Reifezeugnis – Tatort 73 / Crimetime 201 // #Tatort #Tatort73 #Reifezeugnis #Schwarzkopf #Kinski #Quadflieg #NDR #Malente #TatortReifezeugnis #Klassiker #Legende

Titelfoto © NDR / Telepress

Vorwort 2019

Es bleibt, wie es ist. „Reifezeugnis“ ist nicht nur ein Klassiker unter den Tatorten, sondern der Film, der mehr zur Legende und zum Dauererfolg der Reihe beigetragen hat als alle anderen. Es kommt nicht selten vor, dass er gezeigt wird, aber nun zum ersten Mal, seit der „neue Wahlberliner“ online gegangen ist. „Reifezeugnis“ war der erste Tatorte, den wir für das Vorgängerblock gleich zweimal rezensiert haben – in der Anfangsphase der damaligen Beitragsrubrik „TatortAnthologie“ und dann mit mehr Erfahrung noch einmal fast fünf Jahre später. Obwohl wir für die zweite Rezension Auszüge der ersten verwendet haben, stellen wir hier beide Rezensionen vor, die neuere zu Beginn – und um das Special komplett zu machen, die Vorschau vor der Ausstrahlung im Jahr 2011, die Grundlage unserer ersten Besprechung war.

Die Rezension von 2016 haben wir, wie übliche bei der Übernahme von Kritiken aus dem „Altbestand“, leicht überarbeitet, die aus 2011 jedoch optisch und inhaltlich im Original belassen.

Einleitung 2016

Viel gewagt, alles gewonnen

Das Jahr 1977 war ein heftiges. Erst der deutsche Herbst, Tod und Terror und dann ein Tatort, ein Mord oder Totschlag, der viele Fragen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stellt und bei genauem Hinsehen einige Antworten gibt. Bis heute gilt der Film als ein besonderes Ereignis in der deutschen Fernsehlandschaft. Die Chronologie war allerdings so: Erst kam der Tatort, dann der Herbst.

„Reifezeugnis“ war der erste und bis heute einzige Tatort, dem wir eine zweite Rezension widmeten. Viereinhalb Jahre und über 400 Tatort-Rezensionen nach der ersten, die wir weiter unten noch einmal abgebildet haben. Hat sich unsere Sichtweise verändert und wie bewerten wir diesen Tatort mit so viel tieferen Kenntnissen über diese Reihe, die mittlerweile beinahe 1000 Filme umfasst? (1)

Handlung (1)

Sina Wolf ist eine 17-jährige Schülerin aus reichem Hause. Das hübsche Mädchen wird von dem Mitschüler Michael Harms verehrt. Obwohl sie lange Zeit befreundet sind, zeigt sie ihm plötzlich die kalte Schulter. Sina Wolf hat ein Geheimnis. Sie unterhält seit einiger Zeit ein intimes Verhältnis mit ihrem Lehrer Fichte. Als Michael Harms zufällig dahinterkommt, versucht er, Sina zu erpressen und verlangt von ihr Sex. Nach der Schule fahren sie gemeinsam in einen Wald. Dort fällt Michael über Sina her. Sina ergreift einen Stein und erschlägt ihn.

Angsterfüllt fügt sie sich weitere Spuren einer Vergewaltigung zu und erzählt der Polizei, dass Michael Harms sie vor einer Vergewaltigung retten wollte und von dem Täter erschlagen wurde. Die Beschreibung des Täters passt zu einem Mann, der seit längerem als Vergewaltiger in den Zeitungen für Schlagzeilen sorgt. Eine versetzungsgefährdete Mitschülerin kommt ebenfalls hinter das Verhältnis zwischen dem verheirateten Fichte und Sina. Sie erpresst Fichte und bekommt so die Lösung der nächsten Mathearbeit, die sie bei Fichtes Frau, einer Mathematiklehrerin, schreibt und besteht. 

Handlung (2)

Sina, Oberschülerin an einer Kleinstadtschule, verliebt sich in ihren Klassenlehrer. Trotz ausgetüftelten Versteckspiels fliegt die Sache auf. Nicht nur Michael, ein Klassenkamerad, mit dem sie „geht“, merkt etwas, sondern auch eine Klassenkameradin, deren Versetzung gefährdet ist. Sie erpresst ihren Klassenlehrer. Sina wiederum fürchtet sich davor, dass Michael plaudert.

Sie lädt ihn ein zu einem Rendezvous im Wald und gibt – für Michael unerwartet – alle ihre Hemmungen auf. Dies aber war ein eiskalt berechnetes Spiel. Sie ergreift einen Stein und erschlägt Michael. Vor der Polizei behauptet sie, ein Sittlichkeitsverbrecher – seine Personenbeschreibung hatte sie in der Zeitung gelesen – habe sie überfallen wollen. Michael sei ihr zur Hilfe gekommen und dabei von dem Wüstling erschlagen worden.

Rezension

Wie halten wir es heute mit dem Tatort, dem wir bei unserer ersten Rezension im Jahr 2011 das Reifezeugnis fürs Kino bescheinigt hatten und der Ansicht waren, dass die Macher schon wegen der Spiellänge von 110 Minuten wohl auf dem Kino-Trip waren und um die Besonderheit dieses Werkes erahnten.

