deutschen Städten im Polizeidienst und dessen Umfeld gab, auf die Zuschauer losgelassen. Wir malen uns aus, wie das 2002 gewirkt haben muss, als viele der neuen Teams, die ebenfalls humorvolle Ansätze, noch gar nicht am Werk waren.

Die Erstzuseher waren Zeugen von nicht mehr und nicht weniger als einer Sensation. Es ist nicht nur der kauzige, wortkarge Hauptkommissar, der im Verdacht steht, keine Nebensätze zu können. Es ist nicht nur sein Widerpart, der schnöselig-arrogante und doch so weiche Pathologe Boerne (Thiel: „Sie können ja richtig feinfühlig sein.“ Boerne lispelt durch die Zahnlücke: „Morgen früh bin ich wieder mein altes, garstiges Ich“).

Man hätte das alles auch so anlegen können, dass die beiden in eine konservative Umgebung gestellt werden und dort gemeinsam Verwunderung erzeugen. Aber man hat ins Volle gegriffen und die große Komödie inszeniert. Man hat Boerne eine kleinwüchsige Assistentin gegeben, die zu ihrem Chef ein Verhältnis hat, das jedem politisch korrekten Menschen die Haare zu Berge stehen lassen muss. Die beiden schenken sich nichts, aber schenken uns Zuschauern furiose Szenen, in denen mit dem verbalen Florett, wahlweise mit der Axt gefochten wird doch immer, wenn es zu derb wird, dann macht die große Sympathie, die man für beide hat, auch das weniger Erleuchtete auch schön.

Damit nicht genug. Warum kam Thiel nach Münster, von wo er immer so weit fahren muss, um den FC Sankt Pauli absteigen zu sehen? Wegen seines Vaters, eines Hippies, der wie Phönix aus der Asche aus den Ruinen der wunderbaren Welt der 68er steigt und seinen Sohn zur Verzweiflung, uns aber zum Lachen bringt. Der ein Mercedes W 123-Taxi fährt, den letzten echten, aus dem Vollen geschnitzten Mercedes (der leider später durch einen W 124 ersetzt wird).

Aus dem Vollen geschnitzt ist auch die Kette rauchende Staatsanwältin Wilhelmine Klemm, die unvermutet an allen möglichen Ermittlungsorten auftaucht, die sich stets irrt und sich von Thiel über die Schlechtigkeit der besseren Gesellschaft belehren lassen muss und ihre Irrtümer mit Würde trägt.

Thiels Assistentin Nadeshda Krusenstern wird hier sehr schön eingeführt als eine junge Deutschrussin, von der man einiges erwarten darf. Leider wird das in den späteren Münster-Tatorten nicht ausgespielt, die Figur steckt in ihrer Nebenrolle fest und wird nicht zu einer echten Persönlichkeit weiterentwickelt.

Gestern, heute und morgen. Neun Jahre sind sie zusammen, haben viele Schlachten geschlagen und werden uns noch lange erhalten bleiben, sofern sie selbst es wollen. Denn ihre Beliebtheit ist über die Jahre gewachsen, ein Komödienstadl, das nicht nur in Westfalen zieht, ein Tatort als Volksschauspiel, das Kult ist und auf dem Weg zur Legende.

Gerade deshalb lohnt ein Blick aus dem Jahr 2011 rückwärts. Wie waren die Figuren damals, wie sind sie heute?

Dass Nadeshda statisch geblieben ist, haben wir bedauert, weil gerade diese Figur sich hätte verändern können. Mehr als sie haben es aber die anderen getan. Während Jan Josef Liefers seinem Boerne-Charakter in den nächsten Jahren noch mehr Differenzierung und bis etwa 2007/2008 immer weitere Höhepunkt abgewinnen konnte, hat Thiel (Axel Prahl) eine andere Entwicklung genommen. Er wurde ab einem gewissen Zeitpunkt immer prolliger und verkam in 2010 beinahe zu einer Karikatur seiner selbst. Im letzten Tatort aus Münster (799, Herrenabend) hat man versucht, das zu korrigieren, erfolgreich, wie wir meinen.