In der Tat haben sie einiges gewagt und alles gewonnen. Heute gehört „Reifezeugnis“ zu den unumstrittenen Klassikern der Reihe und ebnete seinem Regisseur Wolfgang Petersen in der Tat den Weg zu Kinoprojekten wie „Das Boot“ (1981) und seiner damals erst 17jährigen weiblichen Hauptdarstellerin Nastassja Kinski ebenfalls.

Der längste aller Tatort ist „Reifezeugnis“ aber bei weitem nicht. Die Berliner Tatorte mit Franz Markowitz (Günter Lamprecht) sind häufig sehr lang, „Blutwurstwalzer“ kommt z. B. auf 117 Minuten, ohne dass er, bei aller Sympathie für den damaligen Berliner Ermittler, Kinoqualität aufweist.

Wir hatten einen Grund, zwei Handlungsangaben zu listen. Die moderne, eher neutral wirkende aus der Wikipedia (1) und diejenige, welche die ARD als Programminformation für die Zuschauer bereithält (2), sie wurde auch 2019 noch verwendet.

Haben Sie die beiden Handlungsangaben verglichen, bezüglich ihrer Tendenz, ihrer eventuell darin enthaltenen Wertungen? So einfach ist subjektive Wahrnehmung oder versuchte Manipulation zu erklären. Aber lassen Sie sich nicht beirren: Von „eiskalt“ kann bei Sinas Handeln keine Rede sein, das ist Kopfkino eines Menschen, der die Figur nicht mochte oder er hat gedacht, es sei toll reißerisch, so zu werten, als er diese Zusammenfassung schrieb und ihr gegenüber vielleicht ebensolche Neidgefühle hegte wie die blonde Mitschülerin, die versucht, ihren Nutzen aus der Situation zu ziehen.

Vielleicht ist es etwas unfair gegenüber Tatorten, die man nur einmal angeschaut hat, denn selbstverständlich sieht man bei einer Wiederholung mehr. Außerdem haben wir mittlerweile nur noch einen der insgesamt 7 Tatorte mit Kommissar Finke als Ermittler ausstehen und können daher „Reifezeugnis“ in die Reihe der anderen, noch heute sehr beliebten Fälle dieser kleinen, feinen Kieler Spürnase einordnen.

Fangen wir mit dem Beginn an. Es gibt unseres Wissens keinen anderen Tatort bis auf „Im Schmerz geboren“, der einen „neutralen Narrator“ hat, in dem eine Stimme aus dem Off das Geschehen oder ihre Gefühle kommentiert. Ungewöhnlich ist es selbst im Kino, dass ein Mädchen die Erzählstimme darstellt. In „Reifezeugnis“ breitet Sina ihr schwärmerisch-romantisches Innenleben vor uns aus und das gibt eine unverwechselbare Stimmung vor.

Sie spricht mit ihrem abwesenden Liebsten, vermutlich liest sie für den Zuschauer aus ihrem Tagebuch vor. Derweil fährt die Kamera ruhig über ein hübsches, typisch norddeutsches Gebäude, ein öffentliches, das sich schnell als Schule entpuppt; diese liegt in einer idyllischen Stadt in Schleswig-Holstein. Mit genau jener Ruhe, Kraft und Sicherheit, welche schon in den ersten Szenen erfahrbar ist, entfaltet sich das Drama, das diesen Krimi zwar auch zu einem Melodram macht, aber zu einem, das jeden Vergleich mit einem guten Film noir aushält.

Später gleitet gleitet die Kamera noch einmal beinahe zärtlich über dieses Haus und spiegelt das Bild die Gedanken des Mädchens, die sie wieder an den Geliebten richtet. Doch die Dinge haben sich fortentwickelt. Nichts ist mehr, wie es war, und der Wunsch der jungen Sprecherin, dass es doch so sein möge, ist längst zum Scheitern verurteilt. Das Szenario entblättert sich nach der Eingangsszene aber schnell, und welche zerstörerische Kraft ihm innewohnt, das ahnt man ebenfalls nach wenigen Minuten.

Nächste Einstellung: Wir sehen das Mädchen Sina in Gestalt von Nastassja Kinski, und wir sehen gleich, wie gut Regisseur Wolfgang Petersen wusste, was er an ihr hatte. Er lässt sie in einem Sommerkleid auftreten, während alle anderen Schüler und Schülerinnen die üblichen Jeansklamotten der damaligen Zeit tragen, er separiert sie auch räumlich, macht uns klar, dass sie eine Außenseiterin ist, zu hübsch, zu verinnerlicht, abgeschieden und den Neid und die Missgunst einiger Mitschülerinnen verdient sie sich geradezu zwangsläufig und wird als arrogant eingestuft. Reiche Eltern hat sie auch noch und wohnt in einem großzügigen Bungalow aus den 1960ern mit Seeblick. Außer Michael Harms scheinen aber alle Schüler dort aus besseren Verhältnissen zu kommen, deswegen ist das Abitur auch eine „Prestigefrage“.

„Und so war die Zeit. Verschwenderischer Wohlstand, riesige Panoramafenster, dahinter ein ruhiger See. Keinerlei materielle Sorgen. Selbst Finke macht einmal eine Bemerkung darüber, wie schön diese Leute wohnen. Für heutige Kommissare übrigens undenkbar. Vor allem, es in dieser ruhigen, anerkennenden Art zu sagen (…). Da stimmt jedes Detail in der Kleidung der Jugendlichen, der Ausstattung der Wohnungen und Häuser, der Schule und auch die Art, wie hier mit Schule operiert wird, mit Klassenarbeiten, Schülerheften, mit der Einrichtung der Lehranstalt, wunderbar eingefangen, festgehalten. Auch dank der Überlänge (…) (war dies möglich). (Aus der Rezension 2011)

In der Tat ist der Film sehr detailreich, aber einiges aus der früheren Rezension müssen wir mittlerweile etwas relativieren. Es gab viele Tatorte, die geradezu besessen davon waren, den Stand der Dinge mit vielen Kleinigkeiten und doch schön beiläufig zu schildern.