Der Wortwiz zwischen Thiel und Boerne ist schon gut, hat aber in späteren Folgen noch einmal zugelegt, in den letzten Tatorten aber eine deutliche Kurve nach unten genommen. Frau Haller alias Alberich (Christine Ursprung) hat ebenfalls in späteren Folgen noch schönere Sätze geschrieben bekommen als in der ersten. Da war dann doch vielleicht anfangs noch ein gewisses Zögern, sie und Boerne zu skurril in Szene zu setzen. Als die beiden gut  beim Publikum ankamen, hat man noch einmal etwas draufgesetzt und sich in kinoreife Sketche hineingesteigert.

Statisch bleibt die Figur von Thiels Vater (Claus D. Clausnitzer), von dem wir hoffen, dass er noch lange so rüstig bleiben wird, uns in den Münster-Tatorten zu begleiten.

Der erste Thiel / Boerne ist einer der besten – warum? Obwohl sich in späteren Fällen manches weiterentwickelt hat, obwohl der Witz noch schärfer und stärker wurde, gibt es in „Der dunkle Fleck“ etwas, das man als Harmonie der Disharmonie bezeichnen könnte.

Alle Gegensatzpaare sind sehr sorgfältig austariert und zudem ist der Anfangszauber unverkennbar, denn nichts ist schöner, als wenn Figuren einander kennen lernen und der Zuschauer sie kennen lernen darf. Das ist hier beinahe schon genial gelöst, wie ein Reigen, der Film hat einen unglaublich guten Aufbau und einen Swing, der mit sanftem, sicheren Rhythmus in diese neue Welt einführt. Die neuen Figuren geben sich sozusagen die Klinke in die Hand, tanzen sich mühelos in die Herzen der Tatort-Fans und zeigen sich in exemplarischen Szenen voller Spielfreude als die Charaktere, die wir seitdem lieben gelernt haben.

So viel Fingerspitzengefühl für so viele ungewöhnliche Figuren ist ein Glücksfall, da sind andere Teams weit weniger elegant ins Tatortleben gestartet. Sieger erkennt man am zwar nicht immer, aber manchmal schon am Start und es gibt nichts geht über einen guten, ersten Eindruck.

„Der dunkle Fleck“ ist kein besonders schneller Tatort und hat nichts von den Thrillern, die wir zuletzt rezensiert haben. Das war angesichts der vielen Figuren, die eingeführt werden mussten, auch kaum möglich. Doch der Fall ist technisch sauber gearbeitet und das ist mehr, als man von vielen anderen Krimis, auch von vielen anderen Tatorten neuerer Machart sagen kann. Vielleicht hat die Konzentrationa auf die Figuren sogar geholfen. Sie ließ es nicht zu, den Film mit zu vielen Details zu überfrachten und dadurch den Faden zu verlieren.

Anstatt eines anklagenden Sozialdramas, wie in anderen Tatortstädten setzte man auf hintergründige Symbolik. Der alte Jäger im großen, alten Haus, der Patriarch Hermann Alsfeld (Dieter Kirchlechner) ist eine Figur, die nicht erklärt, nur gezeigt wird. Da hängen unzählige Trophäen an den Wänden und unzählige Frauen hat der Mann vermutlich flachgelegt. Und dabei nicht etwa in fremden Revieren gewildert, sondern unter den Augen seiner Frau seine Tochter geschwängert und später ein Verhältnis mit seiner Enkelin begonnen.

Das Unglaubliche, das darin steckt, ist nicht einmal, dass hier jemand in fremden Gefilden unterwegs war, heimlich, immer in Deckung, immer konspirativ, sondern sich das Recht einfach genommen hat. Dass seine Frau das Benefizfest als Imagewerbung für die Jagd organisiert und gleichzeitig den Mord an der ehemaligen Angestellten in Auftrag gibt, das spiegelt sich ebenfalls wunderschön: Es geht ums Image. Um die Fassade. In beiden Fällen. Und dafür wird kräftig investiert.