Diese Schüler sind aber nicht alle so wunderbar dezent, so antiaggressiv wie die Jungpädagogen Herr Fichte und Frau Dr. Fichte – man bemerke übrigens, sie besitzt den Titel, nicht er. Das Lehrerpaar ist ein Paradebeispiel für eine neue Generation, die alles anders und besser machen will, die autoritäre Erziehung ist Vergangenheit – und schon da gibt es einen Trick mit einem Kommentar: Gerade dieser Fichte, dieses Musterbeispiel eines modernen Lehrers, lässt sich auf eine Liebesbeziehung mit einer Schülerin ein. Irgendwie bringt uns das auf das zuzeiten schwierige Verhältnis gewisser politischer Kräfte zur Pädophilie.

ReifezeugnisFichte ist ein recht angenehm aussehender, aber als rückgratlos gezeigter Mann, seine Frau „ein Vulkan unter dem Eis“, wie Kommissar Finke bemerkt, sie wird nicht etwa kopflos oder ausfallend, als sie hinter das Verhältnis ihres Mannes mit seiner Schülerin steigt, sondern ist sozialpädagogisch so gut geschult, dass sie sich beherrschen und gleichzeitig anfangen kann, die Situation zu steuern. Glaubt sie jedenfalls – dass Sina sich beinahe umbringt, wird auch sie nicht gewollt haben.

„Wir erinnern uns, den Tatort vor langer Zeit doch schon einmal gesehen zu haben, zumindest auszugsweise. Und damals verstanden wir vor allem Frau Dr. Fichte (Judy Winter) nicht. Diese kühle, elegante Form von Liebe, die nicht fragt, hatte uns irritiert. Mittlerweile können wir ihre Darstellung nur als überragend ansehen.“ (RZ 2011)

Toleranz und emotionale Kompetenz werden in diesem Krimi auf eine sehr harte Probe gestellt. Deswegen werden Finke und sein Assistent ausnahmsweise als Thesen-Duo gezeigt, wie es später in Köln mit Max Ballauf und Freddy Schenk zum Ritual wurde – der junge Assistent kann die Handlungsweise von Fichte nachvollziehen, Finke ist sauer auf den Lehrer und sieht vor allem Sina als dessen Opfer, das zur Täterin wurde, weil es in einer ausweglosen Lage gefangen war (1).

2019-06-13 Tatort 73 Reifezeugnis 6 Klaus Schwarzkopf Finke NDR.jpgDass Finke im Verhältnis zu seinen anderen Einsätzen mehr kommentiert und diskutiert, zeigt, dass man die Brisanz des Films dadurch abfedern sollte, man die traditionelleren Zuschauer nicht zu sehr vor den Kopf stoßen wollte, die jüngere aber ebenfalls mitnehmen wollte, indem die moralische Bewertung des Geschehens offen bleibt. Freilich zeigt sie eine Entwicklung hin zum Tatort mit ethischem Leitfaden. Mehrheitlich folgte der Zuschauer von 1977, so, wie wir ihn einschätzen, Finkes Meinung und Finkes Autorität, ohne allzu sehr das Opfer zu betrauern, das er im Blick hat, sondern mehr auf das Verhalten des Lehrers orientiert.

Es gibt Momente, da wirkt der recht klein gewachsene Finke sehr präsent. Der  insistierende Blick steht ihm gut. Die vergleichsweise stark ausgeprägte Objektivität, die ihn von den anderen Figuren in „Reifezeugnis“ unterscheidet, auch. Die Ermittler sitzen meist im Auto und warten, lösen dabei Kreuzworträtsel: „Aubergine!“ oder, wieder mit Pflanzen: „Fichte!“ – „passt nicht“ – „nein, da kommt Fichte!“ (Rezension 2011)

Und wie ruhig er erst einmal bleibt, als Sina verschwunden ist, selbst, nachdem er ihren verzweifelten Brief gelesen hat. Einer der ganz kurzen schwachen Momente übrigens, was die Darstellerleistungen betrifft – oder das Drehbuch. (…) Einerseits trickst er Sina aus, indem er ihr als offenbar gefassten Mörder jemanden vorführt, von dem er weiß, dass dieser nicht der Mörder sein kann, den sie identifiziert haben will. Andererseits denkt er, Fichte habe Harms umgebracht, weil dieser dem Paar auf die Spur gekommen war. Dass die zarte Schülerin selbst den Stein erhoben hat, das glaubt er (lange Zeit)nicht (RZ 2011).

Finke mit seinem wachen Blick ist kein Ermittler-Übermensch, auch das wirkt sympathisch.

Die Bereitschaft hingegen, sich auf die antiautoritären Eltern von Sina und das ebenso tickende Lehrerpaar einzulassen, wird empfindlich dadurch gestört, dass die Eltern gar nicht merken, was mit ihrer Tochter los ist, dass sie etwas mit sich trägt – und damit demonstrieren, wie Laisser-Faire neue Pädagogik diskreditiert. Keine Zeit, kein echtes Interesse, die Einbildung, Bescheid zu wissen, steht dem tatsächlichen Nichtverstehen gegenüber. Und der Lehrer? – nun ja.

Wenn man den Tatort konservativ auffasste, konnte man sich zurücklehnen auf dem Plüschsofa, vielsagende Blicke mit dem Ehepartner tauschen oder es einfach aussprechen: Das kommt davon! Und dann noch die oberkörperfreien Szenen. Die sind spekulativ, daran führt nichts vorbei. Und sie waren damals der Aufreger, hinter dem wir heute so mühelos mehr entdecken können. Der Film war seiner Zeit voraus, und auch das hatte das Team, das ihn fertigte, vermutlich im Blick. Voraus und heute wiederum nicht mehr denkbar, muss man allerdings hinzufügen.

Die Fichtes haben sicher auch kurz nach ihrem Abenteuer und ihrer Versetzung nach Lübeck, als sie denn drei Jahre später gab, die Grünen, wobei es diese hervorragend herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den beiden Figuren gibt, die das alles noch einmal differenzieren und die Frau zu einer Heldin in Moll werden lassen, während der Mann ziemlich abfällt. Und das ist einer der subtilsten sozialen Kommentare, die wir bisher in einem Tatort gesehen haben, die Regie bzw. das Buch lassen diesen Kommentar aber sicherheitshalber von Finke noch einmal  in Worte fassen. Am Ende hält er dann den Fichte zurück, der sich tatsächlich schon wieder in eine körperliche Nähe Sina begeben will, während diese sich, einem natürlichen Impuls folgend, bei seiner Frau ausweint, der emotional kapabelsten Figur.

Sie weiß ja doch, dass sie sich nicht ertränken darf und ihr natürlicher Selbsterhaltungstrieb doch stärker ist als der Liebeskummer und das Entsetzen über ihre Tötungshandlung. Wenn man diese für sich genommen betrachtet – hatte sie wirklich vor, Michael umzubringen? Ja, durchaus möglich. Hat sie „alle Hemmungen fallen lassen“ wie ein Kleidungsstück, als er sich über sie hermachte, wie in der Inhaltsangabe (2) behauptet? Nein, hat sie nicht, im Gegenteil: Sie kann es nicht ertragen, dass er sie sexuell nötigen will. Insofern kann man die Szene sogar so interpretieren, dass sie vorhatte, ihm nachzugeben und es über sich ergehen zu lassen, um ihre Liebe zu beschützen.

Außerdem hat er sie in eine Zwangslage geführt, in welcher er damit rechnen musste, dass sie sich wehrt. Ob man daraus auch eine Notwehrlage oder einen anderen Grund konstruieren kann, der sie straffrei stellt? Für die Beurteilung reichen unsere Kenntnisse über den Allgemeinen Teil des Strafrechtes nicht mehr aus. Wir meinen allerdings, sie hatte nicht vorab einen genauen Plan gefasst, sondern mit einiger Angst im Kopf eher eine ungenaue Vorstellung davon gehabt, was passieren könnte, und die schloss auch das Szenario ein, die sich letztlich ereignete.

Viele Momente des Films sind mit einer bestechenden Genauigkeit gefilmt, sodass sich auch das eine oder andere beurteilen lässt, das bei unserer ersten Rezension noch Zweifel zurückließ oder das wir gar nicht bemerkt hatten, inklusive einiger Stilzitate in „Reifezeugnis“. Wie präzise Kinski inszeniert wird, lässt jetzt auch den Schluss zu, dass ihr Telefonat mit Fichte, bei dem sie vor dieser seltsam verschmutzt und fast blind ausschauenden Scheibe ihres von Reinigungskräften gewiss sehr gepflegten Elternhauses steht, andeuten sollen, dass etwas mit diesem Verhältnis nicht stimmt, es selbst „schmutzig“ ist oder beschmutzt werden wird, dass die Romantik des Mädchens vor einer undurchsichtigen, moralisch zweifelhaften Realität stattfindet, die sie nicht als solche wahrnehmen kann.

Ähnlich verhält es sich mit einigen besonders idyllischen Bildern, die im Verlauf des Films zunehmend weniger romantisch ins Bild gesetzt und geräuschseitig anders untermalt werden als zu Beginn. Da singen die Vögel nicht mehr verträumt vor sich hin, wie in einigen Anfangszenen, sondern es krächzt im Hintergrund, wenn das Lehrer-Ehepaar sich über die Sachlage unterhält. Gleichermaßen zu deuten ist am Ende das Stilleben des leeren, wie verrottet aussehenden Bootes, das Fichte und Sina im Sonnenschein über den See getragen hat, im kalten Morgenlicht, still und einsam daliegend, während die Realität in Form des Abspanns Besitz vom Zuschauer ergreift, der noch gerade davon ergriffen ist, dass Sina wenigstens überlebt.

Zur Sina-Darstellerin Nastassja Kinski hatten wir uns 2011 so geäußert: Sie ist genau der Typ, um diese Rolle zu spielen. Sinnlich, verträumt, intensiv. Und sie war gerade mal sechzehn Jahre alt, eine halbe Kinderdarstellerin, die eine Rolle zu meistern hatte, die pikant und fordernd gleichermaßen war. Schade, dass sie später so viele Flops gefilmt hat, die Präsenz eines großen Stars war in „Reifezeugnis“ bereits vorhanden.