Am Ende erschießt er sich, so hat man das Gefühl, nicht aus Einsicht, sondern weil die Fassade der ehrbaren Familie eingestürzt ist. Sein Sohn hingegen wird eher sympathisch gezeigt: „Ich bin kein Jäger“, sagt er. In der Nachbetrachtung erschließt sich, was dies bedeuten soll – er wird nicht die Chuzpe, die selbstverständliche Anmaßung besitzen, sich Frauen einfach zu nehmen, wie sein Vater es getan hat. Eine neue Generation und eine neue Chance, denn niemand kann etwas für seine Herkunft. Das ist die Botschaft hinter diesem einfachen Satz des jungen Ludger Alsfeld (Sebastian Trost).

Auch das ist ein Merkmal der Münster-Tatorte: Große Häuser, in denen Menschen am Ende furchtbar klein werden, um grandios zu scheitern. Dieses Spiel mit den Hintergründen der ehrenwerten Gesellschaft wird nirgends besser beherrscht als in der Westfalen-Metropole. Und auch das macht diese Tatorte so leicht im Angesicht des Verbrechens. Dass die Masken fallen. Dass die Reichen als Charaktere infrage gestellt und klein gemacht werden. Diese Spielart der Sozialkritik ist für viele Zuschauer wesentlich angenehmer, als wenn sie ständig Dramen aus einem Milieu gezeigt bekommen, das dem eigenen verdächtig viel näher ist als das der seltsamen, etwas unwirklichen Familie Alsfeld.

Einer Familie, in der die Ehefrau des Patriarchen einen Mord an einer ehemaligen Angestellten in Auftrag gibt, nur damit diese die Fassade nicht zum Einstürzen bringen kann, unter der sie selbst am meisten leidet. Das sind im Prinzip Charaktere aus Groschenromanen, aber auch das ist ein sehr interessanter Effekt der Münster-Philosophie ausgefallener Charaktere: Durch die Überzeichnung der Ermittler und ihres Umfeldes wirkt die Überzeichnung der Verdächtigen weniger unglaubwürdig und passt sich ins Konzept ein. Wenn ein Professor Boerne in so einem alten Haus auftritt, in dem er vor vielleicht zwanzig Jahren auf einen Flügel gekotzt hat und der Patriarch diese Szene noch genau im Gedächtnis hat, dann ist das Kino, nicht die Wirklichkeit. Aber es ist eine Art von Kino, das wir als stimmiges Konzept akzeptieren. Es ist immer ein Augenzwinkern selbst in den dramatischen Szenen, das merkt man deutlich.

Und in kaum einem Münster-Tatort wirkt die Kombination, die Verzahnung aller Elemente so gekonnt wie gerade in diesem ersten Münster-Tatort.

Fazit

In weiteren Rezensionen werden wir auf weitere Aspekte und Besonderheiten der Münster-Tatorte eingehen, so, wie wir es dieses Mal mit dem Vergleich der Figuren von 2002 mit denen von 2011 getan haben, jeweils dort, wo es sich aufgrund des Falles am besten anbietet.

Mit „Der dunkle Fleck“ war ein Ensemble geboren, das Starqualitäten hat und inzwischen vielfach ausgezeichnet wurde. Für uns ist „Der dunkle Fleck“ der beste Tatort, den wir bisher für den Wahlberliner rezensiert haben, nicht, weil er den besten Fall hat, sondern wegen der kinoreifen Einführung all dieser wunderbaren Figuren. Wer das Medium Film im Allgemeinen und die gelungene komödiantische Spielart im Besonderen liebt, kann nicht anders, als diesen Tatort hoch zu bewerten – 8,5/10.

© 2019, 2011 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Hauptkommissar Frank Thiel: Axel Prahl
Professor Karl-Friedrich Boerne: Jan Josef Liefers
Nadeshda Krusenstern: Friederike Kempter
Silke Haller (Alberich): Chris Tine Urspruch
Wilhelmine Klemm: Mechthild Großmann
Bernd Bulle: Oliver Bokern
Annette Alsfeld: Renate Schroeter
Herbert Thiel: Claus D. Clausnitzer
Hermann Alsfeld: Dieter Kirchlechner
Jennifer Müller: Sandra Leonhard
Ludger Alsfeld: Bastian Trost
u.a.

Regie: Peter F. Bringmann
Buch: Jan Hinter und Stefan Cantz
Kamera: Johannes Geyer
Musik: Paul Vincent Guina

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