Die Verfolgungszenen, besonders diejenige von Fahrrad zu Fahrrad, sind von großem Suspense, als hätte Altmeister Hitchcock sie selbst gefilmt, stellenweise wird die sonst so malerische Landschaft dabei eher grafisch – und wenn Menschen auf der Suche nach Sina durch den Wald rennen, dann sind sie von Blattwerk verdeckt in Hetze, ganz anders als die erste Beobachtung aus den Augen von Michael gefilmt ist, als es scheint, als wolle das Blattwerk die Liebenden vor Blicken schützen, jedwede Diskretion wahren. Das gelingt selbstredend nicht.

Auch dieser Michael ist eine interessante Figur: Ein junger Mann aus desolaten Verhältnissen, auf seine Weise noch mehr zurückgezogen als Sina, gilt als „schwierig“ und sein Schicksal wird nach seinem Tod von Frau Dr. Fichte für einen Vortrag genutzt, der Toleranz und Annehmen des „Anderen“ gegen ein provinzielles Mauern stellt. Dass Michael alles andere als ein zivilcouragierter Helfertyp ist, setzt dem Ganzen eine ziemliche Spitze auf. Im Gegenteil, er hat eine niedrige Frustschwelle, die aus seiner  Sozialisierung herrührt und versucht deshalb, von Sina zu erpressen, was sie ihm nicht freiwillig geben mag.

Beinahe schade, dass Petersen später so aufwendige Projekte gemacht hat und nach Hollywood gegangen ist – schade nicht für ihn, sondern für uns. Wir haben das Gefühl, dass wir mit ihm einen Regisseur sozusagen verloren haben, der nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Finke-Krimis ein fantastisches Gespür für die soziale Realität der Zeit bewiesen hat. Nie war dies besser inszeniert als in „Reifezeugnis“, aber dieses genaue Hinschauen auf Menschen war ihm in allen seinen Tatorten eigen, und Herbert Lichtenfeld lieferte die passenden Bücher mit geradezu gestanzten Dialogen, die eine hohe Literarizität aufweisen: Nur wenige Menschen auf der Welt würden in dieser Welt so sprechen oder denken wie die in diesem Film vorkommenden Personen, aber mit allem, was sie sagen, drücken sie sehr genau Haltungen, Dispositionen, Positionen aus, die offensichtlich in unser kollektives Bewusstsein eingegangen sind.

Dieser Effekt ist in „Reifezeugnis“ besonders ausgeprägt und wird von einer famosen Besetzung lebendig gemacht. Wer meint, die beinahe vor Spannung knisternde Zurückhaltung im Ton sei monoton oder langweilig, hat verlernt, genau hinzuhören, denn die Inhalte, die haben es in sich und der Kontrast äußerer Dezenz und Aufruhr hinter den menschlichen und baulichen Fassaden wird nicht nur durch die schöne ländliche Umgebung und dem, was in den Häusern vorgeht oder direkt in der Natur, aufgestellt, sondern auch im Unterschied zwischen Betonung und Ausdruck.

So gesehen ist Petersen ein Autorenfilmer, der ähnliche Stilmittel verwendet wie einige Kollegen, etwa R. W. Fassbinder, sie sich möglicherweise bei den damals führenden Regisseuren des NDF abgeschaut hat.

Fazit

Aber kann man die Haltung des Regisseurs mit einer Wertung belegen? Wenn man seine übrigen Werke, die er für die Tatort-Reihe inszeniert hat, zu Hilfe nimmt, wird es leichter. Er entwickelt eine hohe Sympathie für Menschen, die in Zwangslagen kommen, auch wenn sie in diesen kriminell handeln, und das gilt auch für seine Sina in „Reifezeugnis“, den es vielleicht gar nicht gegeben hätte, hätte Petersen sein Role Model für die Rolle nicht entdeckt.

Er schaut sehr genau auf die Entwicklungen der Zeit und hinterfragt kritisch, wie zum Beispiel Mädchen von 17 Jahren – nein, nicht, sich verlieben können in einen 15 Jahre älteren Mann, das macht er uns verständlich. Aber wie sie ohne jede Not zur Boshaftigkeit, gar zur Erpressung tendieren, wenn sich die Gelegenheit bietet, passenderweise verbunden mit mangelnder Leistungsbereitschaft in der Schule. Petersen ist kein Prediger unbegrenzter Toleranz, so viel steht fest, sondern überlegt sich, welche Folgen eintreten können, wenn man gar keine Grenzen mehr setzt und moralische Kategorien immer beliebiger werden, mithin der „Werteverlust“ eintritt, den er in anderen Filmen der Reihe, für die er verantwortlich war, oft als Ausbruch von Hedonismus und Materialismus zeigt – in „Reifezeugnis“ dezent, in „Strandgut“ zum Beispiel sehr offensiv.

Aber er diskreditiert seine Figuren nicht, er lässt Spielräume und ist neugierig. Was er sieht und uns zeigt, ist nicht ein fertiges Bild und kein abschließendes Urteil.

Er diskreditiert auch nicht eine Figur zu sehr und nur, um eine andere mehr hervorzuheben und sie auf ein Podest zu stellen. Seine Wertungen sind spürbar, aber er haut sie uns nicht mit diesem apodiktischen Anspruch um die Ohren, die einige heutige NDR- und RB-Tatorte so nervig machen. Wir gehen damit nun nicht ins Detail, aber etwas fällt uns bei der Gelegenheit ein: Die Eduzierung des Bürgers zu mehr und mehr Subitlität im Umgang mit seiner Wahrnehmung und den Gegebenheiten und anderen Menschen wird offenbar von Medien, die an der Abstumpfung unserer Wahrnehmung mitwirken, indem sie zum Beispiel pro Jahr 40 anstatt wie zu Finkes Zeiten 10-12 Tatorte pro Jahr drehen, längst als gescheitert angesehen.

Es kommt, wie es kommen musste. Sonst hätten wir auch keine neue Rezension geschrieben. Unsere Wertung ändern wir von

9/10 auf 10/10.

Damit haben wir nun auch eine Art Premiere zu bieten, denn die 10 haben wir bisher  zurückgehalten (bezogen aufs Jahr 2016), mit der Idee im Kopf, es könnte noch was Besseres kommen. Wir meinen, etwas Besseres als „Reifezeugnis“ hat es bisher nicht gegeben, alle z. B. auf der Rangliste des Tatort-Fundus ganz oben stehenden Filme, die „Reifezeugnis“ sozusagen flankieren, haben wir schon gesehen und meinen daher, mit einiger Vorsicht und notfalls zur Revision bereit, ein Gesamturteil abgeben zu können.

Ob Wolfgang Petersen auch im Kopf hatte, dass dieser Film sein Reifezeugnis als Regisseur sein wird? Es scheint beinahe so. Und wenn jemand sein Reifezeugnis hat, dann muss man ihn in die Welt ziehen lassen, auch wenn man es bedauern mag, dass er den Moment der Reife, in dem man am intensivsten erleben und umfassendsten fühlen kann, nicht ein wenig verlängern und noch ein paar Tatorte drehen konnte.

(1) Auch für die FilmAnthologie haben wir bisher nicht zweimal über dasselbe Werk geschrieben – zudem ist die vorliegende Rezension mit ca. 3.500 Wörtern die mit Abstand umfassendste für die TatortAnthologie.

(2) Schade, dass Finke nicht mehr seinen bekannten Adlatus Jessner bei sich hat. Dessen Darsteller Wolf Roth mit seiner freundlich-charmanten, aufgeschlossenen und für Frauen sicher nicht uninteressanten Ausstrahlung hätte die Fichte-Position besonders glaubwürdig einnehmen und überhaupt das Emotionale auf Polizeiseite etwas mehr pflegen können. Selbstverständlich gibt es für diesen Personalwechsel hin zu einem neuen Begleiter namens Franke keinen Punktabzug, wir haben uns inzwischen eben auch an Jessner gewöhnt.

(3) Dass der Kommissar Sinas Hand hält, wie auf dem Foto zu sehen, daran können wir uns nicht erinnern – diese Geste wäre uns sicher aufgefallen. Es handelt sich hier um ein gestelltes Bild, nicht um eine Originalszene.

© 2019, 2016 Der Wahlberliner, Thomas Hocke 

Kommissar Finke – Klaus Schwarzkopf
Helmut Fichte – Christian Quadflieg
Sina Wolf – Nastassja Kinski
Michael Harms – Marcus Boysen
Franke – Rüdiger Kirschstein
Dr. Gisela Fichte – Judy Winter

Drehbuch – Herbert Lichtenfeld
Regie – Wolfgang Petersen
Kamera – Jörg Michael Baldenius
Musik – Nils Sustrate

Die Rezension von 2011

Tatort Reifezeugnis
Folge 73
Gesehen 18.05.2011, WDR
TatortAnthologie 24

I. Inhalt und II. Kritik bei Suite 101

III. Rezension

  1. Es geht gut, wenn man sich darauf einlässt

Mit normalen Maßstäben ist „Reifezeugnis nicht zu messen. Das müssen die damaligen Macher geahnt haben, sonst wäre der Film nicht mit so vielen Besonderheiten gespickt.

Zum einen dürfte es mit 110 Minuten derlängste Tatort aller Zeiten sein, zum anderen ist es wohl auch einer der ruhigsten. Damals noch unüblich war sicher auch, dass er nicht als Whodunit angelegt war.

Diese sehr gefühlvolle Darstellung aller Hauptrollen muss man mögen. Man muss vielleicht sehr jung sein oder schon etwas über dem Alter der Hauptfiguren (gemeint ist das Lehrer-Ehepaar Fichte), um voll einsteigen zu können. Wir erinnern uns, den Tatort vor langer Zeit doch schon einmal gesehen zu haben, zumindest auszugsweise. Und damals verstanden wir vor allem Frau Dr. Fichte (Judy Winter) nicht. Diese kühle, elegante Form von Liebe, die nicht fragt, hatte uns irritiert. Mittlerweile können wir ihre Darstellung nur als überragend ansehen. Spielfilmreif, aber dieser lange Tatort ist ja auch ein Spielfilm und hat sich im Prinzip Spielfilmkriterien zu stellen. Im Kino hätte er gewiss auch Erfolg gehabt.

Wolfgang Petersen setzt in „Reifezeugnis“ voll auf die ähnlich ausgerichteten, aber unterschiedlich dargestellten Emotionen der Hauptfiguren. Und er tut noch mehr – ob er das gewusst hat, können wir schlecht einschätzen.

  1. Eine Zeit bedingt ihre Gefühle

Gefühlskino ist in einer gewissen Weise zeitgebunden. Wolfgang Petersen zeigt uns eine Welt, die unglaublich idyllisch und ruhig ist. Die Schüler sind noch weitgehend brav, auch wenn sie abschreiben. Alles sehr realistisch dargestellt, sagen wir aus unseren Erfahrungen. Die Schulaccessories, die Kleidung der Schüler und die Welt des oberen Mittelstandes, die hier – im Amerikanischen würde man diese Tatort-Dekoration als „lavish“ bezeichnen.

Und so war die Zeit. Verschwenderischer Wohlstand, riesige Panoramafenster, dahinter ein ruhiger See. Keinerlei materielle Sorgen. Selbst Finke macht einmal eine Bemerkung darüber, wie schön diese Leute wohnen. Für heutige Kommissare übrigens undenkbar. Vor allem, es in dieser ruhigen, anerkennenden Art zu sagen. Sinas Welt ist ersichtlich gut geordnet und speziell in einer solchen Welt können sich wohl diese absoluten Gefühle entwickeln, die alles andere vergessen, die selbstvergessen wirken und dadurch schon wieder rührend. Klar, dass ein solches Mädchen neben einem erwachsenen Liebhaber noch einen Teddy hat, der eine wichtige Rolle in ihrem Leben zu spielen scheint.

Selbst die Erwachsenen, speziell das Ehepaar Fichte, sind Blüten einer Zeit, in denen Aufzucht und Hege der emotionalen Kräfte viel bedeuteten, mehr jedenfalls als die Konsequenzen aus dem daran orientierten Handeln. Im Grunde stellt Petersen die alte Frage nach Glück im Jetzt und den Folgen für die Zukunft. Verzauberte Momente und Verständnis allüberall. Außer bei einigen indolenten Mitschülerinnen von Sina. Hingegen ist ja selbst der von anderen so ausgegrenzte Michael Harms, der als einziger im Film aus schwierigen Verhältnissen kommt, die in dieser idyllischen Gegend, man merkt es deutlich, die Ausnahme sind einer, der von seinen Gefühlen verwirrt wird. Der auch zum Zuge kommen will, aber nicht die emotionale Kraft hat wie die anderen Figuren. Das kostet ihn schon recht früh im Film das Leben. Diejenigen, die von reineren Gefühlen getrieben werden, die dürfen wir weiter begleiten auf ihrem Weg am See, in ihren hübschen, sehr zeitgemäß eingerichteten Wohnungen.

  1. Zeitkolorit

Es scheint beinahe, als habe man den Film von Beginn an als Dokument für die Ewigkeit angelegt. Selten war ein Tatort so exquisit ausgestattet. Da stimmt jedes Detail in der Kleidung der Jugendlichen, der Ausstattung der Wohnungen und Häuser, der Schule und auch die Art, wie hier mit Schule operiert wird, mit Klassenarbeiten, Schülerheften, mit der Einrichtung der Lehranstalt, wunderbar eingefangen, festgehalten. Auch dank der Überlänge, versteht sich. Fahrräder klappern oder quietschen, Autotüren auch.

Beinahe überdeutlich. Als wollte die Regie sagen: So war das, in jenen Jahren. Irgendwie alles etwas billig gemacht. Heute haben diese Gegenstände eine andere Qualität, zumindest die beweglichen. Man hätte das nicht so deutlich einfangen müssen, aber der Ton war so gemacht. Insgesamt sehr naturalistisch.

Wenn wir beim Ton sind – natürlich spielt auch die Musik eine Rolle. Nils Sustrate hat einen absolut passenden Soundtrack geschrieben. Natürlich auch er typisch für diese Zeit, mit einer dominierenden Flöte. Lyrisch, nicht mit den heutigen, oft sehr standardisiert auf wenige Klavierakkorde reduzierten Soundtracks zu vergleichen. Wobei es in letzter Zeit ja wieder eher in Richtung mehr Orchestrierung tendiert.

Wer sich ausführlich mit den 70ern befassen will, kommt an diesem Tatort nicht vorbei.

  1. Ermittler

 Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) und sein Assistent Franke (Rüdiger Kirschstein) sind von der alten Schule. Besonders natürlich der ältere von beiden, der Kommissar. Es gibt Momente, da wirkt der recht klein gewachsene Finke sehr präsent. Der  insistierende Blick steht ihm gut. Die vergleichsweise stark ausgeprägte Objektivität, die ihn von den anderen Figuren in „Reifezeugnis“ unterscheidet, auch. Die Ermittler sitzen meist im Auto und warten, lösen dabei Kreuzworträtsel „Aubergine!“ oder, wieder mit Pflanzen: „Fichte!“ – „passt nicht“ – „nein, da kommt Fichte!“ (Der Lehrer.) Herrlich.

Und wie ruhig er erst einmal bleibt, als Sina verschwunden ist, selbst, nachdem er ihren verzweifelten Brief gelesen hat. Einer der ganz kurzen schwachen Momente übrigens, was die Darstellerleistungen betrifft – oder das Drehbuch. Dass der Ermittler immer etwas zurück ist und bis zum Ende die Wahrheit nicht denkt, weil sie so außergewöhnlich ist, das fordert Großzügigkeit und wirkt sehr menschlich. Einerseits trickst er Sina aus, indem er ihr als offenbar gefassten Mörder jemanden vorführt, von dem er weiß, dass dieser nicht der Mörder sein kann, den sie identifiziert haben will. Andererseits denkt er, Fichte habe Harms umgebracht, weil dieser dem Paar auf die Spur gekommen war. Dass die zarte Schülerin selbst den Stein erhoben hat, das glaubt er nicht und es ist ganz gut, dass der Zuschauer es lange vorher wusste. Sonst hätte es wohl gehießen: unglaubwürdig.

Es kommt also Vieles auf die Perspektive an. Und noch etwas lernen wir bei der Gelegenheit. Ein Stein ist kein Ding, auf dem man Spuren wie Fingerabdrücke feststellen kann. Und eine Untersuchung, aus welcher Position jemand ermordet wurde, wie ein Stoß geführte wurde etc., die wird hier nicht einmal angedeutet. Eine moderne Analyse des Tatortes, eine genaue Überprüfung der Laufwege der Beteiligten, hätte wohl schon Zweifel an Sinas Darstellungen aufkommen lassen.

  1. Nastassja Kinski

Niemand zweifelt daran, dass sie sehr hübsch wirkt, in diesem Film. Und so sorgsam die Kostüme, die Frisuren gewählt. Schön, dass man auf all das geachtet hat. Daran kann man sich heute kaum satt sehen, vor allem, wenn es auch noch Erinnerungen an die eigene Jugendzeit wachruft.

Ihre schauspielerische Leistung ist unterschiedlich bewertet worden. Wir sagen eindeutig: Daumen hoch. Sie ist genau der Typ, um diese Rolle zu spielen. Sinnlich, verträumt, intensiv. Und sie war gerade mal sechzehn Jahre alt, eine halbe Kinderdarstellerin, die eine Rolle zu meistern hatte, die pikant und fordernd gleichermaßen war. Schade, dass sie später so viele Flops gefilmt hat, die Präsenz eines großen Stars war in „Reifezeugnis“ bereits vorhanden. Zudem muss man alle Schauspielleistungen mit denen moderner Tatorte abgleichen. Abgesehen davon, dass die Darstellung von Aktion und Gefühlen speziell in diesem Tatort – eben – speziell und auch zeitgebunden war: Diese Intensität wird heute nicht annähernd erreicht. Sie war auch nur möglich durch das lange Format und den einfachen Handlungsaufbau.

  1. Und es war doch spannend

Wir sind jederzeit mitgegangen, für uns lag die Spannung dieses Tatortes nicht in der manchmal wirren Action, die heute zu oft gezeigt wird, sondern in der Entwicklung der Gefühle, der Relationen und – wer entdeckt wann die Wahrheit. „Reifezeugnis“ ist ein ganz besonderer Tatort, reich und ausdrucksstark wie keiner, den wir bisher gesehen haben. Da ist es nur konsequent, wenig Luft für künftige Höhepunkte zu lassen: Wir geben 9/10 und damit die beste aller bisherigen Bewertungen.

© 2011 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Vorschau 2011

Nach einer Vorschau-Panne, wie sie uns gestern unterlaufen ist, soll man ja immer gleich weitermachen, aus psychologischen Gründen.

Wir tun das hiermit und kündigen an, dass der WDR am 18. Mai, um 22:55 Uhr, den legendären Tatort „Reifezeugnis“ wiederholt, der Nastassja Kinski mit einem Schlag berühmt machte.

Wiederholungsankündigungen von Tatort-Filmen werden sicher nicht zum Standard-Repertoire des Wahlberliners, aber in diesem Fall finden wir das gerechtfertigt.

„Reifezeugnis“ ist eine Legende und wird noch heute von den Fans der Serie zu den besten  der Besten gezählt. Wer sich auch für die aktuellen Tatorte interessiert, sollte die Wiederholung von „Reifezeugnis“ nicht verpassen. Soweit im Moment planbar, werden wir uns die Sendung anschauen und eine Rezension zu diesem Klassiker schreiben. Wir haben ihn noch nie gesehen und geben zu, gespannter auf den Film zu sein als auf die neuen Folgen.

Interessanterweise finden sich unter den Tatorten, die als Klassiker gehandelt werden, einige mit dem hier ermittelnden Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf), der von 1970 bis 1978 in Diensten des NDR stand.

Leider ist er der einzige dieser älteren Filme, die ja auch Zeitdokumente sind, der in nächster Zeit wiederholt wird. Wir finden, einer der ARD-Sender sollte es in die Hand nehmen: Die alten Tatorte noch einmal zu senden, chronologisch von Beginn an, vielleicht im Wochenabstand. Eingeschlossen jene Filme, die als heiße Eisen für lange Zeit im Giftschrank verschlossen waren,  auch die, welche später geändert; um kritische Passagen gekürzt oder aus anderen Gründen nachbearbeitet wurden. Der Gipfel des Services für den mündigen Zuschauer wäre, in solchen Fällen die ursprüngliche und die spätere Version hintereinander zu senden. Oder wenigstens den Hintergrund der Änderungen in einer kleinen Dokumentaiton zu erläutern. Träumen darf man, oder?

Immerhin, einen Klassiker gibt es jetzt wieder zu sehen, und das ist ja auch schön!

TH

2 Kommentare

  1. Hier wird in beiden Rezensionen mehrfach der Titel verwechselt. Reifeprüfung ist der US-Klassiker mit Dustin Hoffman. Der Tatort heißt Reifezeugnis.

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